Ein Jahrzehnt des Netzbürgers
Vor zehn Jahren veröffentlichten die US-Netzhistoriker Ronda und Michael Hauben ihr Buch "Netizens", in dem sie für ein Internet plädierten, das von verantwortungsvollen Individuen getragen wird. ORF.at bat Ronda Hauben zur Bestandsaufnahme.
Am 14. Juli 2007 versammelte sich eine kleine Gruppe von Freunden in New York, um das zehnjährige Jubiläum des Erscheinungsdatums von "Netizens" zu feiern, einem Buch, mit dem weltweit der Begriff des Netzbürgers eingeführt wurde.
"Wir haben darüber diskutiert, ob der Optimismus in dem Buch gerechtfertigt war", schreibt Jay Hauben, der Ehemann von Ronda und Vater des "Netizens"-Erfinders Michael, der am 27. Juni 2001 im Alter von 28 Jahren gestorben ist. "Auch die Pessimisten unter uns mussten aber zugeben, dass es auch hier in den USA noch überraschende gesellschaftliche Entwicklungen geben wird, die auf das Netz zurückzuführen sein werden. Das Netz ist noch jung und niemand kann seine Zukunft vorhersagen."
New Economy
Die Haubens haben "Netizens" zu einer Zeit geschrieben, als das Netz den bisher schwersten sozialen Umbruch in seiner Existenz durchmachte. Die Clinton-Regierung hatte das Netz privatisiert und die "New Economy" zog Unmengen fragwürdiger Geschäftemacher an.
In dieser Zeit wollten die Haubens, die das Netz über das Usenet kennen gelernt hatten, die nicht kommerziellen und kollaborativen Wurzeln des Internets stärken. Sie beschrieben den Typus des "Netizen", des bewussten Netzbürgers - also nicht im Sinne des Bourgeois, sondern des Citoyen -, der das Internet dazu nutzt, gemeinsam mit Gleichgesinnten eine bessere Gesellschaft zu schaffen.
Ein Idealtyp
Angesichts von Lolcats, MySpace und der Klingeltonwirtschaft könnte man heute sagen, dass der Netizen versagt hat. Andererseits sind in dem von den Haubens beschriebenen Geist des Gebens und des intelligenten Dialogs ganze Betriebssysteme entstanden. Natürlich gibt es den "Netizen" nicht. Aber im Geist des von Max Weber vorgeschlagenen Idealtyps taugt er dennoch zur Figur, anhand derer sich die Veränderungen im Internet beschreiben lassen.
ORF.at: Ronda Hauben, wer ist für Sie ein "Netizen"?
Ronda Hauben: Einige Leute verwenden das Wort "Netizen" als Bezeichnung für jeden, der eine Verbindung zum Internet hat. Als Michael den Begriff erfunden hat, meinte er damit aber nur jene Menschen, die das Internet dazu verwenden, eine bessere Welt zu schaffen.
Ein Beispiel dafür sind die jungen koreanischen Wissenschaftler, die das Netz dazu verwendet haben, den Betrug um die gefälschten Stammzellen-Forschungsdaten von Professor Hwang Woo-Suk aufzudecken. Der Fall wurde zuerst auf dem Bürgerjournalisten-Portal OhmyNews einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt.
Im deutschsprachigen Raum finde ich Florian Rötzer und Telepolis wichtig. Dort werden Fragen gestellt, um die sich Mainstream-Medien nicht kümmern. Und es gibt dort eine rege Gemeinschaft, die über diese Themen diskutiert.
Wie sind Sie und Michael darauf gekommen, das Buch zu schreiben?
Michael und ich sind 1992 ins Usenet gegangen. Schnell wurde uns klar, dass die Leute, die sich im Usenet bewegten, mehr über die Geschichte des Netzes wissen wollten. Michael schrieb dann einige Artikel wie "The Computer As Democratizer" [Computer als Werkzeug der Demokratie] oder "The Social Forces Behind the Development of Usenet", der sich mit der Entwicklung des Usenets befasste.
Der Kanadier Phil Fleisher schlug Michael vor, diese Artikel zu einem Buch zusammenzufassen, das sich aus mehreren Perspektiven mit dem Fortschritt auseinander setzen sollte, den das Internet der Welt bieten würde.
Zu der Zeit habe ich mich mit britischer wirtschaftswissenschaftlicher Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts befasst, wobei mir klar geworden war, wie wichtig Kommunikationssysteme für die wirtschaftliche Entwicklung einer Gesellschaft sind. Ich wollte eine "Politische Anatomie des Internets" schreiben, nachdem ich William Pettys "Politische Anatomie Irlands" gelesen hatte.
Aus diesen Ansätzen wurde dann "Netizens".
Bis zum Herbst 1993 hatte ich meine und Michaels Aufsätze zur Netzgeschichte zu einem Buch zusammengestellt. Wir gaben dem "Netbook", wie wir es unter uns nannten, den Titel "Netizens and the Wonderful World of the Net". Im Jänner 1994 wollten wir in Dearborn, Michigan, wo wir damals lebten, mit einer öffentlichen Lesung die Online-Publikation unseres Buchs feiern. Wir kündigten die Lesung in der Lokalzeitung und im Netz an.
