Biometriefahrplan für den Präventivstaat
Neues vom EU-Überwachungsprojekt INDECT: Anhand einer Roadmap wird sichtbar, mit welcher Kombination aus Überwachungstechnologien die Bürger der Union künftig in den Städten kontrolliert werden sollen. Ob die Maßnahmen auch wirklich mit den EU-Grundrechten übereinstimmen, prüfen Polizeizentralen in Polen und Nordirland.
"Unter den Techniken, die wir benutzt und/oder entwickelt haben, sind Fingerprinttests, Analysen von Gesicht und Ohrmuschelform, Handumfang, Iris und Retina. Dazu kommen Analysen von Sprachgebrauch und Handschrift, von Parametern der Fortbewegung und des Verhaltens. Mit all diesen Techniken können wir eine ziemlich hohe Genauigkeit der Identifikation erreichen", heißt es in der "generellen Roadmap für künftige Forschung" im Rahmen des INDECT-Projekts.
INDECT steht für Intelligent Information System Supporting Observation, Searching and Detection for Security of Citizens in Urban Environment und soll Sicherheitskräfte bei der Überwachung, dem Erkennen von Gefahren und der Suche nach Verdächtigen unterstützen.
Das erste der drei unten verlinkten PDF-Originaldokumente enthält nicht nur drei leere Seiten, deren Inhalt offenbar nicht für die allgemeine Öffentlichkeit bestimmt war, sondern hat auch einen Fehler im Zeichensatz.
Urbaner Netzwerkkrieg
Die bereits im Titel beschworene "Sicherheit der Bürger in einer urbanen Umgebung" steht nach Ansicht von Kritikern als Synonym für den Präventivstaat, denn INDECT hat beinahe alles an Technologien der Überwachung und Kontrolle für den urbanen Raum zu bieten, was im letzten Jahrzehnt für die Militärs entwickelt wurde.
So werden Elemente der "netzwerkzentrierten Kriegsführung" auf die Kontrolle von Menschenmengen angewendet. Für diese "Straßenkarte" mit dem wenig spektakulären Titel "Schaffung eines Ereignismodells zur Entdeckung gefährlicher Vorfälle" bedarf es jeder Menge vernetzter Kameras, Sensoren, Algorithmen und vor allem Biometrieanwendungen.
Derlei Systeme wären an sich genug vorhanden, "unglücklicherweise" habe es dabei bisher "an Robustheit" gefehlt, an "Komplexität der Verarbeitung" aber nicht gemangelt. Da ein "ordentliches Biometriesystem" auch unter schwierigen Umständen korrekt und schnell arbeiten müsse, gehe nun die Feldforschung weiter. (S. 20)
"Robustheit, Komplexität"
In der folgenden Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse wird besonders jenen Techniken besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die ohne "Kooperation" des Objekts auskommen. Die mangelnde "Robustheit" - der Begriff ist als "anfällig für Angriffe" definiert - von Fingerprintscannern bis hin zum Irisscan war in den vergangenen Jahren mehrmals demonstriert worden, indem Fingerabdrucksscanner reihenweise mit Silikonfingern getäuscht und die Iris-Erkennung mit vorgehaltenen Fotos eines Auges ausgetrickst wurden.
Datenschützer, Drohnenlobby
Der Europäische Datenschutzbeauftragte ist "beunruhigt" und möchte verhindern, dass Überwachungstechnologien entwickelt werden, die den europäischen Grundrechten zuwiderlaufen. Eines der wichtigsten Elemente zur "Crowd Control" sind mit Sensoren bestückte, vernetzte Drohnensysteme, deren Einsatz über bewohntem Gebiet europaweit bis jetzt verboten ist.
Gesichtserkennung weist zwar - vor allem unter ungünstigen Lichtbedingungen - weit höhere Fehlerraten als etwa ein Irisscan auf, kann dafür aber aus der Ferne und eben ohne "Kooperation" der zu identifizierenden Person eingesetzt werden. Die Fehlerrate will man durch Kombination mit weiteren biometrischen Erfassungstechniken senken.
