Plädoyer für das Vergessen

05.09.2007

Zum Auftakt der Ars Electronica hat Harvard-Professor Viktor Mayer-Schönberger vor österreichischen Richtern eine Eröffnungsrede der ungewöhnlichen Art gehalten: Er warnte davor, dass in Zeiten der unbegrenzten Datensammlungen die Gesellschaft drohe, verrückt zu werden.

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"Vergessen ist einfach, Erinnern ist schwer" - weder die Einführung von Sprache, Malerei und Schrift noch später von Buchdruck, Phonograph und auch TV habe im Verlauf der menschlichen Entwicklung daran Grundlegendes geändert, sagte Mayer-Schönberger in seiner Eröffnungsrede zur diesjährigen Ars Electronica in Linz.

Es war eine äußerst ungewöhnliche Keynote, die ein Jurist für Juristen da am Mittwoch hielt, denn gesprochen wurde sie vor dem Symposion der Vereinigung österreichischer Richterinnen und Richter, dem Auftakt zur diesjährigen Ars.

"Google erinnert sich"

"Heute ist das anders. Google erinnert sich. Yahoo und Amazon erinnern sich an uns", sagte der aus Salzburg stammende Harvard-Professor, der Anfang der 90er Jahre ein Wiener Software-Unternehmen führte.

Im Unterschied zu uns selber könne etwa jedes Flugbuchungssystem über unsere vergangenen Reisen genau Auskunft geben, aufgezeichnet blieben sogar die Pläne vergangener, nicht durchgeführter Reisen.

Produktive Schreibmönche

Aus dem biologischen Vergessen, das die gesamte menschliche Geschichte geprägt habe, sei nun ein schier "ewiges Erinnern geworden".

Während wir selbst eine Einzelheit nach der anderen langsam vergäßen, erinnerten sich die Systeme minuziös und dauerhaft an alles, was über jeden Einzelnen gespeichert sei.

Zu Zeiten, in denen es ein produktiver Schreibmönch in seiner Lebenszeit gerade einmal auf 20 kopierte Bücher brachte, sei "Erinnern mit Bedacht eingesetzt" worden. Speicherung von was auch immer in Wort oder Bild sei eben teuer gewesen. Ganz abgesehen davon, dass die gespeicherte Information dann nur einem winzigen Kreis von Auserwählten zugänglich wurde.

Faktor 10.000

Dem stellte Mayer-Schönberger die technische Entwicklung auf dem Speichersektor der letzten 20 Jahre gegenüber, in denen der Preis für dieselbe Speicherdichte um den Faktor 10.000 gefallen ist.

Damit sei die Bahn frei geworden, alles und jedes aufzuzeichnen und zeitlich nahezu unbegrenzt aufzubewahren, ebenso habe der technische Fortschritt die einfache Wiederauffindbarkeit aller gespeicherten Informationen mit sich gebracht. Ein Beispiel: 80.000 Terabyte an Daten, über die allein Google mittlerweile verfügt.

Der Paradigmenwechsel

"Es ist ein Paradigmenwechsel", der nicht nur die Privatsphäre jedes Einzelnen gefährde, sondern die "Sanity", also den Geisteszustand. Die Fähigkeit des Vergessens sei eines der wichtigsten Merkmale der Conditio humana, des Menschen an sich - wer nicht vergessen könne, werde verrückt.

Die seit den 70er Jahren eingeführten Datenschutzgesetze mit ihren Beschränkungen zu Speicherdauer und Verwendungszweck hätten daran nichts ändern können.

Unwirksame Datenschutzgesetze

Wie die Erfahrungen der letzten zehn Jahre in Deutschland zeigten, hätten auch die erweiterten Auskunfts- und Einsichtsrechte für den betroffenen Bürger in der Praxis nichts bewirkt, so Mayer-Schönberger.

Die Auskunftsrechte seien schlichtweg nicht in Anspruch genommen worden, großteils aus Unkenntnis, aber nicht zuletzt auch wegen des Zeitaufwands und der damit verbundenen Kosten.

Die Komplizenschaft

Zudem zeichne sich in Bezug auf Datensammlungen eine Art Komplizenschaft von Staat und Unternehmen weltweit immer deutlicher ab.

Um später selbst Zugriff auf neu erstellte Datensammlungen Privater zu erhalten, sähen Staatsorgane zunehmend davon ab, nachzuprüfen, ob diese Kompilationen überhaupt im Rahmen des Legalen erstellt worden seien.

Das Melderegister und die Juden

Welche Konsequenzen es haben könne, wenn ein zum Terrorregime mutierter Staat plötzlich Zugriff auf eine umfasssende Sammlung persönlicher Daten erhalte, habe das Beipiel der Niederlande im Zweiten Weltkrieg gezeigt.

Im Zeichen der Modernität in der Verwaltung sei dort während der 30er Jahre ein zentrales Melderegister eingerichtet worden.

Da dieses neben Namen und Adresse auch das Datenfeld "Religionsbekenntnis" enthielt, hatten die Nazis nach dem Einmarsch leichtes Spiel. Die Folge sei gewesen, dass die Niederlande von allen überfallenen Ländern nach dem Krieg prozentuell den höchsten Anteil an ermordeten jüdischen Staatsbürgern aufwiesen.

"Wiedereinführung des Vergessens"

Was also tun, wenn sowohl technische wie legistische Maßnahmen wie Zweckbindung und Löschungsnormen in 20 Jahren so gut wie nichts zur notwendigen "Wiedereinführung des Vergessens in die Gesellschaft" beitragen konnten?

Die Antworten Mayer-Schönbergers darauf lassen sich mit wenigen Schlagworten zusammenfassen: Aufklärung der Bürger, Stärkung der Grundrechte des Einzelnen sowie "Informationsökologie".

"Ablaufdatum für Daten"

Zum einen sei "nur eine Gesellschaft mit starken Grundrechten langfristig stark und wehrhaft" genug, zu verhindern, dass die persönlichen Daten ihrer Bürger so furchtbar missbraucht würden, wie es die Vergangenheit gezeigt habe.

Mit "Informationsökologie" meine er, so Mayer-Schönberger abschließend, dass die Einführung einer Art von "Ablaufdatum für Daten" diskutiert werden müsse, um den Normalzustand der menschlichen Existenz wiederherzustellen: "Vergessen ist einfach, Erinnern ist schwer."

(futurezone | Erich Moechel)