Kampf gegen Erdäpfel-Raubkopien
Die bevorstehende EU-Richtlinie zur strafrechtlichen Verfolgung von Marken- und Urheberrechtsverletzungen betrifft nicht nur Software, Musik- und Filmdownloads. "Geistiges Eigentum" kann auch in Erdäpfeln stecken, Wiederanbau durch die Bauern verstößt dann gegen den "Sortenschutz".
Die Standardisierung ...
In der Regel sind Branchenverbände und Lobby-Gruppen verschiedener Industriezweige die eifrigsten Verfechter einheitlicher EU-Regelungen für alle möglichen Bereiche.
Um nur ein Beispiel anzuführen, wie weit Standardisierungsinteressen gehen: Vodafone, Deutsche Telekom und andere investieren seit Jahren viel Geld in die Erstellung einheitlicher technischer Standards für die Überwachung von Telefonienetzen und dem Internet durch die Polizeibehörden. Das spart den international tätigen Netzanbietern letzlich mehr Geld, als die Standardisierung kostet.
... und das Gegenteil davon
Auf politischer Ebene hatten die Netzbetreiber bis zuletzt darauf gedrängt, dass die EU-Richtlinie zur Speicherung von Verkehrsdaten [Data-Retention] zum Zweck der Strafverfolgung für alle EU-Staaten verbindliche, genormte Speicherfristen festsetzt.
Nun aber passiert der eher seltene Fall, dass an die dreißig Lobby-Gruppen vom Europäischen Parlament das Gegenteil von Vereinheitlichung fordern.
BSA, IFPI, MPA ...
Von der Business Software Alliance [BSA] über den Dachverband der phonographischen Industrie [IFPI] bis zur Motion Picture Association [MPA] fordern die "bedeutendsten Verbände der Marken- und Urheberrechtsinhaber in der EU", dass in der Richtlinie eben keine genaue Definition der Begriffe "gewerblicher Umfang" und "vorsätzliche Rechtsverletzung" vorgenommen werde.
Die EU-weite Definition dieser Begriffe könne nämlich "eine Bedrohung für die kulturelle Vielfalt und die Innovation in der Europäischen Union darstellen", heißt es in dem Schreiben an das EU-Parlament.
... schrieben einen Brief ...
Außer um ihre "wertvollen Werke", die "regelmäßig unrechtmäßiger Nachahmung und Piraterie ausgesetzt" seien, sorgen sich die Lobbys der Marken- und Urheberrechtsverbände auch um die "europäische Kreativität und Innovation", den "Beurteilungsspielraum" nationaler europäischer Richter und sogar um den Verbraucherschutz.
Tatsächlich hat der Dachverband der europäischen Verbraucherschutzverbände eine nachgerade konträre Position zum Thema eingereicht. Auch der Industrieausschuss der EU hat eine Empfehlung ausgesprochen, die nicht der oben zitierten Argumentation entspricht.
... in großer Sorge
Hintergrund dieses öffentlichen Schlagens von Sorgenfalten ist, dass nur eine Nichtdefinition der Begriffe "gewerblich" und "absichtlich" eine so weite Ausdehnung des Gültigkeitsbereichs der Richtlinie bringen könnte, dass z. B. auch Tauschbörsennutzer strafrechtlich verfolgt werden können.
Zivilrechtlich geschieht das seit Jahren und nicht erst seit der EU-Richtlinie zum Schutz geistigen Eigentums [IPR] im Jahr 2004.
Ausdehnung und Missbrauch
Die Abgeordnete Eva Lichtenberger, als "Schattenberichterstatterin" für die Fraktion der Grünen im EU-Parlament mit der umstrittenen Richtlinie beschäftigt, warnt vor einer Ausdehnung derselben.
Bleibe die Richtlinie nicht auf die Bekämpfung von Produktpiraterie beschränkt, dann sei jede Menge Missbrauch möglich. Nur wenn Vorsatz und Bereicherungsabsicht definiert seien, könne verhindert werden, dass diese die Eigentums- und Markenrechte von praktisch allen Geschäftsbereichen betreffende Richtlinie ganz andere als die erwünschten Folgen hätte.
In der Plenarsitzung vom 23. bis 26. April könnte die "Richtlinie über strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums" bereits verabschiedet werden.
Sorgen um Fairness in ...
Eine Austragung von Wettbewerbskonflikten über das Strafrecht ist laut Lichtenberger überhaupt nicht ausgeschlossen, sollte der "kommerzielle Nutzen" zu breit definiert sein.
Und zwar in irgendeinem nationalen Rechtssystem - die Richtlinie wird bekanntlich nach ihrer Verabschiedung national umgesetzt - irgendwo in Europa.
... europäischen Strafverfahren ...