Stimmen- und Sprachanalyse
Ganz offensichtlich setzen die INDECT-Macher dabei auf Stimmenanalyse, die in der Roadmap ausführlich thematisiert wird. "Sprechererkennung mit einer niedrigeren Fehlerrate" soll durch die kombinierte Analyse von verschiedenen Ebenen der Sprachproduktion erzielt werden. "Spektrale Eigenschaften" wie Sprachtimbre werden mit "phonetischen, prosodischen und lexikalischen Features" abgeglichen, die Paramater sind Stimmlage, Artikulation, Sprachrhythmus sowie Wort- und Phrasengebrauch.
Diese Technologien wurden samt und sonders während der 90er Jahre für die militärischen Nachrichtendienste entwickelt. Seit gut 15 Jahren ist bekannt, dass der US-Supergeheimdienst NSA mittels derartiger biometrischer Analysen systematisch Sprach- und Stimmprofile erstellt.
Ohrmuschelbiometrie
Damit lässt sich der Kreis um ein bestimmtes Individuum schon ziemlich eng ziehen. Gelingt es, das Ergebnis mit jenem aus der Gesichtserkennung so abzugleichen, dass die jeweiligen Fehlerraten dadurch entscheidend reduziert werden, dann wäre so ein System alltagstauglich. Hierzu könnte die "Aurikel-Analyse" beitragen, die "völlig ohne Kooperation des Überprüften" auskommt, wie der INDECT-Fahrplan anmerkt. Einer Tarnung der Ohrmuscheln durch Haare oder Kopfbedeckung beuge der Einsatz von "thermischer Fotografie" vor.
Doch nicht nur hinter dem Individuum sind die INDECT-Forscher her, ein großer Abschnitt der Roadmap beschäftigt sich mit "Crowd Control", also der Kontrolle und Überwachung von Menschenmegen. Diese werden von zufälligen Ansammlungen (U-Bahn-Ausgänge) über Zuschauermengen beim Straßentheater, politische Versammlungen und Demonstrationen bis hin zu Massenplünderungen in elf verschiedene Grundtypen eingeteilt.
Clowns und Überwachung
Das künftige automatisierte Überwachungssystem für den urbanen Raum sollte ja nicht bei einer Clowndarbietung in der Fußgängerzone Alarm schlagen, auch wenn die Darsteller schreien, sich schnell bewegen und obendrein maskiert sind. Alle drei Faktoren finden sich in der Liste "komplexe, umstandsbedingte Ereignisse", die Alarm auslösen. (S. 40)
Aus diesem Overkill an Biometriesystemen, Klassifikationen von "Ereignissen und Objekten", Algorithmen und Fallstudien, exakt zwischen Gesichts- und Sprachbiometrie, sticht ein Unterpunkt hervor. Er ist mit "Ethische Fragen zur Biometrie" übertitelt und betont, dass all das "in strikter Konformität mit den nationalen Gesetzen und Erlässen" sowie den entsprechenden EU-Richtlinien geschehe.
Polizei überprüft Ethik
Dafür garantiert das "Ethik-Board" des INDECT-Projekts, das über der Einhaltung der europäischen Menschenrechtskonvention wacht. Im vorliegenden Fall zeichnen für die ethische Überprüfung der Roadmap das Generalhauptquartier der Polizei Polens verantwortlich sowie der Police Service of Northern Ireland, der auch den Vorsitz im INDECT-Ethikkomitee stellt.
Was die Roadmap für den europäischen Präventivstaat selbst betrifft, so stehen als Nächstes Analyseergebnisse der Biometriekomponenten von Audio- und Videosignalen auf dem Plan. Sodann sollen die "Protoypen eines automatischen Ereignisdetektionssystems" sowie "eines komplexen multimodalen Biometriesystems" erstellt werden
(futurezone/Erich Moechel)