US-Blogger streiten über Moralkodex

10.04.2007

Nach anonymen Todesdrohungen gegen eine bekannte Tech-Bloggerin hat Web-2.0-Guru Tim O'Reilly nun Richtlinien für zivilisierten Umgang im Web erstellt. Doch einige Blogger sehen in den Höflichkeitsregeln einen Anschlag auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung.

"Es sieht so aus, als würde ein hasserfüllter Mob sich bis an die Zähne bewaffnen und nach Gegnern suchen", schreibt US-Tech-Blogger Michael Arrington. "Ich kann diese Leute nicht unterstützen."

Dabei wollte die kleine Initiative um den Verleger O'Reilly, von der Arrington sich so stark abgestoßen fühlt, doch eigentlich nur dafür sorgen, dass es in Blogs und Kommentaren etwas höflicher zugeht. Seit O'Reilly am Ostersonntag seinen ersten Vorschlag für Blogger-Verhaltensregeln publiziert hat, gehen in der Blogosphäre die Emotionen hoch. Immerhin geht es um ein Thema, das jedem aktiven US-Bürger heilig ist - und den Bloggern erst recht: die freie Meinungsäußerung.

Anonyme Todesdrohungen

Auslöser der neuen Diskussion über Benimmregeln im Netz war ein Artikel, den die mit O'Reilly befreundete Tech-Bloggerin Kathy Sierra am 26. März auf ihrer Website veröffentlicht hatte. Sierra dokumentierte darin die Angriffe eines oder mehrerer Hasstrolle in ihrem Blog, deren Einlassungen bis hin zu obszönen Morddrohungen reichten.

Gleichzeitig wurde Sierra in zwei anonym geführten Satireblogs angegriffen. Eine der dort geposteten kruden Montagen zeigte ihren Kopf mit der Schlinge eines Galgens. Die Beweis-Screen-Shots hat Sierra mittlerweile aus ihrem Weblog entfernt. Sie erstattete Anzeige gegen Unbekannt und schrieb, sie wolle sich aus einer Blogosphäre zurückziehen, in der solche Attacken als selbstverständlich gelten und in der nur Menschen teilnehmen könnten, denen Morddrohungen nichts ausmachten.

Höflichkeit will durchgesetzt werden

O'Reilly schlägt nun ein Markenzeichen für Höflichkeit vor. Wer den schmucken Sheriff-Stern mit dem Slogan "Civility Enforced" auf seinem Blog zeigt, soll dafür sorgen, dass es in seinen Artikeln und Kommentaren respektabel zugeht.

Die vorgeschlagenen Regeln reichen von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten wie dem standhaften Ignorieren von Trollen bis hin zu dem unterstützenswerten Grundsatz, im Web nichts zu schreiben, was man nicht auch im persönlichen Gespräch sagen würde.

Registriert statt anonym

Problematisch sehen die Gegner der O'Reilly-Regeln wie Michael Arrington dagegen die Forderung nach Abschaltung anonymer Kommentare. O'Reilly schlägt vor, dass in den Blogs mit dem Höflichkeitsgütesiegel nur noch User kommentieren dürfen, die sich mit einer gültigen E-Mail-Adresse beim Admin des Blogs registriert haben.

Kommentatoren bei O'Reilly geben zu bedenken, dass Personengruppen existierten, die unregistrierte Anonymität brauchten, um interessante Insider-Informationen oder auch einfach nur ihre Meinung posten zu können, etwa US-Soldaten oder Bewohner von Staaten mit totalitären Regimes.

Zündeln wie bei Roadrunners

Schließlich schlägt O'Reilly vor, dass es auch ein Icon für Blogs geben solle, in denen die Höflichkeitsregeln explizit nicht gelten. Das Symbol für "Anything goes" ist bezeichnenderweise eine Dynamitstange im besten Karl-der-Kojote-Stil mit brennender Lunte.

Thailändische Füße

Die Diskussionen über Netiquette, Grenzen der freien Meinungsäußerung und Nutzen der Anonymität sind so alt wie die "Virtuellen Gemeinschaften" [Howard Rheingold] selbst. Und jeder neue Verhaltenskodex ist wieder ein Satz von Regeln, gegen den es abermals möglichst effektvoll zu rebellieren gilt. Gut, dass es abseits der Selbstregulierung noch Gesetze gibt, die Extremfälle wie die Attacken gegen Kathy Sierra regeln.

Aber diese Gesetze gelten in der Regel nur innerhalb der Staaten, die sie erlassen, und das Netz ist bekanntlich international. Interessanter als die sich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wiederholenden Konfliktmuster im US-amerikanischen und europäischen Netz ist daher, die Missverständnisse zu beobachten, die sich im Zuge der Ausbreitung partizipativer Anwendungen auch über "westlich" geprägte Kulturkreise hinaus zusehends häufiger ergeben.

Wenn ein Troll auf YouTube ein Video postet, auf dem der Kopf des thailändischen Königs mit einem Paar nackter Frauenfüße zusammen zu sehen ist, sieht das auch für den wachsamsten Google-Angestellten harmlos aus, während es für königstreue Thais eine tödliche Beleidigung darstellt - auch jenseits der strategischen Aufgeregtheiten des dortigen Militärregimes.

Spenden für die Trollopedia

Gefragt wären vielleicht weniger Benimmregeln für Blogger als vielmehr eine Wikipedia der Widerlichkeiten, in der alle Beleidigungen sämtlicher Kulturen der Welt in Wort, Bild und Video exakt verzeichnet sind, eine gigantische Ressource der Rüpelhaftigkeit, aus der hoch bezahlte Höflichkeitsberater kostenlos ein Wissen ziehen können, das sie dann teuer an die MySpaces und YouTubes weiterverkaufen können, auf dass die Kombination aus König und Frauenfuß fortan automatisch nach dem Upload aus dem Netz gefiltert werde.

Mag sein, dass die Weltelite der Trolle mit einem solchen Projekt derart gut ausgelastet wäre, dass das restliche Netz von ihnen eine Zeit lang Ruhe hätte. Bis zum nächsten Flamewar.

(futurezone | Günter Hack)