Mit Nummern wird der Staat gemacht
Der Wiener Historiker Anton Tantner hat sich damit beschäftigt, wie die österreichischen Städte und Dörfer zu ihren Hausnummern gekommen sind. Er beschreibt, wie der moderne Staat sich selbst konstruiert, indem er Menschen und Häuser erfasst.
In diesen Tagen wird es offensichtlich, dass moderne Staaten nichts lieber zu tun scheinen, als ihre Bürger in verschiedensten Systemen zu erfassen und zu klassifizieren.
In der Bildungsevidenz speichern die Behörden schon die Leistungen der jüngsten Schüler ab, der mit biometrischen Merkmalen versehene Reisepass markiert den mobilen Menschen und hält ihn dem behördlichen Zugriff verfügbar, mit Hilfe der Vorratsdatenspeicherung möchten die Sicherheitsorgane vorsorglich auch die Spuren von Bürgern sichern, die niemals ein Verbrechen begehen werden. Man kann ja nie wissen.
Die Welt bewegt sich - leider
Leider kann man wirklich nie wissen. Das wird auch bei der äußerst kurzweiligen Lektüre von Tantners "Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen" klar. Um die Kontrolle über ihre Untertanen und deren Besitz verstärken zu können, muss die Habsburgermonarchie einen beachtlichen Aufwand betreiben, nur um regelmäßig festzustellen, dass die Zahlen doch nicht die Realität widerspiegeln.
Menschen werden geboren, ziehen weg und sterben. Sogar komplette Häuser können wandern, wie Tantner in einem kurzen Abschnitt über die Schiffsmühlen auf der Donau feststellt.
Was bleibt, ist eine umfangreiche Kontrollbürokratie, die unterhalten und beschäftigt werden will. In besagtem Buch kommt Tantner zu dem Schluss, dass die Habsburgermonarchie zur Zeit Josephs II. auf die Konstruktion eines militärischen Wohlfahrtsstaates hinarbeitete. Der Staat, so Tantner, erschafft sich in der Zählung seiner Untertanen selbst, er schließt gleichzeitig ein und klammert aus.
Indem er die Geschichte dieser Erfassungsversuche erzählt, schreibt Tantner gleichzeitig über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Österreichs. Und er zeigt, wie dünn die Grenze zwischen Untertan und Bürger sein kann.
Der 1970 geborene Wiener Historiker Tantner befasst sich hauptsächlich mit der Entstehung von Klassifizierungs- und Adressierungsmethoden in der frühen Neuzeit. Derzeit arbeitet er im Rahmen eines Forschungsprojekts an einer Geschichte der frühneuzeitlichen Adressbüros, die er als Vorläufer der heutigen Suchmaschinen im Internet betrachtet.
ORF.at: Herr Tantner, warum haben Sie sich mit Hausnummern beschäftigt?
Tantner: Einer meiner Ausgangspunkte war das Buch "Überwachen und Strafen" von Michel Foucault. Darin geht es um die Beziehungen zwischen Wissen und Macht. Foucault beschreibt darin die Situation des Gefängnisses im 18. Jahrhundert. In einer Fußnote merkt er an, dass sich die Historiker noch nicht ausreichend mit dem Phänomen der Karteikarte beschäftigt hätten.
Naturforscher haben Karteikarten im 18. Jahrhundert verwendet, dann folgten auch die Polizei und die Bibliotheken. Ich habe mich davon ausgehend nicht mit der Karteikarte beschäftigt, sondern mit einem ähnlichen Phänomen, das mich fasziniert hat, und zwar mit der Hausnummer, die auch eine charakteristische Innovation des 18. Jahrhunderts ist, eines Zeitalters, das von der Klassifikation besessen ist, von Ordnung und vom Nummerieren. Es wird alles nummeriert im 18. Jahrhundert, ob das Sternennebel, Spitalsbetten, Polizisten oder eben Häuser sind.
