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Wikipedia und Revolution

25.05.2007

Die Encyclopedie von Diderot und D'Alembert hat vor rund 250 Jahren die Französische Revolution mit vorbereitet. Auch heute gibt es wieder einen Boom der Enzyklopädien. Nicht von ungefähr, meint der Wiener Philosoph Herbert Hrachovec im Gespräch mit ORF.at.

Der Erfolg der Wikipedia hat zu einer Renaissance des Konzepts Enzyklopädie geführt. Wikipedia-Mitgründer Larry Sanger rief kürzlich das Experten-Nachschlagewerk "Citizendium" ins Leben, und erst am 8. Mai kündigten US-Wissenschaftler an, eine professionelle "Encyclopedia of Life" mit Informationen über Pflanzen- und Tierarten schreiben zu wollen.

Ist der Boom der Enzyklopädien nur auf die Tatsache zurückzuführen, dass das Publizieren im Netz im Vergleich zur Buchproduktion einfacher und schneller ist, oder gibt es auch tiefer liegende Gründe dafür, dass Menschen in einer bestimmten historischen Situation das Wissen ihrer Zeit sammeln und sich damit ihrer selbst vergewissern wollen?

ORF.at sprach über diese Frage mit Herbert Hrachovec, Professor für Philosophie an der Universität Wien. Seit Anfang der 1990er Jahre setzt sich Hrachovec mit Internet-Werkzeugen auseinander, die kollaboratives Denken und gemeinsames Verfassen von Texten ermöglichen.

In diesem Rahmen hat sich Hrachovec intensiv mit dem Arbeiten in Wikis befasst und setzt diese auch selbst seit mehreren Jahren in seinen Lehrveranstaltungen an der Universität ein.

ORF.at: Herr Hrachovec, der Erfolg der Wikipedia hat im Netz einen kleinen Gründungsboom der Enzyklopädien nach sich gezogen. Wie sehen Sie diese Wiederbelebung des Konzepts Enzyklopädie?

Hrachovec: Ich habe im Rahmen meiner Studien zur Wikipedia Hegel gelesen. Seine "Phänomenologie des Geistes" ist gerade 200 Jahre alt geworden. Darin gibt es eine ganz entscheidende Wende, die ich früher nie wahrgenommen habe. Und die hat mit der "Encyclopedie" zu tun, die Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d'Alembert im 18. Jahrhundert geschrieben haben.

Hegel sieht diese Enzyklopädie als Arbeit der Akkumulierung von Geist, als entscheidenden philosophiegeschichtlichen Schritt aus dem Spätfeudalismus in Richtung Aufklärung.

Das ist deshalb so auffallend, weil Hegel in seiner Argumentation normalerweise nach einem anderen Denkschema vorgeht. Da heißt es: Schlag, Gegenschlag, Synthese. Das ist genau nicht das Prinzip der Encyclopedie von Diderot. Die Encyclopedie sammelt an. Sie sammelt Wissen aus verschiedenen Richtungen und ergibt ein Ganzes durch Nebeneinanderstellen.

Das ist normalerweise bei Hegel gar nicht vorgesehen. Aber an dieser speziellen Stelle, in Verbindung mit der Französischen Revolution, funktioniert das Zusammensammeln von Wissen in einem großen universalen Buch als die Revolution vorbereitendes Moment. Diese Idee kommt vorher und nachher bei Hegel nie wieder vor.

Das hat mir insofern gut gefallen, weil man Hegel gern wegen seiner rigiden Schematik verurteilt. An dieser Stelle sieht man recht schön, dass er, wenn es notwendig ist, auch seine eigenen Prinzipien beiseite schiebt und etwas gedacht hat, was der Wirklichkeit entspricht, nämlich dieses enzyklopädische Moment.

Der französische Enzyklopädist Denis Diderot [1712 - 1784]. Ausschnitt aus einem Gemälde von Louis-Michel van Loo [1767].

Die Encyclopedie

Die in ihren wesentlichen Teilen von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d'Alembert herausgegebene "Encyclopedie ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers" gilt als Prototyp aller modernen Nachschlagewerke. Von 1751 bis 1772 veröffentlichte Diderot 17 Text- und elf Tafelbände.

