RFID-Junkies unterm Wunderbaum

08.04.2007

Während der herkömmliche Mitteleuropäer Ostereier sucht, spritzen sich die Mitglieder der Ludic Society RFID-Chips unter die Haut und überziehen ganze Städte mit einem unsichtbaren Netz aus nutzlosen Daten. Sie kennen nur eine Passion: das Spiel mit der Realität.

Margarete Jahrmann hat sich einen winzigen RFID-Chip unter die Haut geschossen. Problem ist nur: "Jetzt kriege ich ihn nicht wieder raus." Im britischen Webshop kostet der "Sterilised ISO Microchip Syringe Pack" mit einem Dutzend RFID-Kapseln umgerechnet gerade mal 39 Euro, der Verkäufer empfiehlt, die Injektion "von einem qualifizierten Veterinär" vornehmen zu lassen, immerhin kann der User damit "sowohl große als auch kleine Tiere markieren". Eine Spezialbeschichtung verhindert, dass die Chips im Körper weiterwandern.

"Real Player"

Gut für Margarete Jahrmann, der Chip bleibt da, wo er sitzen soll, er rutscht nicht in den großen Zeh, widersteht auch den Wetterbedingungen in der britischen Hafenstadt Plymouth, wo die letzte Aktion der Ludic Society stattgefunden hat. Vom 21. bis zum 24. März verwandelte die Gruppe die Stadt in ein Spielfeld.

"Die Injektion macht einen Menschen zum Real Player", sagt Jahrmann aka Marguerite Charmante, die 2005 mit ihrem Partner Max Moswitzer und dem obskuren Medientheoretiker P. M. Ong die Ludic Society gegründet haben will. Angeblich in Bilbao, aber wer weiß das schon so genau. Jahrmann und Moswitzer sind Österreicher. Sie unterrichten an der renommierten Hochschule für Gestaltung in Zürich.

Der Kühlschrank weiß, was du getan hast

Für die Ludic Society ist die Welt ein Spielfeld im Maßstab 1:1. Mit ihrem Spiel in Plymouth will die Gruppe testen, was man mit RFID-Chips sonst noch anstellen kann, außer die Kontrollfantasien bleicher Logistik-Theoretiker zu befriedigen.

Es muss mehr drin sein als "eine Welt, in der dein Auto weiß, was du isst, dein Kühlschrank weiß, mit wem du gesprochen hast, und dein Telefon weiß, wohin du gehst", wie es RFID-Künstler Duncan Shingleton von der Universität Plymouth formulierte.

Das Spiel mit dem Plan

Der Spielplan der Ludic Society für Plymouth lässt sich für den Unbeteiligten kaum entschlüsseln. Fest steht, dass Jahrmann und Moswitzer ein paar Alukoffer mit RFID-Tags, sterilen Einwegchip-Spritzen und Lesegeräten vollgestopft, sich ein 70er-Jahre-Muscle-Car der Marke Plymouth besorgt und ein Ladenlokal in der walisischen Hafenstadt zum "Pit-Stop" deklariert haben.

Von hier aus schwärmten die mit injizierten Chips und einem RFID-Set ausgestatteten "Real Player" in die Stadt aus, markierten Häuser und Objekte und trugen diese, zurück im Pit-Stop, über ein spezielles Interface auf einer Google Map ein. Das Real Play ist ein Spiel mit dem Plan.

Der unter die Haut gegangene Chip diente dazu, die Real Player gegenüber dem Computer zu identifizieren, über den die Spielzüge und Standorte der RFID-Tags in einer Stadtkarte eingetragen werden konnten.

Tatsächlich haben sich aber nicht alle der 25 Mitspieler einen Chip einspritzen lassen. Jahrmann und Moswitzer schon. Sie blieben am Ende die einzigen wahren Real Player. "Die anderen trugen den Chip an der Kleidung", sagt Jahrmann.