ORF.at: Wie kam es zur Einführung von Hausnummern in Europa?
Tantner: Es gab mehrere Gründe dafür, Hausnummern einzuführen. Es ging aber zunächst nicht darum, den Menschen die Orientierung zu erleichtern. Sie sind zuerst aus militärischen Gründen eingeführt worden, um die Einquartierung von Soldaten zu erleichtern. Das war in Frankreich und Preußen der Fall.
In der Habsburgermonarchie wollte der Staat die Rekrutierung von Soldaten verbessern. Es ging dem Staat auch darum, die Steuern besser einheben zu können. In der Habsburgermonarchie hat man in den 1760er Jahren eine Steuer eingeführt, die sogenannte Schuldensteuer, die nicht genügend Ertrag gebracht hat. Daraufhin ist man auf die Idee gekommen, dass man doch die Häuser nummerieren könnte.
Damit wäre es einfacher zu kontrollieren, ob auch alle Bewohner dieser Häuser ihre Steuern bezahlt haben. Ein weiteres Argument war dann noch, dass es die Verbrechensbekämpfung erleichtern würde. Es wäre mit den Hausnummern einfacher, liederliche Menschen ausfindig zu machen.
ORF.at: Aber vor allem ging es um das neue Rekrutierungssystem.
Tantner: In der Habsburgermonarchie hängt die Hausnummerierung mit dem Konskriptionssystem zusammen, also mit der Rekrutierung von Soldaten.
Gleichzeitig mit der Häusernummerierung hat der Staat 1770/1771 auch eine Volkszählung vorgenommen. Dabei wurden die Frauen nur gezählt, die Männer aber namentlich registriert. Man hat bei den Männern auch in Tabellen erfasst, wie groß sie sind, ob sie körperlich für den Militärdienst geeignet sind oder nur für Fuhrdienste oder ob sie ganz untauglich sind.
Man hat auch bei Söhnen, die gerade auf Wanderschaft waren, erfasst, wo diese sich gerade aufhielten. Damit hat man versucht, den Kreis der potenziellen Rekruten zu vergrößern. Auch wenn die Entscheidung, wer eingezogen wird, letztendlich bei der Grundherrschaft gelegen ist, nicht beim Militär selbst. Man konnte aber dann zentral festlegen, wie viele Männer man einziehen wollte. Es wurde einfacher, auf die Männer zuzugreifen.
ORF.at: Welches System gab es denn vorher?
Tantner: Bevor sie nummeriert wurden, hatten die Häuser Namen. In Dörfern war dies meistens der Hofname, der aber nicht dem Familiennamen des Bauern entsprechen musste, der ihn bewohnt hat.
Nach diesen Hofnamen haben sich wiederum häufig die Knechte benannt. Die haben gar nicht ihren Zunamen verwendet, sondern sich den Hofnamen zugelegt. Den haben sie auch geändert, wenn sie auf einen anderen Hof gewechselt sind.
In Städten gab es Hausnamen wie "Zum goldenen ABC" und "Zum Elefanten", die oft auf Schildern an den Häusern angebracht waren. Das wurde spätestens dann zum Problem, wenn es in einer Stadt mehrere Häuser mit demselben Namen gegeben hat. Es existierten in Wien mehrere Häuser, die "Zum goldenen Adler" hießen. Man konnte sie verwechseln. Mit der Hausnummerierung wurde dieses Problem gelöst.
ORF.at: Sie schreiben in Ihrer Dissertation, dass die Häuser durch die Nummerierung für den Staat "transparent" wurden.
Tantner: Das Haus wird damit sozusagen für staatliche Begehrlichkeiten geöffnet, während davor vor allem die Grundherrschaften, also die Machtinstanzen, die sich in der Nähe der Bewohnerinnen und Bewohner befanden, das Wissen davon hatten, wer sich wo befindet.
