"Schlafender Riese" mit Vorbildwirkung
Amazons geplanter MP3-Shop, der noch heuer in den USA an den Start gehen soll, könnte Musik ohne Beschränkungen durch Kopierschutzsysteme im Online-Musikhandel den Durchbruch bringen, meinen Analysten. Ob und wann MP3s von Amazon auch in Europa erhältlich sein werden, ist ungewiss.
Amazons Einfluss auf den Markt sei groß genug, um nach EMI auch die drei anderen großen Musikkonzerne - Universal, Warner Music und Sony BMG - vom Verkauf ihrer Musik ohne Kopierschutzbeschränkungen im Internet zu überzeugen, sagte Susan Kevorkian, Analystin beim US-Marktforschungsunternehmen IDC, der US-Zeitung "Seattle Post Intelligencer".
Die Majors müssen neue und bessere Möglichkeiten des Musikverkaufs finden, um die substanziellen Rückgänge in ihrem Kerngeschäft, dem CD-Verkauf, auszugleichen, argumentierte die Analystin.
Amazon bestätigte am Mittwoch den geplanten US-Start eines MP3-Shops für 2007. Die bei Amazon gekauften Songs sollen auf allen digitalen Musik-Playern abspielbar sein und beliebig oft auf CD gebrannt werden können, daher werde Amazon Musik ausschließlich im MP3-Format ohne Digital Rights Management [DRM] verkaufen, kündigte Amazon-Chef Jeff Bezos an. Neben zahlreichen unabhängigen Labels ist auch der Musikkonzern EMI mit DRM-freien Songs mit an Bord.
"Live Beta Test"
Die anderen Majors müssten erst davon überzeugt werden, dass sich der Verkauf von DRM-freier Musik auszahle, meinte Jupiter-Analyst Mark Mulligan. Amazon rechne sich gute Chancen aus, sie mit dem MP3-Verkauf im "Live Beta Test" zu überzeugen, meinte Mulligan in seinem Weblog.
An der Vorbildwirkung des weltgrößten Online-Einzelhändlers ließ er keinen Zweifel: "Amazon ist der schlafende Riese im digitalen Musikgeschäft."
Neudefinition des Online-Musikgeschäfts
Zwar habe Amazon noch keine Details zu seinem Online-Musikverkauf bekannt gegeben, das Unternehmen habe aber über den CD-Verkauf bewiesen, dass es weiß, wie man Musik online verkauft, notierte David Card, Mulligans Kollege bei Jupiter Research.
Mit dem Verkauf von Musik, die auf allen digitalen Musik-Playern abgespielt werden und beliebig oft auf CD gebrannt werden kann, helfe Amazon dabei mit, die Gesetze des Online-Musikgeschäfts neu zu schreiben, so Card.
Kopierschutzsysteme legen fest, wie oft Songs auf CD gebrannt werden können. Da DRM-Systeme häufig an die Abspielgeräte bestimmter Hersteller gebunden sind, können damit geschützte Songs nicht auf allen Musik-Playern abgespielt werden. EMI kündigte als erster großer Musikkonzern Anfang April an, seine Musik künftig auch ohne DRM verkaufen zu wollen. Die anderen großen Musikkonzerne geben sich abwartend.
Absatzschub durch kollaborative Filter
Großes Potenzial für den Online-Musikhandel schreibt die Analystenschar den Empfehlungsmechanismen [z. B. "Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch ..."] zu, die auch zum Erfolg der anderen Amazon-Sparten beigetragen haben.
Mike McGuire vom US-Marktforschungsunternehmen Gartner sieht darin etwa einen Wettbewerbsvorteil für das Unternehmen.
Amazon habe gute kollaborative Filtermechanismen und Empfehlungssysteme, die viele Kunden zum Kauf von Online-Musik bewegen könnten, wird er im Branchen-Weblog Coolfer zitiert.
Keine Konkurrenz für iTunes Music Store
Dass Amazon mit dem Verkauf von MP3s dem iTunes Music Store Kunden abspenstig machen könnte, glauben viele Analysten nicht. IPod-Nutzer würden die Vorteile des iTunes/iPod-Ökosystems, das mittlerweile neben Musik auch TV-Serien, Filme und Spiele umfasst, zu schätzen wissen und nur schwer zum Wechsel zu anderen Anbietern zu bewegen sein, schrieb Jupiter-Marktforscher Michael Gartenberg.
Amazon werde mit dem Verkauf von MP3s deshalb vor allem Nutzer anderer digitaler Musik-Player ansprechen können, meinte Gartenberg.
DRM-freie Musik von EMI und zahlreichen unabhängigen Labels soll es schon bald auch im iTunes Music Store geben. Laut Apple-Chef Steve Jobs, der Anfang Februar in einem Aufsehen erregenden Statement die Abschaffung von DRM im Online-Musikhandel forderte, sollen bis Jahresende bereits rund 2,5 Millionen DRM-freie Songs im iTunes Music Store verfügbar sein.
Neue Kunden für Online-Musik
Amazon werde vor allem Leute erreichen, die bisher weder Musik im Internet gekauft noch digitale Musik-Player verwendet haben, glaubt hingegen Forrester-Analyst James McQuivey: Damit werde das Unternehmen neue Kunden ins Online-Musikgeschäft bringen, sagte er dem US-Branchenportal Mediachannel.
Europa-Start noch ungewiss
Europäische Kunden werden den Amazon-Music-Shop vorerst nur aus der Ferne beobachten können. Der Dienst sei nur für Kunden in den USA nutzbar, sagte eine Unternehmenssprecherin auf Anfrage von ORF.at.
Grundsätzlich seien digitale Formate auch für den europäischen Raum interessant, sagte die Sprecherin. Ob und wann ein MP3-Shop auch hier zu Lande gestartet werde, könne sie vorerst jedoch nicht sagen.
In Österreich ist DRM-freie Online-Musik derzeit unter anderem bei dem auf Independent Labels spezialisierten Anbieter eMusic erhältlich. Auch der vor kurzem gestartete Online-Musik-Shop des Musiktanks und die Independent-Plattform Manymusics haben MP3s österreichischer Künstler im Angebot. Ein begrenztes Angebot an DRM-freien Songs findet sich mittlerweile auch auf größeren Download-Plattformen, etwa bei Aon Music Download und Libro Music Download.