Wunderbaum-Chindogu

"Auf den Tags ist nichts gespeichert außer der RFID-Nummer", sagt Margarete Jahrmann, die für das Spiel auch ganz neue Gadgets gebastelt hat: technisch aufgerüstete Aroma-Wunderbäumchen aus Plastik, die, im Plymouth [dem Auto] angebracht, die in Plymouth [der Stadt] verteilten RFID-Tags aufspüren können.

Die Wunderbäumchen, so Jahrmann, stünden in der japanischen Tradition sinnloser Erfindungen, so genannter Chindogus. Die Bäumchen zeigen den Spielern an, dass sich ein RFID-Tag in der Nähe befindet, und ermöglichen es ihnen, die Daten auf ihm einzulesen und diese später via Computer auf der Karte einzutragen. Das ist alles.

Leere Preisschilder

Die von den Real Playern in der Stadt verteilten leeren Tags sollen die mit ihnen markierten Gegenstände entwerten. In der medial vermittelten Wirklichkeit von Web-Karten und Computerspielen ist ein Objekt ohne Meta-Informationen nicht vorhanden. Versieht man einen Gegenstand also mit einem leeren Label, ist es im Datenraum nichts wert.

Die Ludic Society möchte noch einen Schritt weiter gehen. "Demnächst basteln wir auch ein elektronisches Wunderbäumchen, das RFID-Tags zerstören kann", droht Jahrmann.

In jedem Spieldurchlauf, bei dem die Real Player durch Plymouth wanderten, die Chips verteilten und deren Position am Pit-Stop in den Rechner eintrugen, entstand im Computer eine neue Karte der Stadt, mit neuen markierten Objekten und Wegen.

Die Spieler konstruieren sich ihr Spielfeld selbst, das Game ist ein Selbstzweck. "Wir wollen nicht noch eine langweilige Google-Karte mit Meta-Informationen bauen", heißt es in einem der Texte zur Aktion, die als wilde Ansammlungen von Assoziationen den Leser mehr verwirren als aufklären.

Revolution als Wanderschaft

Die Texte zeigen aber deutlich, dass sich die Ludic Society in der Tradition des Dadaismus, Marcel Duchamps und der Situationisten sieht. Jahrmann: "Wir schaffen Irritation, um neue Situationen zu ermöglichen."

Guy Debord, Mastermind der Situationisten, erfand Ende der 1950er Jahre eine besondere Technik der Stadtwanderung: das derive. "In einem derive", schrieb Debord, "lassen eine oder mehrere Personen während einer bestimmten Zeit von allen ihren Beziehungen, ihrer Arbeit und ihren Freizeitaktivitäten und überhaupt allen anderen üblichen Motiven für Bewegung und Tätigkeiten ab und lassen sich von den Attraktionen ihrer Umgebung leiten."

Das derive war eine jener Techniken, mit denen die Situationisten versuchen wollten, die Menschen aus dem sicheren Schlummer der Konsumgesellschaft zu reißen. Es ging Debord darum, das wahre Leben hinter dem Spektakel der Massenmedien zu finden.

Neue Wirklichkeiten schaffen

Die Aktionen der Ludic Society erscheinen auf den ersten Blick vielleicht als nihilistisches Spiel mit den klassischen Elementen einer überzüchteten Kontrollgesellschaft. Auf den zweiten Blick durchbrechen sie die glatte Oberfläche technologischer Selbstverständlichkeiten, auf der wir uns im Alltag bewegen.

Der Chip für das Tier wird in den Menschen gespritzt. Die RFID-Chips bleiben leer oder werden nachträglich gelöscht.

Die Vorschriften, die unsere Freiheit im Leben einschränken und denen wir gerade in der Freizeit, in Sport und Computerspielen mit Vergnügen folgen, gelten dem Real Player nichts. Erst im Spiel ohne Regeln ist er frei.

Am 12. April lädt die Ludic Society zum Im/Export Play in den Containerhafen von Rotterdam ein, in eine Umgebung, die an Tetris erinnert. Eine Welt, die dazu einlädt, sie zu drehen und zu wenden. Diesmal werden die RFID-Tags mit speziellen Mobiltelefonen erfasst und ihre Informationen an ihr "Natural Born Home" zurückgeschickt.

(futurezone | Günter Hack)