Jeff Jarvis: Grundrechte für ein freies Netz
Der US-Journalismusprofessor, Autor und Blogger Jeff Jarvis sorgt sich über das Zurückdrängen des Öffentlichen im Netz und fordert Grundrechte für Internet-Nutzer. ORF.at hat mit Jarvis bei der Social-Media-Konferenz re:publica in Berlin über den Wert der Öffentlichkeit, freie Meinungsäußerung im Internet, das iPad und die Medienlandschaft der Zukunft gesprochen.
Jeff Jarvis ist Professor und Direktor des interaktiven Journalismusprogramms an der Graduate School of Journalism der City University of New York. In seinem Blog Buzzmachine schreibt er über Medien und Privates. Für die britische Zeitung "The Guardian" verfasst er eine Medienkolumne. 2009 veröffentlichte er das Buch "What Would Google Do?", in dem er die Strategien des US-Internet-Unternehmens untersucht.
ORF.at: Vor einigen Wochen haben Sie in Ihrem Blog eine Grundrechtecharta für das Internet zur Diskussion gestellt, in der Sie unter anderem das Recht auf Vernetzung, ein offenes Internet und das Recht auf Kontrolle über unsere Daten fordern. Warum brauchen wir eine solche Charta heute?
Jarvis: Als sich Google aus China zurückzog, trat das Unternehmen für die Redefreiheit in China ein. Leider sind dem keine anderen Unternehmen gefolgt. Auch von Regierungen gab es keine Unterstützung. Mir wurde klar, dass Google mit dem Schritt die Redefreiheit im Internet verteidigte. Aber so sehr ich Google bewundere, glaube ich auch, dass ein Unternehmen nicht der Beschützer der freien Meinungsäußerung im Internet sein kann. Mir wurde bewusst, dass wir unsere eigenen Prinzipien brauchen. Und wer sollte die besser formulieren können als die Internet-Nutzer selbst. Ich glaube, dass wir eine Bewegung brauchen, die das Internet gegenüber Regierungen und Konzernen verteidigt. Aber wer bin ich, dass ich eine Grundrechtecharta für das Internet formulieren könnte. Ich wollte aber meine Sichtweise einer solchen Charta zur Diskussion stellen und so auch herausfinden, was andere Leute denken und welche Punkte ihnen wichtig sind.
ORF.at: Mit den App-Store-Modellen hat sich zuletzt eine zunehmende Privatisierung des Internets bemerkbar gemacht. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Jarvis: Diese Entwicklung gibt mir zu denken. Die Verleger und Medienhäuser mögen die Architektur der Apps, weil sie hoffen, dass sie damit wieder Kontrolle über ihre Inhalte bekommen, die mit dem Web und Links verloren gegangen ist. Ich kann dazu nur sagen: Träumen Sie weiter. Das wird nicht passieren. Das Problem mit den Apps - etwa jenem vom "Time Magazine" - ist, dass es keine Möglichkeit gibt, zu kommentieren oder die Inhalte zu verlinken. Man kann sie auch nicht mit anderen teilen. Das "Time Magazine"-App ist weniger wert als ein PDF-File oder eine CD-Rom. Es versucht, die Öffentlichkeit wieder zum Publikum zu machen. Das ist ein falscher Schritt.
ORF.at: Sie haben Ihr iPad ja öffentlichkeitswirksam entsorgt.
Jarvis: Ich bin ein Apple-Fanboy. Ich habe ein iPhone, habe einen Mac und ich habe auch das iPad anfangs gemocht. Ich habe mir eine Fernsehshow am iPad angesehen und habe mir gedacht, das ist wundervoll. Dann habe ich auf das große Fernsehgerät gesehen, das ich mir gekauft habe, und ich habe mich gefragt: "Warum tue ich das?" Das iPad ist ein Telefon, mit dem ich nicht telefonieren kann, es ist auch viel einfacher, auf meinem Laptop zu arbeiten. Es stört mich auch, dass uns das iPad wieder zu Konsumenten machen will und dass es viele Einschränkungen mit sich bringt. Aber deshalb habe ich es nicht zurückgegeben. Ich habe es zurückgeschickt, weil ich einfach keinen Gebrauch dafür hatte. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass das iPad ein Vorbote von Geräten ist, die es uns ermöglichen werden, immer und überall miteinander verbunden zu sein. Dafür werden aber wohl andere Geräte sorgen.