Diderots Encyclopedie hatte also auch eine politische Bedeutung.

Wenn man in der Geschichte weitergeht ins 19. und 20. Jahrhundert, dienten die Enzyklopädien der Selbstdarstellung des Bürgertums. Dabei ging es darum, einen Circle of Knowledge herzustellen, wie es in der Encyclopedia Britannica heißt, also um eine Inszenierung der Abgeschlossenheit des Wissens.

Damals gab es noch die Fantasie, dass wir so gut sind, dass wir die Welt als ein Ganzes erfassen können. Zwar nicht auf die Art von Leibniz und der anderen genialen Universalgelehrten - das ging damals schon nicht mehr -, aber als eine Gesellschaft, als eine Gruppe gebildeter Intellektueller.

Das ist, mit Einschränkungen, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts so gespielt worden. Die Beschleunigung der Zeitgeschichte, die immer schneller vor sich gehenden politischen Umwälzungen und wissenschaftlichen Entwicklungen verhinderten aber, dass man diese 40-bändigen Konvolute auf dem neuesten Stand halten konnte.

Nicht umsonst stammen die nostalgisch-wunderschönen Referenzprojekte wie Meyers Konversationslexikon noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Werbung für solche Enzyklopädien betonte nicht mehr die wissenschaftliche Vollständigkeit und Ganzheit, sondern empfahl das Nachschlagewerk als eine Anschaffung für die Kinder.

Die Käufer sollten sich und ihre Familie in die Welt des Wissens einpassen. Diese Enzyklopädien sind aber nicht mehr "cutting edge". Sie haben das Explorative an den Rändern verloren. Neu und interessant geworden ist die Idee der Enzyklopädie erst wieder durch das Internet und das Wikipedia-Projekt.

Schließlich war das Internet zuallererst ein wissenschaftliches Projekt.

Das Internet und das Web sind von den Wissenschaftlern als neue Möglichkeit wahrgenommen worden, Fachwissen pointiert zusammenzufassen und an die Öffentlichkeit geben zu können.

In der Philosophie gibt es mit der Stanford Encyclopedia of Philosophy ein Projekt, das sehr früh im Sinne einer fachwissenschaftlich verbürgten und durch ein Forschergremium unterstützten Art und Weise geführt wurde.

Auf verschiedene wissenschaftliche Disziplinen beschränkt, gab es bereits in den 1990er Jahren einen Boom der Online-Nachschlagewerke.

Wie geht dann die Wikipedia über diese Nachschlagewerke der Experten hinaus?

Die Wikipedia war der erste wirklich revolutionäre Ansatz, ein Nachschlagewerk im Netz zu verfassen. Dort wollte man nicht einfach die bisherigen Kompetenzstrukturen im Netz abbilden. Dort hat man gesagt: Wir schauen, welche Kompetenzen im Netz selbst vorhanden sind, welche Kontroll- und Steuerungsmechanismen das Netz in sich birgt.

Die Wikipedia hat gezeigt, dass man Netzwerkeffekte dann dazu nutzen kann, die Qualität zu steigern, wenn man die Frage an das Netz richtig formuliert. Gerade Enzyklopädien eignen sich auf eine geniale Art und Weise zur relativ feinkörnigen Netzkontrolle.

Durch das Stichwortsystem wird nämlich der Kompetenzbereich der Teilnehmer automatisch eingeschränkt. Die Autoren bearbeiten das Stichwort "Drosendorf" oder das Stichwort "Battlestar Galactica" oder das Stichwort "Wasser". Damit werden diese eigentlich unmöglich zu organisierenden Redaktionsprozesse, Interferenzen und Ganzheitsansprüche reduziert.

Die Wikipedia-Autoren können sich selbst für ein Stichwort zuständig erklären. Es hat sich im Laufe der Zeit gezeigt, dass es immer mehr Leute gibt, die produktiv mitarbeiten, als solche, die Unfug machen. Dieser soziale Effekt der Kooperativität in wohldefinierten kleinen Zusammenhängen greift jedenfalls.

