Gaetano: "ICANN muss offen sein"
Im September 2009 läuft der gegenwärtige Vertrag der ICANN mit dem US-Handelsministerium über die Internet-Adressverwaltung aus. ORF.at hat ein Gespräch mit ICANN-Vizedirektor Roberto Gaetano über die Zukunft der Organisation und ihre zentralen Werte geführt.
Gaetano wurde am 3. November auf der ICANN-Sitzung in Los Angeles als stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Internet-Adressverwaltung bestätigt.
ORF.at sprach mit Gaetano, der die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers seit ihren Anfangstagen kennt, über das Verhältnis der Organisation zu den USA und den Vereinten Nationen sowie über neue Perspektiven der Nutzerbeteiligung im Entscheidungsfindungsprozess der ICANN.
Roberto Gaetano
Der 57-jährige italienische Mathematiker und Telekommunikationsexperte Gaetano arbeitet derzeit als "Head of Section for Software and Hardware Services" bei der UNO-Atomenergiebehörde [IAEA], die in der Wiener UNO-City beheimatet ist.
ORF.at: Herr Gaetano, wie sind Sie zur ICANN gekommen?
Roberto Gaetano: Ich habe lange beim europäischen Telekommunikations-Standardisierungsinstitut ETSI gearbeitet. 1997 war ich beim ETSI Berater für Fragen der Internet-Regulierung. In dieser Funktion war ich schon an dem Prozess beteiligt, der zur Entstehung der ICANN führte.
Juni 1999 wurde mir die Stelle als Leiter der IT-Dienste bei der IAEA hier in Wien angeboten. Ich bin dann von der ETSI zurückgetreten und habe damit auch die Welt der ICANN verlassen, weil mein neuer Arbeitgeber kein Interesse an dieser Organisation hatte.
Als die Generalversammlung der Generic Names Support Organization [die ICANN-Unterorganisation, die sich mit generischen Top-Level-Domains wie .com, .edu und .org befasst, Anm.] ins Leben gerufen wurde, haben mir Freunde und Kollegen bei der ICANN den Vorsitz angeboten, und ich bin dann auch dazu gewählt worden.
Man hat mich deshalb gewählt, weil ich eben nicht mit einem der großen Namen im Internet-Geschäft verbunden bin und daher besser zwischen den Gesprächspartnern vermitteln konnte. Ich blieb eineinhalb Jahre in dieser Position, dann bin ich wieder gegangen.
Als der At-Large-Prozess [die erste allgemeine und freie Wahl zum ICANN-Direktorium im Jahr 2000, Anm.] begonnen hat, bin ich vom Nominierungskomitee [NomCom] ins At-Large-Komitee nominiert worden. Ich habe dann drei Jahre lang als Verbindung zwischen Vorstand und At Large gedient und mich am Ende um eine Position als stimmberechtigtes Vorstandsmitglied beworben, die ich auch erhalten habe. Ende 2006 bin ich zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden gewählt und vor ein paar Wochen nochmals in dieser Position bestätigt worden.
ORF.at: Die ICANN hat wiederholt verlautbart, dass sie die Nutzer verstärkt zur Teilnahme ermutigen möchte. Sie haben sich lange mit At Large auseinandergesetzt. Wie sollte diese Beteiligung in Zukunft gestaltet werden?
Gaetano: Die ICANN möchte auch einzelne Nutzer zur Teilnahme an ihrer Arbeit ermutigen, weil wir ein gutes Gleichgewicht zwischen den Ansichten der verschiedenen Interessengruppen brauchen.
Die Arbeit der ICANN gründet sich auf den Konsens der Interessengruppen, und die Nutzer sind eine sehr wichtige Gruppe. Das ALAC [At-Large Advisory Committee] ist derzeit das wichtigste Gremium, über das individuelle Nutzer Vorschläge in die Arbeit der ICANN einbringen können.
Meiner persönlichen Ansicht nach ist die Teilnahme der individuellen Nutzer an der Arbeit der ICANN immer noch unzureichend. Es dauert einfach länger, die einzelnen Nutzer zu organisieren als etwa wirtschaftliche Interessen. Für jemanden, der wirtschaftliche Interessen vertritt, ist es einfacher, seine Teilnahme zu rechtfertigen. So jemand kann sagen: Wir investieren Zeit und Geld in die Teilnahme an ICANN, weil wir für unsere Investition auch etwas zurückbekommen.
