Kindesmissbrauch: Netzsperren als Wegsehen
In den vergangenen zwei Jahren wurde in Deutschland eine heftige Diskussion über die Sperre von Kinderpornografie-Websites geführt. Doch kaum war die Debatte nach Wahlkampf und Regierungswechsel abgeebbt, stellte EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström einen neuen Plan für Netzsperren vor. Experten und Opferverbände erheben Einspruch.
Im Juni 2009 beschloss der deutsche Bundestag mit den Stimmen der damaligen Regierungsparteien CDU, CSU und SPD das "Zugangserschwerungsgesetz", mit dem die Provider zur Einrichtung von DNS-Sperren gegen Kinderporno-Websites verpflichtet wurden. Die Provider hätten eine geheime Sperrliste übernehmen müssen, die vom Bundeskriminalamt hätte geführt werden sollen. Am 23. Februar 2010 trat es in Kraft. Das Bundeskriminalamt wurde jedoch vom Innenministerium durch einen Erlass angewiesen, keine Listen zu sperrender Websites zu erstellen - der neue Koalitionspartner der Union, die FDP, hatte Zweifel an Wirksamkeit und Verfassungskonformität des Vorhabens angemeldet.
Kaum war die Diskussion in Deutschland etwas abgeebbt, wurde sie aus Brüssel neu aufgewühlt. Malmström, EU-Kommissarin für Inneres, veröffentlichte Ende März den Entwurf einer Richtlinie "zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie". Die Richtlinie, die innerhalb von zwei Jahren von den Mitgliedsstaaten in nationale Gesetzen gegossen werden müsste, soll die entsprechenden Strafgesetze EU-weit harmonisieren. Im kurzen Artikel 21 des Richtlinienentwurfs geht es um die "Sperrung des Zugangs zu Webseiten, die Kinderpornografie enthalten". Wie genau die Sperrung erfolgen sollte sowie andere Details sind dort nicht angeführt.
Am Sonntag in "matrix"
Den Radiobeitrag zu diesem Thema hören Sie am Sonntag um 22.30 Uhr im Ö1-Netzkulturmagazin "matrix".
"Politische Hilflosigkeit"
Andreas Wildberger, Generalsekretär der heimischen Providerorganisation ISPA, meint, die Formulierung sei schwammig, und der ganze Artikel 21 zeuge von einer gewissen politischen Hilflosigkeit. Die ISPA sei selbstverständlich für die Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch und Kinderpornografie, aber gegen die Sperre von Kinderpornografie-Websites. Andreas Wildberger: "Die Sperre von Websites ist technisch ineffizient, sie kann sehr leicht umgangen werden - auch von Menschen ohne besondere technische Kenntnisse -, und sie ist keine Lösung für das Problem Kindesmissbrauch."
Kinderpornografie ist dokumentierter sexueller Kindesmissbrauch. Die Täter überreden oder zwingen dabei Kinder zu sexuellen Handlungen mit Erwachsenen, mit anderen Kindern oder mit sich selbst. Diese Handlungen werden von den Tätern gefilmt oder fotografiert. Zu Kinderpornografie zählen auch sexuell explizite Posenfotos und Aufnahmen von Genitalien.
Heimlicher Tausch
Kinderpornografie wird seit etwas mehr als 40 Jahren produziert, getauscht, verkauft und konsumiert - und zwar hauptsächlich in westlichen Industriegesellschaften. Vor der allgemeinen Verfügbarkeit des Internets wurden Fotos, Videokassetten und Zeitschriften mit Kinderpornografie verstohlen in Pornoläden oder bei persönlichen Treffen verkauft, verliehen und getauscht.
In den 1960er und 1970er Jahren war zum Beispiel in Dänemark, Schweden und den Niederlanden zwar die Herstellung, nicht aber der Vertrieb von Kinderpornografie verboten. Teilweise geistern auch heute noch Kopien, Zusammenschnitte und Bearbeitungen von Material aus der damaligen Zeit herum.
Literatur:
Korinna Kuhnen: Kinderpornographie und Internet. Dissertation am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Verlag Hogrefe, Göttingen 2007.
Netz macht Problem sichtbar
Durch das Internet und digitale Kameras sind die Herstellung, Bearbeitung, Vervielfältigung und der Vertrieb von kinderpornografischem Material einfacher geworden. Weil seit etwas mehr als zehn Jahren verstärkt polizeiliche Ermittlungen gegen Produzenten und Konsumenten von Kinderpornografie geführt werden, ist das Thema verstärkt in das öffentliche Bewusstsein geraten. Es kann jedoch nicht gesagt werden, dass es mehr Täter als früher gibt.