Dieses Wissen ist bis zur Hausnummerierung dem Staat nur sehr schwer zugänglich. Es kommt damit zu einer Verstaatlichung von Adressierungswissen. Das Haus wurde transparent und offen für die Beamten des Staates, für Steuereintreiber und Rekrutierungsoffiziere.
ORF.at: Also ging es darum, der Zentrale mehr Macht zu geben.
Tantner: Wenn man sich fragt, was den Staat eigentlich ausmacht, dann kommt man natürlich schnell auf das Militär zu sprechen, auf diese großen Bewegungen hin zu einem stehenden Heer im 18. Jahrhundert.
Aber das Militär allein zu betrachten reicht nicht aus. Ein Staat definiert sich eben auch durch diese unscheinbaren Praktiken wie die Häusernummerierung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird die Habsburgermonarchie kartographisch erfasst, vor allem durch das Militär und durch die Erstellung eines Katasters, der die effizientere Besteuerung des Grundes ermöglichen soll.
Das sind drei große Aktionen, die relativ zeitnah zueinander zur Regierungszeit Maria Theresias und Josephs II. abgelaufen sind. Also: die Landesaufnahme - die kartographische Erfassung -, dann die Erstellung des Katasters und drittens die Seelenkonskription, also die Erfassung der Bevölkerung, mit der wiederum die Hausnummerierung einhergeht. Das sind Praktiken, die den Staat definieren. Wer das Recht hat, Menschen zu zählen, zu identifizieren, zu erfassen, der kann einen Staat errichten.
ORF.at: "Einen Staat machen", das ist eine Wendung, die in den von Ihnen zitierten Quellen recht häufig vorkommt.
Tantner: Der Staat erschafft sich durch die Herstellung solcher Tabellen, auf die die Beamten zugreifen können und die sie für ihre politischen Berechnungen verwenden, was dann im 19. Jahrhundert mit dem Siegeszug der Statistik noch intensiviert wird.
Der Staat dringt dadurch viel stärker in das alltägliche Leben der Bevölkerung ein als vorher. Dadurch, dass die Konskriptionskommissionen 1770 durch die Dörfer ziehen, werden die Menschen mit den Behörden direkt konfrontiert.
ORF.at: Kommen hier die "politischen Anmerkungen" ins Spiel, von denen Sie schreiben? Also die Berichte, die die Militärs erstellen und an den zivilen Behörden vorbei an den Hofkriegsrat in Wien schicken?
Tantner: Was macht die identifizierte Bevölkerung damit, dass da auf einmal Militärs da sind? Sie reagieren nicht nur passiv als Objekte der Beschreibung, sondern sie kommen auch darauf, dass man diese Militärs als eine Art Klagemauer benützen kann.
Man kann ihnen von der Bedrückung durch die Grundherrschaft erzählen, von den Fron- und Robotdiensten. Man kann sie ihnen mitteilen und dann hoffen, dass sie an die Zentrale weitergeleitet werden. Was auch wirklich geschieht. Es kommt dazu, dass die Soldaten, die im Rahmen der Konskription durch die Städte und Dörfer ziehen, die Leute zu ihrer sozialen Situation befragen.
Sie verfassen darüber Berichte, die länderweise zusammengefasst und schließlich der Staatsspitze vorgetragen werden. Viele der Themen, die damals, Anfang der 1770er Jahre, in diesen Berichten erwähnt werden, werden dann auch zu Themen der josephinischen Reformen: Bauernbefreiung oder auch Aufhebung der Klöster, Pfarreinteilungen.
ORF.at: Warum haben die Staaten ausgerechnet im 18. Jahrhundert mit der Nummerierung von Häusern begonnen?
Tantner: Ab dem 18. Jahrhundert wird die Herrschaft zunehmend abstrakt. Vorher war das Wissen darüber, wer sich wo aufhält, eher in persönlichen Netzwerken vorhanden. Wie findet man sich in einer Stadt zurecht, in der es keine Hausnummern gibt?