Das ist der Grund, warum sich BSA, IFPI, MPA und Konsorten so heftig um die "Besonderheiten jedes Einzelfalls", die "Fairness in Strafverfahren" und den "Beurteilungsspielraum" der europäischen Richter sorgen.
Eine EU-weite Nichtdefinition böte für die internationalen Unterhaltungs- und Software-Industrien die Möglichkeit, jene EU-Staaten als "Klagebasis" heranzuziehen, in denen sie ihre Partikularinteressen weitgehend durchgesetzt haben.
... über Erdäpfel
Wer bei einem solchermaßen ausgetragenen Konflikt im Zweifelsfall dann auf der Strecke bleibe, so Lichtenberger abschließend, sei leicht auszurechnen: europäische Klein- und Mittelbetriebe und eher nicht ein multinationaler Konzern. Denkbare Möglichkeiten gebe es zuhauf.
Tatsächlich umfasst die kommende Richtlinie viel mehr Lebensbereiche als das "geistige Eigentum" an Filmen oder Musik, betroffen sind auch die Erdäpfel der europäischen Bauern.
Es geht um Marken- und Eigentumsrechte, über die Saatguthersteller versuchen, Bauern den Anbau von Saatgut aus eigener Ernte einzuschränken, wenn das Saatgut als "geistiges Eigentum" geschützt ist.
Rundschreiben des deutschen Naturschutzrings
"Die Richtlinie 2006/168/EG wird als Maßnahme zur Eindämmung von raubkopierten CDs, nachgeahmten Handtaschen und T-Shirts angekündigt. Obwohl in dem Text kein Wort zu Landwirtschaft oder Saatgut steht, zielt sie aber auch auf so genannte geistige Eigentumsrechte beim Saatgut. [...]
Im Gegensatz zu Handtaschen liegt es bei Saatgut im engsten Sinne in der Natur des Gegenstands, dass sich Saatgut vermehrt: Die Ernte von Weizen, Hafer oder Kartoffeln kann im folgenden Jahr für die nächste Aussaat verwendet werden. Das wird seit Jahrhunderten auf der ganzen Welt von Bäuerinnen und Bauern so betrieben ..."
"Kartoffelsorte Linda"
"In Europa machte die Auseinandersetzung um die Kartoffelsorte Linda letztes Jahr Schlagzeilen. Dabei ging es um die Grundsatzfrage: Wer entscheidet, was Bauern anbauen und Verbraucher essen können? [...]
Recht elegant hat die EU-Kommission den üblichen Aufbau von Rechtstexten für diese Richtlinie umgewandelt, neben der Herleitung und den eigentlichen Paragraphen gibt es nun einen dritten Teil: Darin erklärt die Kommission, worauf die Richtlinie zielt, auch mit dem entscheidenden Querverweis auf den Sortenschutz für Saatgut."
"Wiederaussaat verboten"
"Die Verschärfung der geistigen Eigentumsrechte ist auch Ziel der Bundesregierung im Jahr 2007, sowohl im Rahmen des G-8-Gipfels als auch der EU- Ratspräsidentschaft. Auf der internationalen Agenda, ob bei der WTO, der Konvention über biologische Vielfalt [CBD] oder der Weltorganisation für geistiges Eigentum ... [...]
Doch das Interesse der großen europäischen Saatgut-Unternehmen wurde bereits deutlich formuliert: Die Möglichkeit der Wiederaussaat der eigenen Ernte sollte ganz verboten werden."
IP-Adressen, Verkehrsdaten ...
Warum in der Einleitung gerade die Richtlinie der EU-weiten technischen Standardisierung zur Überwachung des Telefonie- und Internet-Verkehrs als Beispiel zitiert wird, muss noch nachgetragen werden.
Im European Telecom Standards Institute [ETSI] wird gerade die EU-Richtlinie zur verpflichtenden Speicherung von Verkehrsdaten [Data-Retention] technisch umgesetzt. Ein zentraler Punkt dabei ist die Aufzeichnung, wer wann mit welcher IP-Adresse im Internet aktiv war.
Nur anhand des Zeitpunkts ihrer "Einwahl" in ADSL-Netze und der dabei erhaltenen temporären IP-Adresse können so genannte "Raubkopierer", also Tauschbörsennutzer, europaweit mit Namen und Adressen identifiziert werden.
... BSA, IFPI, MPA
An der verpflichtenden Speicherung dynamischer IP-Adressen durch Netzbetreiber sind neben Strafverfolgern und Geheimdiensten erklärtermaßen die Interessenvertreter der in der IFPI, BSA und MPA zusammengeschlossenen Firmen der Kultur- und Kommunikationsindustrien interessiert.
Diese bis ins kleinste Detail festgelegte Norm des ETSI ist für alle Netzbetreiber in Europa verbindlich, einen "Beurteilungsspielraum" gibt es hier ebenso wenig, wie der Verbraucherschutz eine Rolle spielt.
(futurezone | Erich Moechel)