Die gegenwärtige Entwicklung, Fachenzyklopädien neu aufzusetzen, kommt wohl daher, dass die Fachwelt die Herausforderung durch die Wikipedia annehmen möchte. Man möchte noch eins drauflegen.

Mit der Encyclopedie hat sich das Bürgertum ein mächtiges neues Werkzeug geschaffen. Das waren Leute, die sich gesagt haben: Wir stoßen in der gegenwärtigen Gesellschaftsform immer häufiger an unsere Grenzen. Bildet sich in der Wikipedia auch ein neues Denken ab?

Neu an der Wikipedia sind diese kollaborativen Schreibprozesse, also dass man an einer Sache von überall in der Welt her kontinuierlich verbessernd gemeinsam arbeiten kann.

Das ist eine Arbeitsweise, die es vor zehn Jahren auf der Welt noch nicht gegeben hat. Wir erleben eine Form der Vergesellschaftung von Geist, denn da werden Bereiche detailliert und sachorientiert kooperativ gemeinsam bearbeitet. Da gibt es sachgerichtete Diskussionsvorgänge zwischen einer großen Anzahl von Leuten, die keine Oberaufsicht haben, sondern gemeinsame Zielvorstellungen.

Und das würde ich sehr wohl als eine Chance sehen, einen neuen Blick auf das zu werfen, was man in einer zukünftigen Gesellschaft tun kann.

Die Wikipedia als Beweis dafür, dass Selbstorganisation stärker sein kann, als man ihr es zugetraut hat.

Da sind aber auch schnell falsche Hoffnungen geweckt. Damit es funktioniert, braucht es zwei entscheidende Nebenbedingungen.

Erstens die Wissensstruktur einer Enzyklopädie, diese Segmentierung. Das Zweite ist ein gesellschaftlicher Wunsch, dass diese Art der Wissensstruktur vorhanden sein und ausgebaut werden möge.

Einerseits braucht man eine Methode, den Leuten die Arbeit zuzumessen - und das darf nicht zu groß und nicht zu klein sein. Das Unterteilungsprinzip der Enzyklopädie erweist sich an dieser Stelle als richtig.

Und dann muss aber noch ein Bedürfnis vorhanden sein, das über das Google-Prinzip hinausweist, nämlich ein Bedürfnis, das man enzyklopädisch nennen kann: dass die Inhalte nicht nur korrekt sind, sondern im Rahmen eines Projekts bearbeitet werden, das in sich selber akzeptiert wird und wünschenswert ist.

Man könnte sich fragen: Wozu brauche ich eine Wikipedia, wenn es doch Google gibt?

In der Wikipedia manifestiert sich also der Wunsch der Menschen nach einer Ordnung, die von ihnen selbst gemacht ist.

Genau.

Wenn man sich die Prinzipien der Wikipedia ansieht, also "keine Primärrecherche", "neutraler Standpunkt" und das alles, dann kommt sie einem in ihrer Ehrlichkeit etwas altmodisch vor, genauso wie das Projekt, überhaupt eine Enzyklopädie zu verfassen. Wird da nicht eher eine Hyperrealität konstruiert, eine komplexe Simulation, eine Täuschung, wie sie sich Jean Baudrillard immer vorgestellt hat?

Ich bin da kein Baudrillard-Anhänger, muss ich sagen. Nehmen wir ein kontroverses Ereignis wie das Massaker, das US-Truppen im irakischen Haditha an der Zivilbevölkerung verübt haben. Wir haben dieses Thema in einer Lehrveranstaltung untersucht, weil es so stark umstritten ist.

Je nachdem, welchen Fernsehsender man sieht, gibt es ausgesprochen parteiliche Darstellungen davon, was passiert ist und wie man es einzuordnen hat.

Entscheidend ist, dass das kritische Abwägen von Nachrichten nicht die Wahrheit zu Tage fördert, aber die unentbehrliche Voraussetzung dafür ist, dass Urteile gefällt werden können. Diese Urteile können durchaus riskant und widerlegbar sein. Aber ich muss, um in den Bereich zu kommen, in dem ich was Vertretbares behaupte, Vorarbeit leisten.