Man geht in das nächste Wirtshaus und fragt sich durch, und es funktioniert, weil jeder jeden kennt. Die Anonymität, die das Charakteristikum für moderne Städte und moderne Gesellschaften ist, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht stark ausgeprägt. Man weiß voneinander, über Dorfklatsch, über persönliche Beziehungen. Man kann informell aufeinander zugehen. Das abstrakte Element gibt es vorher noch nicht.
ORF.at: Hat es eine Krise des informellen Systems gegeben?
Tantner: Um die großen Heere des 18. Jahrhunderts bis hin zu den Revolutionskriegen um 1800 ausheben und führen zu können, brauchte man neue Methoden. Die stehenden Heere bilden sich zu dieser Zeit ja erst heraus.
Nicht mehr die Grundherrschaften rekrutieren die Soldaten, sondern staatliche Stellen, die auch das Geld dafür brauchen. Man hat ja gesagt, dass es sich bei absolutistischen Staaten vor allem um Steuer- und Militärstaaten gehandelt hat. In den letzten Jahren hat man in den Geschichtswissenschaften den Begriff des Absolutismus allerdings zunehmend infrage gestellt.
ORF.at: Das wird auch in Ihrem Buch sichtbar. Die Monarchen können nicht einfach auf alle Ressourcen durchgreifen. Sie müssen überraschend viel Rücksicht auf die Stände, auf das Militär und auch auf das "Volck" nehmen.
Tantner: Es ist ja nicht so, dass der Monarch alles tun kann, was er will. Das gilt nicht nur für die Habsburgermonarchie, sondern auch für Frankreich, das unter Ludwig XIV. als Paradebeispiel für einen absolutistischen Staat gilt.
Natürlich haben auch die Stände und die Adeligen viel mitzureden. Machtansprüche des Zentrums können oft nur gegen viele Widerstände durchgesetzt werden. Wenn man die Durchgriffsmöglichkeiten der Behörden im 18. Jahrhundert mit jenen heutiger staatlicher Organe vergleicht, dann ist heute natürlich viel mehr möglich. Es ist heute schwieriger, der Besteuerung zu entgehen, als im 18. Jahrhundert.
ORF.at: Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die zunehmende Erfassung und Identifikation der Bürger über biometrische Merkmale, also beispielsweise über die im E-Pass gespeicherten Fingerabdrücke?
Tantner: Die Hausnummern haben sich gegen zahlreiche Widerstände durchsetzen können, weil die Bevölkerung sie sich für ihre eigenen Zwecke hat aneignen können, also für die Orientierung. So wurde kurz nach Einführung der Hausnummen in Wien die "kleine Post" gegründet, die innerhalb Wiens für professionellen Briefverkehr gesorgt hat. Die Hausnummern waren praktisch und konnten nicht nur für staatliche Zwecke genutzt werden.
Man kann sich jetzt natürlich bei den biometrischen Daten fragen, welche Aneignung hier durch die Bevölkerung stattfinden könnte. Aber zumindest bei der Handyortung gab es ja auch einmal ein Angebot für Privatleute. Man konnte sich anzeigen lassen, wo sich die Freunde befinden. Da hatte dann nicht mehr nur der Provider oder die Polizei den Zugriff auf die Daten, sondern auch die normalen Benutzer.
Man muss sich immer fragen, welche Möglichkeiten der Aneignung diese neuen Kontrolltechniken bieten. Es gab ja auch diese TV-Show "Big Brother", deren Teilnehmer sich einer verschärften Kontrollsituation ausgesetzt haben, um für zehn Minuten zum Star zu werden.
ORF.at: In Deutschland soll ja der Personalausweis mit einem Chip ausgestattet werden, in dem die Fingerabdrücke gespeichert sind. Der Personalausweis soll dann auch für die Identifikation gegenüber E-Government-Anwendungen benutzt werden können, was dem Bürger vielleicht Wege ersparen hilft.
