Überwacht und aussortiert
Für den Soziologen David Lyon ist Überwachung immer auch eine soziale Klassifikation. "Wir werden heute in fast allen Bereichen unseres Lebens identifiziert und sortiert", sagt er im Gespräch mit ORF.at
Wer schon einmal bei einem Anruf beim Kundendienst mehr als zehn Minuten in der Warteschleife gehangen ist, wird sich möglicherweise darüber geärgert haben, dass das Callcenter nicht genug Mitarbeiter bereit stellt um Kundenanrufe zu beantworten. Schuld könnte jedoch der Anrufer selbst sein.
Weil er nicht im Wiener Nobelbezirk Döbling, sondern im vergleichsweise armen Wiener Bezirk Simmering wohnt und weil seine durch Telekommunikationsdaten errechneten geodemografischen Merkmale ihn daher für ein Leben in der Warteschleife prädestinieren: "Vielen Dank für ihren Anruf, leider sind gerade alle unsere Leitungen besetzt."
Alltag in der Überwachungsgesellschaft
Solche Systeme der Identifiikation und sozialen Klassifikation gehören heute zum Alltag. Sie bestimmen nicht nur die Qualität des Services, das Unternehmen ihren Kunden zukommen lassen, sondern haben auch Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Chancen und Möglichkeiten des Einzelnen, sagte Lyon am Freitag beim Symposium "Goodbye Privacy" bei der Ars Electronica in Linz.
Durch die zunehmende Technisierung und Automatisierung, meinte Lyon, habe die Überwachung eine neue Qualität erreicht. ORF.at sprach mit Lyon über die Gefahren computerunterstützter Überwachung, den Modellfall Google und Strategien gegen die automatisierte Überwachung.
David Lyon leitet das "Surveillance Project" an der Queens University in Ontario, Kanada und ist Mitherausgeber des Online-Magazins Surveillance & Society.
ORF.at : Was sind die Gefahren moderner Überwachungssysteme?
Lyon: Es ist wichtig, dass wir uns darüber bewusst werden, dass Überwachung permanent stattfindet. Wir werden heute in fast allen Bereichen unseres Lebens identifiziert und sortiert. Bei allen unseren Kontakten mit Regierungsstellen oder Unternehmen werden Daten gesammelt.
Wichtig ist aber, was mit diesen Daten passiert. Das Erstellen von Profilen anhand dieser Daten, das Data-Mining, macht den Unterschied.
Unsere gesellschaftlichen Möglichkeiten werden von der automatisierten Auswertung dieser Daten massiv beeinflusst. Es ist eine Tatsache, dass all das ohne unsere Wissen passiert und diese Prozesse nicht transparent gemacht werden.
Das Problem ist auch, dass selbst die Leute, die diese Daten sammeln, selten über die Auswirkungen der Überwachung auf den Einzelnen nachdenken.
ORF.at: In ihrem Vortrag haben Sie den Suchmaschinenbetreiber Google als Modell für die neue Überwachung bezeichnet.
Lyon: Google veranschaulicht diese Überwachungssysteme sehr gut. Wir gehen zu Google, weil wir Informationen suchen.
Google analysiert die Informationen, etwa durch ihre Vernetzung mit anderen Informationen, sortiert sie und reiht sie nach Relevanz. Die Art und Weise wie das passiert, bestimmt unsere Wahlmöglichkeiten. Genauso funktionieren auch andere Formen der Überwachung.
Gleichzeitig ist Google selbst ein mächtiges Überwachungswerkzeug, indem es die Daten seiner Nutzer lange Zeit speichert und auswertet.
Google war zuletzt wegen der Speicherung von Suchabfragen ins Visier der EU geraten. Das Unternehmen kündigte darauf hin an, künftig gespeicherte Suchabfragen nach 18 Monaten anonymisieren zu wollen.
ORF.at: Staatliche Überwachungsmaßnahmen werden zunehmend mit Daten verschränkt, die von Unternehmen gesammelt werden.
Lyon: Wir müssen Überwachung in einem breiteren politischen, ökonomischen und kulturellen Kontext sehen. Die Rolle des Staates hat sich vom Wohlfahrtsstaat zum Sicherheitsstaat gewandelt. Das ist eine wesentliche Veränderung, die auch Einfluss auf die Aktivitäten des Staates hat.
Bei vielen staatlichen Maßnahmen steht immer öfter nicht mehr der Nutzen für die Allgemeinheit im Vordergrund, sondern das Kriterium der Risikominimierung.
ORF.at: Welche Möglichkeiten gibt es, in diese automatisierten Überwachungsprozesse einzugreifen?
Lyon: Zum einen geht es darum, Bewusstsein für diese Überwachungsmaßnahmen zu schaffen, um Leute dafür zu sensibilisieren, was passieren kann, wenn sie etwa Formulare ausfüllen oder wenn ihre Telefonnummer abgefragt wird. Es ist auch die Aufgabe der Sozialwissenschaften und der Medienkunst, diese Prozesse zu veranschaulichen, die im Wesentlichen unsichtbar ablaufen.
Zum anderen muss auch auf die großen Unternehmen und eingewirkt werden. Es ist nicht so, dass wir in der Lage wären, diese Art der Überwachung zu beenden, aber wir können uns einmischen und dadurch sicherstellen, dass die Klassifikationsprozesse transparent gemacht werden und nach fairen und gesellschaftlich verträglichen Kriterien ablaufen.
Weitere Berichte zur Ars Electronica:
(futurezone | Patrick Dax)