Bild: Tale of Tales

Computerspiele für Romantiker

19.08.2007

Michael Samyn und Auriea Harvey schreiben zauberhafte Online-Spieleumgebungen, in denen sie Erzähltraditionen des 19. Jahrhunderts fortführen wollen. Sie stehen für die neue lebendige Medienkunstszene im flämischen Teil Belgiens.

Sie haben sich im Netz kennengelernt und seither beschlossen, gemeinsamen Source-Code zu machen. Als Entropy8Zuper.org gehörten sie zu den Pionieren der Netzkunst, gewannen den Webby Award und "schockierten" das Publikum mit dem längsten Zungenkuss, der je auf der Bühne einer Preisverleihungszeremonie ausgetauscht wurde.

Nun produzieren Michael Samyn und Auriea Harvey unter dem märchenhaften Namen Tale of Tales vernetzte Multiplayer-Games. Dabei verlassen die in Gent, Belgien, ansässigen Künstler die gewohnten Pfade der Industrie und bieten Sprungbretter für die Fantasie an.

"Endless Forest" läuft derzeit nur auf Windows-Systemen.

Endlose Wälder

Ihr neuestes Spiel heißt "Endless Forest". Sie bezeichnen es als einen "Social Screensaver", den man herunterladen und installieren kann. Sobald der Rechner in den Ruhemodus übergeht, findet sich der Spieler als eine Art magisches Rotwild in dieser Welt eingeloggt wieder. Alle Spieler erscheinen dort in dieser Form.

Die Spielfiguren können keinen Laut von sich geben, zum Ausgleich dafür stehen ihnen viele Ausdrucksmöglichkeiten durch Körpersprache zur Verfügung. Es gibt keine Mission zu erfüllen, keine Grausamkeiten, keine Regeln, außer dass man alleine oder mit anderen durch den Zauberwald streift.

Die Schöpfer des Spiels erscheinen in dieser Welt als Götter, lassen Sterne regnen oder Blumen explodieren und verleihen Spielern auch mal Zauberkräfte.

Bild: Tale of Tales

==Publikum schreibt Geschichten weiter==

Das Künstlerpaar, obwohl an modernen Ausdrucksformen geschult, gibt an, eher von der Kunst des 19. als des 20. Jahrhunderts inspiriert zu sein.

Deshalb seien ihre Arbeiten figurativ und narrativ, romantisch und verspielt. Inhaltlich geht es ihnen vor allem darum, bestimmte Formen sozialen Verhaltens zu triggern, normfrei und kollaborativ. Ganz im Sinne dieser Mission haben sie ein Wiki eingerichtet und kommunizieren dort mit der wachsenden Community.

Auriea Harvey zeigt sich im Interview erfreut, "dass das Publikum die Geschichten weiterschreibt, Ideen und Vorschläge entwickelt, Fan-Art macht, dass die Leute ausdrücken, wie sehr sie diese Welt schätzen."

Freie Kommunikation bevorzugt

Tale of Tales blieben der frühen Ethik der Netzkunst treu und wollen lieber im öffentlichen Raum des Netzes direkt mit ihrem Publikum interagieren als in einer Kunstsammlung hinter verschlossenen Türen landen. Folgerichtig versuchen Samyn und Harvey, auch finanziell ein Modell zu entwickeln, das es ihnen erlaubt, von der Community unterstützt zu werden.

"The Endless Forest" befindet sich noch im Betastadium, Samyn und Harvey programmieren ständig neue Features für das System. Parallel arbeiten sie an zwei weiteren Spielen, die als Sequels angelegt sind, "8" und "The Path". "8" handelt von einem taubstummen Mädchen, das durch den Palast der schlafenden Schönheit wandelt. "The Path" handelt von demselben Mädchen, das, nun etwas älter, als eine Art Rotkäppchen erscheint.

Einstieg auf dem Spielemarkt

Mit "The Path" wollen Tale of Tales erstmals den Markt der kommerziellen Spiele betreten. Gleichzeitig bleibt dem Duo der Erfolg in der Kunstwelt nicht versagt. Derzeit sind ihre Arbeiten in einer Personale in der Cyberlounge des Tamayo Museum of Contemporary Art in Mexico-Stadt zu sehen, ebenso wie in der Ausstellung Gameworld im Laboral Art Center in Gijon, Spanien.

Medienkunst in Belgien

Tale of Tales sind Teil einer zunehmend lebendigen Medienkunstszene im flämischen Teil Belgiens. Dort hat die Regierung aus Fehlern anderer gelernt und fördert statt großer Bauten lieber ein Netzwerk aus gewachsenen Künstlergruppen und Designkollektiven wie Constant, Foam und Okno, die an den Schnittstellen Kunst, freie Software, Open Source, freie Netze und Gesellschaft arbeiten.

Das innovative Fördermodell ist nicht zuletzt auf den Einfluss der Lobby-Organisation Digitaal Platform zurückzuführen, die als Vermittlungsstelle und Moderation zwischen den digitalen Künsten und der Regierung dient.

Heute in "matrix"

Die genannten Künstler werden ebenso wie das belgische Modell zur Förderung von Medienkunst heute um 22.30 Uhr ausführlich in der Sendung "matrix" in Ö1 vorgestellt.

(matrix | Armin Medosch)