Tantner: Staatsbürger zu sein und die entsprechenden Rechte genießen zu können bedeutet natürlich auch, identifizierbar zu sein. Ich frage mich, welche Form von Staatsbürgerschaft mit den neuen Kontroll- und Überwachungstechniken entstehen wird. Welche Regierungs- und Partizipationsformen implizieren sie?
Anton Tantner: "Policeyliche Hausbeschreibungen als Maßnahmen gegen fremde Bettler/innen in der Habsburgermonarchie", veröffentlicht online als: PoliceyWorkingPapers. Working Papers des Arbeitskreises Policey/Polizei in der Vormoderne 13, 2007.
ORF.at: Sie schreiben, dass sich im 18. Jahrhundert viele Männer der Konskription durch Flucht entzogen haben. Der Staat wollte das verhindern.
Tantner: Das Militär hat die Männer bei der Volkszählung dann einfach im Ungewissen darüber gelassen, ob sie eingezogen werden oder nicht. Das Argument dafür war, dass die Rekrutierung dann gerechter ablaufen würde als im Siebenjährigen Krieg.
Die Rekrutierung ist aber weiterhin ungerecht geblieben, weil bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Adelige oder Geistliche vom Militärdienst befreit waren. Man konnte sich auch mit Geld vom Militärdienst freikaufen.
Der Reichtum eines Staates im 18. Jahrhundert hängt sehr stark von seiner Bevölkerungszahl ab. Je mehr Menschen es gibt, desto reicher ist der Staat. Deswegen entwickeln manche Offiziere auch so etwas wie eine Sorge um die physische Beschaffenheit der Bevölkerung. Sie monieren etwa, dass Kinderarbeit den Nachwuchs verkrüppeln lässt, weswegen man sie nicht mehr zum Militärdienst brauchen könne. Man solle die Kinder lieber in die Schule schicken.
ORF.at: Es hat ja lange gedauert, um die Volkszählung und die Hausnummerierung durchzusetzen. Es hat mehrere Anläufe dazu gegeben, der Staat hat mehrere Jahre dazu gebraucht. Was hat das mit den Leuten gemacht?
Tantner: Der Staat und seine Behörden sind damit tiefer in den Alltag der Menschen eingedrungen. Es ist kein Zufall, dass die Heeresverfassung gerne im Zusammenhang mit der Entwicklung des politischen Systems gesehen wird. Für Athen hat man argumentiert, dass Änderungen in der Kriegsführung die Entstehung der Demokratie begünstigt haben.
Als die Schildträger wichtiger wurden, gab es zumindest für die Männer mehr Mitspracherechte. Diejenigen, die zum Militär eingezogen werden können, erhalten eine Teilhabe am Staat. Die breitere Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert weist natürlich auch auf das allgemeine Wahlrecht hin.
ORF.at: Das bedeutet, dass es auch ein Identitätsangebot seitens des Staates ist: "Wenn ihr euch nummerieren lasst, dann gehört ihr auch dazu."
Tantner: Das ist sicherlich wichtig, dass man das nicht als von oben verordneten Prozess betrachtet, sondern auf die Wechselwirkungen zwischen Behörden und Bevölkerung Rücksicht nimmt. Bis zu den Revolutionskriegen spielt allerdings der Nationalismus noch keine so große Rolle.
Das ist das große Thema des 19. Jahrhunderts. Das Thema der Identifikation der Bürger mit dem Staat ist in der Habsburgermonarchie schwierig. Der Staat versucht dann eben, die Identifikation über die Abwehr äußerer Feinde herzustellen.
Also: Wir kämpfen gegen Napoleon, gegen den Erbfeind Frankreich, wir sind Patrioten. Übrigens war "Nationalität" bei der Volkszählung im 18. Jahrhundert überhaupt kein Kriterium. Es ging eher um die Religionszugehörigkeit, wobei die schärfste Trennlinie zwischen Juden und Christen verläuft.
ORF.at: Weil die Juden nicht kämpfen dürfen?