Kinderpornografie ist Missbrauch in mehrfacher Form: Einmal der sexuelle Missbrauch direkt bei der Herstellung, zweitens, weil Männer diese Bilder betrachten, um sich sexuell zu erregen, drittens, weil Kinder damit zur Ware werden, und viertens, weil diese Bilder vervielfältigt und verbreitet werden und im Zeitalter von Internet und digitaler Kopien vermutlich nie wieder verschwinden.
Finden und vernichten
Wichtig sind also zwei Dinge: sexuellen Kindesmissbrauch zu verhindern und die Dokumente von sexuellem Kindesmissbrauch vernichten, damit die Opfer nicht immer wieder mittelbar zu Opfern werden. Ziel von kriminalpolizeilichen Ermittlungen muss also sein, Foren, Chats, Festplatten, Server, CDs, Memorysticks usw., auf denen das Material gespeichert ist und über die es weitergegeben wird, zu finden, für Ermittlungen und Gerichtsverfahren zu sichern und dann das Material zu löschen. Das geschieht auch, sobald eine Meldestelle wie zum Beispiel die österreichische Stopline oder die Polizei davon erfahren.
Sehr wichtig sei auch, herauszufinden, wer die Kinder sind, falls es sich um neueres Material handelt, sagt Harald Gremel, Kriminalbeamter in der Meldestelle für Kinderpornografie des Österreichischen Bundeskriminalamts. Das deshalb, weil Kinderpornografie in der Mehrzahl der Fälle privat und im familiären Nahfeld produziert wird und die Täter oft auch über lange Zeit auf die Kinder übergreifen. Kann man die Identität der Kinder ausforschen, findet man also einerseits die Täter, die üblicherweise in den Bildern nicht zu erkennen sind, und kann gleichzeitig die Kinder vor weiterem Missbrauch retten.
Netzsperren als Wegsehen
Wichtig ist das auch, weil nach Schätzungen des deutschen Vereins MOGIS – MissbrauchsOpfer gegen InternetSperren, auf einen dokumentierten Fall des sexuellen Missbrauchs zur Herstellung von Kinderpornografie 99 Fälle des Kindesmissbrauchs kommen, die nicht abgebildet werden. MOGIS und der Verein Trotz Allem e.V., eine Beratungsstelle für Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, sind gegen die Sperre von Kinderpornografie-Websites. MOGIS schreibt auf der Vereinswebsite: "Das alleinige Verdecken dieser Inhalte durch Stoppschilder kommt einem erneuten Wegsehen gleich, so wie es Betroffene oft in ihrer Familie und der Nachbarschaft erleben mussten und müssen."
"Trotz Allem" gab bei einer Anhörung zum Thema Lösungen gegen Kinderpornografie im deutschen Bundestag am 17. März 2010 zu bedenken: "Wenn sexualisierte Gewalt dokumentiert wird und dann im Internet erscheint, ist es für die Betroffenen eine zusätzliche Traumatisierung. Das Sperren solcher Seiten mittels eines Stoppschildes ist aber das falsche Signal. Es symbolisiert nämlich genau das, was die traumatisierten Kinder, die zu traumatisierten Erwachsenen werden, sowieso schon erleben: Eine Gesellschaft, die nicht hinschauen will. Wenn wir aber Kinderpornographie verhindern wollen, müssen wir hinsehen."
Polizei und Provider kooperieren
Die Opfervereine in Deutschland kritisieren auch, dass die Löschung von Kinderpornografie nicht in ausreichendem Maße betrieben werde. In Österreich funktioniere das seiner Erfahrung nach gut, sagt Andreas Wildberger, Generalsekretär der ISPA und Mitglied des Beirats der "Stopline - Meldestelle gegen Kinderpornografie und nationalsozialistische Wiederbetätigung im Internet".
Wenn die Stopline erfährt, dass sich irgendwo kinderpornografisches Material befinde, überprüfe sie das und melde den Sachverhalt der Kriminalpolizei. Nach Sicherstellung der Beweismittel werde der Provider verständigt, der das Material (unwissentlich) hostet, der es dann sofort lösche. Liege das Material auf einem ausländischen Server, was in der Mehrzahl der Fälle so ist, wird die zuständige Meldestelle im jeweiligen Land verständigt. Die Zusammenarbeit funktioniere mit allen Ländern gut, in denen es Partner von INHOPE, der Vereinigung internationaler Meldestellen für illegales Material im Internet gebe.
