© Fotolia/Christian Schwier, Wahlurne

"Liquid Democracy": Wählen mit Kompetenz

DEMOKRATIE
04.07.2010

Zahlreiche Blogger diskutieren darüber, die deutsche Piratenpartei probiert es bereits aus: "Liquid Democracy" heißt ihr Konzept zur politischen Mitbestimmung. Es ist eine Mischung aus direkter und indirekter Demokratie, ihre Vertreter wollen die starren Strukturen des Systems der repräsentativen Demokratie "verflüssigen".

Warum nur alle paar Jahre wählen, wenn man doch permanent mitbestimmen könnte? Warum sich für ein Gesamtpaket "Partei" entscheiden, wenn man in unterschiedlichen Lebensbereichen unterschiedliche Parteivorschläge gut findet? Warum über Themen abstimmen, von denen man keine Ahnung hat, anstatt sein Stimmrecht in einer bestimmten Frage einer kompetenten Kollegin zu übertragen?

Das Konzept "Liquid Democracy" verspricht eine völlig neue Form der Demokratie. "Es geht um eine Verflüssigung bis jetzt eher starrer demokratischer Prozesse unter Ausnützung der technischen Möglichkeiten, die sich im Web 2.0 bieten", erklärt der IT-Experte Bernhard Reiter. Er selbst ist über die Open-Source-Bewegung auf dieses Konzept gestoßen.

Mitbestimmen und mitbestimmen lassen

Alle Menschen sollen jederzeit in politische Entscheidungen eingebunden sein. Sie können Vorschläge machen und über die Vorschläge anderer abstimmen. Direkte Demokratie also. Wer sich aber nicht mit allen Fragen - von der Hundekotentsorgung bis zur Finanztransaktionssteuer - selbst auseinandersetzen möchte, der kann sein Stimmrecht für ein bestimmtes Themengebiet an jemand anderen übertragen.

Um komplexe Abstimmungsverfahren managen zu können, braucht es eigene Computerprogramme. Und hier sind laut Reiter bereits mehrere vorhanden. Der Verein Liquid Democracy in Deutschland etwa arbeitet an den beiden Software-Lösungen Votorola und Adhocracy. Neben der Abstimmung unterstützt diese Software auch die politische Entscheidungsfindung und hilft, den Diskussionsprozess zu strukturieren.

Versuchslabor Piratenpartei

"Das System der Stimmendelegation erzieht einen in gewisser Weise auch dazu zu sagen: Ich beteilige mich bei den Themen, zu denen ich etwas zu sagen habe. Und bei den Themen, wo ich nichts sagen kann, delegiere ich an Personen, die ich für kompetent genug halte", sagt Christopher Lauer, politischer Geschäftsführer der Berliner Piratenpartei. "Und das ist ein Stück demokratischer Verantwortung, die einem da antrainiert wird."

Die deutschen Piraten probieren das Konzept der flüssigen Demokratie bereits in der Praxis aus. Über eine eigens entwickelte Software namens Liquid Feedback können alle zahlenden Parteimitglieder Anträge veröffentlichen. Die anderen Mitglieder können dann darüber abstimmen und Verbesserungsvorschläge anbringen. Was sie nicht können, ist: den Antragsteller beschimpfen. Denn das System erlaubt nur konstruktives Feedback. Wilde Diskussionen müssen außerhalb von Liquid Feedback stattfinden.

Mechanismen gegen Kampfposter

Natürlich hätten einige User versucht, Unflätigkeiten in das "Anregungsfeld" für Änderungsvorschläge zu schreiben. Nachdem darauf aber nicht direkt reagiert werden könne, habe sich die Aktivität der aggressiven Kampfposter in Grenzen gehalten, erzählt Lauer. Ansonsten gestattet das Liquid-Feedback-System lediglich, grüne Balken als Zeichen der Zustimmung zu vergeben. Abgestimmt wird übrigens nur, wenn ein Antrag schon im Vorfeld ein gewisses Mindestquorum an Zustimmung bekommt. So wollen die Piraten verhindern, dass destruktive Querulanten Anträge stellen, die ohnehin keine Mehrheit bekommen würden.

So habe etwa schon mehrfach ein Berliner User versucht, ein Burka-Verbot zu beantragen, erzählt Lauer: "Und anstatt dass ich jetzt mit schäumendem Mund darauf reagieren muss, kann ich abwarten, ob sich überhaupt Leute finden, die das unterstützen. Und erst wenn die sich gefunden haben, muss ich darauf reagieren. Das ist auch etwas Nettes an dem Programm: Es trainiert einem eine gewisse Gelassenheit an."

Das Ende der Populisten?

Das Liquid-Feedback-System habe aber nicht nur Freunde unter den Piraten, sagt Lauer. Denn wie in jeder Partei gebe es auch hier informelle Hierarchien: "Es ist klassisch so, wer am lautesten schreit, hat etwas zu sagen." Bei Liquid Democracy müsse man aber durch Qualität überzeugen, so Lauer: "Man kann nicht mehr den größten Stumpfsinn in die Welt hinausblasen, der sich markig anhört. Die Populismusnummer zieht hier nicht."

Die Mehrheit der deutschen Piraten hat sich aber für Liquid Feedback ausgesprochen. Das Berliner Beispiel macht Schule - daher wird die Software ab 15. Juli in allen Landesgruppen der deutschen Piratenpartei eingeführt. Die Piraten sehen ihr innerparteiliches Demokratieprojekt durchaus als ein Vorspiel für ein neues Politikkonzept. Die Erfahrungen, die man hier sammle, könne man später auch einmal auf Städte oder gar Staaten anwenden. Bis dahin dürften aber noch Jahrzehnte vergehen, sagt Lauer, denn die etablierten Machtstrukturen würden viel Energie hineinstecken, um solche Konzepte der direkten Demokratie zu verhindern.

Mehr zum Thema:

(matrix/Ulla Ebner)