Michael studierte damals an der Columbia-Universität in New York, war aber in den Semesterferien zu Hause. Am 12. Jänner 1994 stellten wir unsere Arbeit vor Publikum im Henry Ford Community College in Dearborn vor. Michael las aus dem ersten Kapitel vor und wir diskutierten darüber.
Dann zeigten wir unseren Gästen an einem Computer mit Internet-Zugang, dass das ganze Buch online verfügbar ist und wie sie es über FTP herunterladen können.
Im Netz gab es das Buch also schon damals?
Wir fanden schnell heraus, dass es schwierig werden würde, das Buch in gedruckter Form herauszubringen. Am 24. April 1994 habe ich Michael an der Columbia besucht. Studentische Mitglieder der Association for Computer Machinery [ACM] hatten uns zu einer Lesung eingeladen.
Nach unserer Lesung gab es eine lebhafte Diskussion über die Zukunft des Internets. Sollte man dabei mehr Wert auf Multimedia oder auf Anwendungen zur Zusammenarbeit legen? Die Studenten mochten das Buch.
Nach der Veranstaltung fragten sie Michael, ob wir schon einen Vertrag mit einem Verlag hätten. Das ist nur ein Beispiel für die zahlreichen ermutigenden Worte, die uns dazu brachten, weiter nach einer Möglichkeit zu suchen, das Buch drucken zu lassen.
Dann begann der Internet-Hype.
Ja. Einige Leute glaubten damals, sich mit dem Internet ihre Dollar-Millionen holen zu können. Es gab da die ersten Spammer, ein paar Anwälte, die ihre Dienste zur Erwerbung der Green Card über ein Posting im Usenet angeboten haben. Die Netizens bekämpften sie. Später erfuhren wir dann, dass die Anwälte einen Vertrag über 40.000 US-Dollar für ein Buch angeboten bekommen hatten, in dem sie erklären sollten, wie man mit dem Internet Millionen machen kann.
Bei uns war das schon schwieriger. Einmal hatten wir Kontakt mit einem Verleger, der uns ein Angebot machte. Seine Lektorin begann dann, den Text umzuschreiben. Sie nahm jene Abschnitte heraus, in denen wir die Kommerzialisierung des Internets in Frage stellten, und ersetzte sie durch Stellen, in denen sie die weitere Kommerzialisierung des Netzes forderte. Als wir uns dagegen wehrten, drohte uns der Verleger damit, den Vertrag platzen zu lassen. Wir akzeptierten die Änderungen trotzdem nicht, und der Verleger zog sein Angebot zurück.
Gleichzeitig gab es viele Angebote von Netzbürgern, Online-Versionen des Buchs herzustellen. Cal Woods aus Dublin bot uns an, die Textfiles mit HTML-Tags zu versehen, was er dann auch getan hat. Der Kanadier Steve Samuel schlug uns vor, das Buch im Eigenverlag herauszubringen und selbst zu vertreiben.
Schließlich hat es dann doch geklappt.
Michael ließ sich nicht von den schlechten Erfahrungen unterkriegen. Er veröffentlichte die Inhaltsangabe des Buchs im Usenet, in einigen Mailing-Listen und im WWW. Schließlich bekam er eine Mail vom Verlag der IEEE Computer Society. Wenn wir wirklich ein solches Manuskript hätten, dann wäre der Verlag an dem Buch interessiert.
Wir haben dann über ein Jahr lang daran gearbeitet, das Buch zu redigieren. Jan Lee, Redakteur der IEEE Annals of Computing, unterstützte uns dabei, unsere Arbeit zu publizieren. Auch IEEE-Mitglied Deborah Scherrer half uns dabei sehr. Als Ombudsfrau half sie dabei, viele Probleme zu lösen, die im Lauf der Arbeit aufgetreten waren.
Das Buch wurde schließlich im Mai 1997 in gedruckter Form veröffentlicht. Am 14. Juli, dem Tag der Erstürmung der Bastille, feierten wir eine Party in einem Buchladen nahe der Columbia-Universität. Michael und ich lasen aus dem Buch vor, einer der Verleger kam aus Kalifornien, und auch ein paar Freunde aus Michigan besuchten uns.
Einige japanische Freunde übersetzten das Buch in ihre Sprache, sodass es schon im Oktober 1997 in Japan erscheinen konnte.
War es damals einfacher, ein Netizen zu sein, als heute? Immerhin war die Internet-Bevölkerung Anfang der 1990er noch wesentlich homogener als heute.
Na ja, die Netzbevölkerung war auch schon vor dem 1. Mai 1995, dem Tag, an dem das Internet privatisiert wurde, nicht homogen. Aber das Netz war vor der Kommerzialisierung ein freundlicherer Ort.
Es gab eine Gemeinde von aktiven Netzbürgern, die sich gegenseitig unterstützten. Die Privatisierung und Kommerzialisierung unterstützte jene Elemente, die das Netz missbrauchen wollten.