Schnelles Löschen
Von Befürwortern der Internetsperren für Kinderpornografie-Websites wird immer wieder angeführt, dass es oft nicht oder nur mit erheblichem Aufwand möglich sei, die Inhalte zu entfernen oder die Urheber auszuforschen. Alvar Freude vom Arbeitskreis gegen Internet-Sperren und Zensur (AK Zensur) in Deutschland machte deshalb die Probe aufs Exempel: Er analysierte mit automatischen Verfahren die existierenden europäischen Sperrlisten und schrieb die Provider an, auf deren Servern sich laut dieser Listen kinderpornografisches Material befinden sollte.
Innerhalb der ersten zwölf Stunden nach Aussenden der Mails seien bereits 60 Webauftritte gelöscht worden, schreibt der AK Zensur auf seiner Website. Die ersten Reaktionen der Provider seien binnen weniger Minuten aus den USA, Holland, Dänemark, Russland sowie Deutschland gekommen. Die meisten wegen Kinderporno-Inhalten inkriminierten Sites liegen laut Statistik der österreichischen Stopline in den USA und Russland.
Psychologie der Täter
Um sich über die Frage, ob Internetsperren gegen Kinderpornografie sinnvoll und wirksam sind, eine Meinung bilden zu können, sollte man auch etwas über die Täter wissen. Kinderpornografie existiere, sagt der Berliner Sexualpsychologe und Sexualtherapeut Christoph Joseph Ahlers, "weil es Menschen gibt, die auf vorpubertäre Kinderkörper mit sexueller Erregung reagieren. Diese Ausprägung einer Sexualpräferenz nennen wir Pädophilie".
Pädophilie tritt bei etwa einem Prozent der Bevölkerung auf, und zwar ausschließlich bei Männern. Das Vorhandensein dieser Sexualpräferenz bedeutet aber nicht automatisch, dass ein Betroffener Kinderpornografie konsumiert, und schon gar nicht, dass jeder Pädophile Kinder sexuell missbraucht.
Missbrauch im familiären Umfeld
Ahlers: "Die überwiegende Mehrzahl von Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch wird, nach allem was wir darüber wissen, von nicht-pädophilen Tätern begangen. Wir müssen davon ausgehen, dass maximal ein Drittel der Täter von sexuellem Kindesmissbrauch pädophil motiviert sind. Zwei Drittel sind sogenannte Ersatzhandlungstäter. Das sind Männer, die sexuell eigentlich mit altersähnlichen Partnern in Kontakt treten könnten, aber es nicht tun, das Gefühl haben es nicht tun zu können, und deswegen ersatzweise auf Kinder übergreifen."
Diese Täter würden üblicherweise im familiären Nahraum Kinder missbrauchen, während pädophile Täter eher auf Kinder aus einer mittelbaren sozialen Nähe übergreifen, also zum Beispiel auf Kinder, mit denen sie als Lehrer, Erzieher, Trainer oder Priester zu tun haben.
Therapie als Prävention
Christoph Joseph Ahlers hat vor seiner Tätigkeit als niedergelassener Sexualtherapeut am Präventionsprojekt "Kein Täter werden. Auch nicht im Netz." der Charite-Universitätsmedizin in Berlin mitgearbeitet. Das Projekt bietet Nutzern von Kinderpornografie, deren sexuelle Fantasien und Wünsche sich auf Kinder oder Jugendliche richten und die ihren Kinderpornografiekonsum einstellen wollen und deswegen therapeutische Hilfe suchen, kostenlose Therapieplätze an.
Durch die Therapie soll der Klient verstehen lernen, dass die Nutzung von Kinderpornografie nicht nur eine Straftat ist, sondern mittelbarer Kindesmissbrauch, der Opferschäden produziert. Ziel der Therapie ist, dass sich ein Betroffener nicht mehr für seine Gefühle schämt, aber seine Impulse kontrollieren lernt, also keine Kinderpornografie konsumiert und nicht auf Kinder übergreift.
Wenige Therapieplätze
Die Sexualpräferenz sei Bestandteil der Persönlichkeit und als solche unveränderbar, sagt Ahlers: "Die Betroffenen sind nicht schuld an ihren Gefühlen, sie haben sich diese Sexualpräferenz nicht ausgesucht, aber sie sind verantwortlich für ihr Verhalten."
Mit einem flächendeckenden Angebot an derartigen Therapien könnten zumindest ein Teil des Konsums von Kinderpornografie und ein Teil der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch verhindert werden, meint Christoph Joseph Ahlers. Das Angebot der Charite ist derzeit aber weit und breit das einzige dieser Art.
(matrix/Sonja Bettel)