Die Position des neutralen Standpunkts sehe ich als eine grundlegende Dienstleistung in diesem Prozess. Da geht es zuerst nicht darum, dass eine Wahrheit herauskommt. Wahrheit hat für mich nichts Metaphysisches.

Wahrheit ist eine Qualität von Behauptungen, die damit zu tun hat, dass man gute Gründe hat, diese Behauptungen dem Rest der Welt zuzumuten. Und gute Gründe heißt: Gründe, die andere Leute nachvollziehen können und die man selbst verteidigen kann. Und das impliziert einen Prozess des Abgleichs. Ich meine das nicht so, dass am Ende nur Farblosigkeit übrig bleibt. Das ist nicht das Ziel.

Das erinnert an Gerichtsverfahren. Man sammelt Indizien, und die Leser sind die Geschworenen.

So sehe ich es auch. Die Präsentation der Indizien ist ein Dienst an der Sache, insofern, als dass es die Optionen offen legt.

Mir bleibt dann nicht erspart, zu einem Urteil zu kommen. Aber der Punkt, an dem ich zu einem Urteil gekommen bin, sollte nachvollziehbar eine Vorphase haben, in der die wichtigsten Indizien aufgezählt wurden.

Die alte Encyclopedie war Teil eines Selbstvergewisserungsprozesses einer bestimmten sozialen Schicht, des Bürgertums. Die Wikipedia repräsentiert keine bestimmte soziale Schicht. Aber sie könnte Teil der Selbstvergewisserung einer Generation sein, die sich die Funktionsweise der Medien angeeignet hat und auch eine Distanz zu ihnen entwickelt und versucht, ein Werkzeug zu finden, anhand dessen sie Entwicklungen beurteilen kann, die über die Medien an sie herangetragen werden.

Seit drei Jahren benutze ich in der Lehre ein Mediawiki, wie es auch von der Wikipedia benutzt wird, und damit bin ich sehr zufrieden.

Dort stelle ich die Texte für meine Vorlesungen zur Verfügung. Im Wiki gibt es auch Seminarprojekte, in denen wir gemeinsam schreiben.

Wenn man eine Gruppenarbeit macht, liegt der Schwerpunkt auch nicht auf der Einzelvertiefung. Das sind nicht Fragen von dem Typ: "Hat Dewey das Problem richtig verstanden oder hat William James es richtig verstanden?", sondern die Fragen sind dann von einer stärker distanzierten Form.

Darum diskutieren wir im Wiki auch über kontroverse Themen wie Haditha und die Irak-Politik. Meine Idee ist tatsächlich, nicht Partei zu nehmen, sondern die Indizien so aufzubereiten, dass jemand, der dann parteilich sein will, eine vernünftige Grundlage für seine Entscheidungen hat.

Und das ist für mich eine Vorstellung von Philosophie: philosophische Themen so darzustellen, dass das damit geschehen kann.

Software für neue Lernprozesse

Herbert Hrachovec und sein Team haben auch das Script Wiki2scorm entwickelt, mit dem sie fertig erarbeitete Lehrinhalte aus dem Wiki in das SCORM-Format [Sharable Content Object Reference Model] exportieren können, das sich wiederum auf jeder wichtigen virtuellen Lernplattform verwenden lässt.

Ist dieses Ideal des "neutralen Standpunkts" in der Wikipedia der Abschluss des Aufklärungsprojekts?

In der philosophischen Debatte gibt es die eine Tendenz zu sagen, dass jene Art der Aufklärung, die mit einem empathischen Vernunftglauben daherkommt, in Dummheit und Barbarei endet.

Die andere Betrachtungsweise, die ich eher vertreten würde, begreift Aufklärung in dem genannten Sinn als Fairness in der Erarbeitung der Grundlagen für Urteile. So etwas kann und muss global geschehen. Und das ist eine Aufgabe.

(futurezone | Günter Hack)