"Netizens" versucht, das Netz von seinen Anfängen her zu erklären. Was ist vom Geist von Pionieren wie J. C. R. Licklider heute noch übrig?
Der Geist von Leuten wie Licklider lebt heute schon noch weiter, aber nicht in einzelnen Personen, sondern in verschiedenen Aspekten über das ganze Netz hinweg. Die Herausforderung an Netizens besteht heute darin, die ursprünglichen Ideen im Tagesgeschäft umzusetzen.
Bürgerjournalismus ist dafür ein gutes Beispiel. Michael hat geschrieben, dass die Internet-Technologie den Netizens eine Macht gibt, die vorher nur Journalisten hatten. Während die Mainstream-Medien in den USA den Menschen nur eine sehr schmale Bandbreite an Themen und Nachrichten bieten, umgehen zahlreiche Netzbürger diesen Filter über das Internet und bringen Aspekte auf die Tagesordnung, die nicht den Interessen der Mächtigen dienen.
So konnten Mitarbeiter der Weltbank im Netz ihre Bedenken zu ihrem damaligen Chef Paul Wolfowitz äußern. Auch der Skandal um den Generalstaatsanwalt Alberto Gonzales, der aus politischen Gründen acht Staatsanwälte entließ, wurde von Bloggern wie TPM Muckraker angeheizt.
Als es zu den Morden an der Virginia Tech kam, diskutierten die Menschen im Netz darüber, wie die sozialen Probleme in den USA dazu führen konnten, dass Menschen so stark isoliert und frustriert werden, dass sie zu einer Gefahr für sich und andere werden. Das Netz hat die Möglichkeiten für den einzelnen Bürger, sich zu äußern, stark erweitert.
J. C. R. Licklider hat das schon früh beschrieben. Er sagte, das Netz könne dabei helfen, die Bürger besser in die staatlichen Entscheidungsprozesse einzubinden. Er glaubte, dass sich die Leute deshalb nicht für Politik interessieren, weil sie keine Möglichkeit haben, an ihr teilzunehmen. Er schrieb: "Es ist von grundlegender Wichtigkeit, dass die Macht der Computer in die Hände der Bürger gelangt, damit diese über politische Entscheidungsprozesse informiert werden und an diesen teilhaben können."
Bei diesen Prozessen stehen wir noch ganz am Anfang. Aber sie werden weitergehen, während immer mehr Menschen Zugang zum Internet bekommen. Die Netzbürger werden ihr Ideal einer direkten Demokratie über das Internet verbreiten.
Das Internet gehört heute zum Alltag vieler Menschen. Die Gesellschaft scheint sich nicht groß verändert zu haben.
Eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung des Netzbürgertums ist der günstige und möglichst breit verfügbare Zugang zum Internet. Das haben viele Korrespondenten von Michael schon 1993 gefordert.
Heute muss ich feststellen, dass sich die US-Regierung zu wenig um die weitere Verbreitung günstiger Breitbandzugänge zum Internet kümmert. Bei der Breitbandanbindung von Haushalten rangieren die USA laut aktuellen Studien etwa auf dem 25. Platz weltweit.
Die Entwicklungen, die unter dem Begriff "Web 2.0" laufen, scheinen mir eher von der Technik getrieben zu sein als von den sozialen Bedürfnissen der Menschen. Besonders neu sind diese Konzepte nicht.
Im so genannten Web 2.0 versuchen viele Unternehmer, Geld mit kostenlos generierten Inhalten anderer Leute zu machen. Ein früher solcher Fall war der Kauf der 500 Millionen Usenet-Postings im Archiv der Firma Deja News durch Google im Jahr 2001.
Ich glaube immer noch, dass Google gegenüber den Usenet-Nutzern in der Schuld steht und ihnen erklären sollte, was sie mit den Postings machen. Nachdem ich für Telepolis einen kritischen Artikel darüber geschrieben hatte, wurde ich zu Gesprächen nach Stanford und in die Unternehmenszentrale von Google eingeladen. Man hatte mir gesagt, dass jemand von Google mit mir über meine Sicht der Dinge sprechen würde, beispielsweise über den Dialog zwischen Google und der Usenet-Gemeinde.
Der Gesprächspartner auf Seiten Googles fragte mich dann, was ich von ihnen erwarten würde. Ich sagte ihm, Google solle zuallererst nicht mehr behaupten, die Usenet-Postings zu besitzen. Sie hatten unter jedes Posting ihr Copyright gesetzt. Daraufhin brach Google die Gespräche mit mir ab.
Seither hat Google einige Änderungen in seinem Umgang mit Usenet-Postings gemacht. Aber es gibt immer noch keinen Dialog zwischen Google und den Nutzern. Aber die Art, wie Google mit den Newsgroups umgeht, beeinflusst das Usenet, also wäre es wichtig, diesen Dialog stattfinden zu lassen.
Google und andere Unternehmen arbeiten vor sich hin, ohne zu verstehen, dass sie mit ihren Nutzern über ihre Aktivitäten reden müssen.
(futurezone | Günter Hack)