ORF.at: In Ihrem Vortrag bei der re:publica haben Sie sich für mehr Offenheit im Netz starkgemacht und die Diskussionen über Privatsphäre in Europa kritisiert.
Jarvis: Das Problem der gegenwärtigen Diskussion in Europa ist, dass nur über die Privatsphäre gesprochen wird. Ich befürchte aber, dass im Netz bald alles privat sein wird und das Private zur Standardeinstellung im Netz wird. Privatsphäre-Einstellungen werden selten verändert, die Leute schrecken davor zurück. Wenn aber das Private zur Standardeinstellung wird, verlieren wir den unglaublichen Wert des Internets, uns miteinander zu verbinden und auszutauschen. Dazu muss man bereit sein, auch etwas über sich preiszugeben. Ich glaube aber, dass das tatsächliche Problem nicht die Privatsphäre ist, sondern die Möglichkeit des Einzelnen, seine Daten zu kontrollieren.
ORF.at: In Ihrem Buch "What Would Google Do" untersuchen Sie, was Unternehmen von den Strategien des Internet-Unternehmens Google lernen können. Was raten Sie der Medienindustrie?
Jarvis: Ich habe vor kurzem gehört, dass sich deutsche Verleger über Einschränkungen und Beanstandungen durch Apple beim Verkauf ihrer Apps beklagt haben. Sie sollten alles tun, damit Google mit Android Erfolg hat, sonst müssen sie lernen, mit der Kontrolle durch Apple zu leben. Sie können von Google auch lernen, wie sie eine Plattform zur Schaffung von Inhalten werden können. Google hat genau das gemacht. Es hat den Leuten die Mittel in die Hand gegeben, Inhalte zu kreieren, damit ein Publikum zu finden und auch Werbeeinnahmen zu generieren. Die Medienunternehmen müssten dazu aber den Gedanken aufgeben, dass sie auch in Zukunft alles besitzen werden.
ORF.at: Zuletzt haben Medienkonzerne in Europa und den USA angekündigt, wieder Bezahlinhalte einführen zu wollen. Das war auch schon vor zehn Jahren der Fall und ist gescheitert. Warum ist die Industrie so wenig innovativ?
Jarvis: Die Medienindustrie versucht noch immer, ihre alten Geschäftsmodelle in eine neue Zeit zu retten, die unter gänzlich anderen Vorzeichen steht. Sie verstehen diese neue Wirklichkeit nicht und haben Angst vor den Veränderungen, die sie mit sich bringt. Sie sind nicht in der Lage, sich zu verändern, weil das bedeuten würde, dass sie schrumpfen müssen. Das ist sehr schmerzhaft. Die alten Modelle werden aber unter den neuen Voraussetzungen nicht funktionieren.
ORF.at: Sie lehren an einer New Yorker Journalistenschule unternehmerischen Journalismus. Müssen Journalisten heute Unternehmer sein?
Jarvis: Ich bin davon überzeugt, dass sich Journalisten auch in unternehmerischen Belangen auskennen müssen. Sie müssen lernen, wie das Nachrichtengeschäft funktioniert. Ich glaube, dass die Zukunft des Journalismus unternehmerisch und nicht institutionell ist. Die großen Medienkonzerne werden kleinen, unabhängigen Nachrichtenunternehmen Platz machen müssen. Wir sehen schon heute, wie sich ein Ökosystem aus vielen kleinen Playern bildet, die mit unterschiedlichen Geschäftsmodellen und Mitteln operieren. Bei unseren Recherchen haben wir festgestellt, dass etwa hyperlokale Blogger bereits jetzt bis zu 200.000 Dollar im Jahr umsetzen. Wenn sich Netzwerke bilden, wird das noch viel mehr werden.
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(futurezone/Patrick Dax)