Tantner: Der Staat nimmt die Juden als fremd wahr. Ihre Häuser werden mit anderen Hausnummern versehen als jene der Christen. Die Häuser der Christen bekommen arabische Ziffern, die Häuser der Juden werden mit römischen Zahlenzeichen markiert.
Unter Joseph II. kommt dann die Diskussion auf, ob nicht Juden auch zum Militärdienst eingezogen werden sollen. Am Ende "durften" sie dann Dienst als Fuhrknechte leisten.
ORF.at: Vielleicht hat die gegenwärtige Tendenz hin zu mehr staatlicher Kontrolle auch etwas mit der Entgrenzung unserer Lebenswelt zu tun. Mobilität ist erstrebenswert, aber birgt auch ein gewisses Maß an Bedrohlichkeit.
Tantner: Es gibt gerade in der Frühen Neuzeit einen großen Anteil an nichtsesshafter Bevölkerung. Das vom Staat vermittelte Ideal ist aber die Sesshaftigkeit.
Die Bettler werden spätestens ab dem 16. Jahrhundert als Bedrohung wahrgenommen. Das mittelalterliche Leitbild, dass man als Christ den Armen spenden soll, um fürs eigene Seelenheil zu sorgen, wird abgelöst durch eine neue Sichtweise. Nach dieser hat man vielleicht noch für die einheimischen Bettler und Armen zu sorgen, die fremden Vaganten sollen aber abgeschoben werden. Auch heute gibt es Veränderungen.
Einerseits fallen die Grenzen innerhalb der EU weg, andererseits will man jetzt die Menschen nicht nur an der Grenze kontrollieren können.
Im 18. Jahrhundert waren die Bewegungen der Menschen viel schwerer zu erfassen als heute. Deswegen wollte der Staat im 18. Jahrhundert die Menschen möglichst an einem Ort fixieren. Man führte ein Reiseverbot für Handwerker ein. Diese Verbote wurden aber oft nicht eingehalten. Heute versucht der Staat eher, Bewegungen zu erfassen.
ORF.at: Sie schreiben davon, dass der Staat versucht habe, den Status quo nach der Seelenkonskription "einzufrieren".
Tantner: Man hat wirklich den Eindruck, dass durch die Hausnummerierung, bei der wirklich jedes Haus in jedem Dorf der Reihe nach durchnummeriert wurde, auch der Besitzstand der Monarchie festgelegt wurde.
Der Staat hat aber die Geschwindigkeit der Veränderungen im Hausbestand unterschätzt. Das Geschichtsbewusstsein ist ja erst das große Thema des 19. Jahrhunderts. Im "klassischen" Zeitalter, im 18. Jahrhundert, versucht der Staat noch, starre Einheiten in Tableaus festzuhalten. Allerdings werden auch weiterhin Häuser gebaut und abgerissen.
Man reagiert darauf mit neuen Erfassungsmaßnahmen, die aber mit großem Aufwand verbunden sind. In Wien gibt es immer wieder Umnummerierungen von Häusern, damit die Reihenfolge wieder stimmt. Die Nummerierung nach den einzelnen Straßenzügen kommt ja erst später.
Mehr dazu in science.ORF.at und Ö1
ORF.at: Heute hat sich der Staat damit abgefunden, dass die Menschen mobil sind, und schreibt die Nummer nicht mehr in die Häuser ein, sondern in den Pass.
Tantner: Ja.
Buchpublikationen von Anton Tantner
Tantner, Anton: Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen.
Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie.
[= Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 4]. Innsbruck/Wien/Bozen:
Studienverlag 2007.
Tantner, Anton: Die Hausnummer. Eine Geschichte von Ordnung und Unordnung.
Marburg: Jonas Verlag 2007.
Hochedlinger, Michael/Tantner, Anton [Hg.]: "... Der größte Teil der Untertanen lebt elend und mühselig". Die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habsburgermonarchie 1770-1771.
[= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 8].
Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag 2005.
(futurezone | Günter Hack)