Für die einzelnen Nutzer ist das nicht so einfach. Sie haben ja nicht ausschließlich mit dem Internet zu tun. Also ist es für sie schwierig, die Ressourcen für die Teilnahme an ICANN aufzubringen.
ORF.at: Wie kann die ICANN die Teilnahme der individuellen Internet-Nutzer an ihrer Arbeit erleichtern?
Gaetano: Zurzeit sieht die Entwicklung bei At Large so aus, dass man darauf abzielt, die individuellen Nutzer nicht direkt einzubinden. Wir denken daran, Organisationen einzubinden, die die Nutzer repräsentieren können, etwa Konsumentenschützer und Vereinigungen professioneller Internet-Nutzer. Diese Gruppen sind willkommen und können teilnehmen, ebenso wie Organisationen der Zivilgesellschaft oder Menschenrechtsgruppen.
Es ist viel einfacher, diese Gruppen in die Arbeit der ICANN einzubinden, auch wenn es sich dabei um einen repräsentativen Prozess handelt. Bei uns arbeiten auch einige individuelle Nutzer mit, aber nur sehr wenige.
ORF.at: Auf dem letzten Internet Governance Forum in Rio de Janeiro haben prominente brasilianische Politiker die ICANN scharf kritisiert. Sie sagten, die ICANN sei eine US-amerikanische Organisation. Das Internet solle nicht unter der Kontrolle eines einzelnen Landes stehen.
Gaetano: Die ICANN ist in Kalifornien gegründet worden, was bedeutet, dass sie unter kalifornischem Recht steht. Andererseits stammt die Mehrheit der Vorstandsmitglieder nicht aus den USA. Drei von ihnen kommen aus den Vereinigten Staaten und die zwölf anderen aus anderen Regionen der Welt.
Auch die Mitarbeiterschaft der ICANN ist international. Zusätzlich zum Hauptquartier in Marina del Rey haben wir auch Büros in Brüssel und Sydney, also decken wir drei Zeitzonen ab. Unsere Mitarbeiter leben auch in verschiedenen Weltregionen, so dass sie nahe an den Kunden sind. Die ICANN denkt international und multikulturell.
Die grundlegende Frage ist, inwieweit die Tatsache, dass die ICANN in Kalifornien inkorporiert ist, ihre Vorgehensweise beeinflusst, also ob die US-Regierung Macht über ICANN hat. Um diese Frage beantworten zu können, muss ich ausholen. Ich habe, wie gesagt, für das ETSI gearbeitet. Das ETSI wird überall als europäische Institution wahrgenommen, es hat aber auch Mitglieder aus Amerika, Australien und Asien.
Dennoch ist das ETSI eine gemeinnützige Organisation, die in Frankreich angemeldet ist und daher französischem Recht unterliegt. Eine Organisation muss nun einmal irgendwo physisch angemeldet sein. Wir können diese Tatsache aber durch Regeln abmildern.
ORF.at: Der derzeit gültige Vertrag der ICANN mit dem US-Handelsministerium läuft bis zum 30. September 2009. Was kommt danach?
Gaetano: Wir haben eine Übereinkunft mit der US-Regierung. Dazu kommt noch der separate Vertrag der US-Regierung mit der IANA [Internet Assigned Numbers Authority, Anm.] über die Verwaltung des DNS-Root-Servers, der auch regelmäßig erneuert wird. Die IANA gehört zur ICANN, aber dieser Vertrag hat mit der Übereinkunft nichts zu tun.
Diese Übereinkunft der USA bezieht sich auf einen gemeinsam definierten Pfad, der - im Rahmen von drei Jahren - die Verwaltung bestimmter Aufgaben wie die Koordination von IP-Adressen, das Management von Domain-Namen und bestimmten Parametern des Internet-Protokolls der direkten Aufsicht durch die US-Regierung entzieht und einem selbstverwalteten und privatwirtschaftlich organisierten Prozess unterstellt.
Um dieses Ziel zu erreichen, werden wir Schritt für Schritt vorgehen. Die Übereinkunft beinhaltet, dass die ICANN der US-Regierung einen jährlichen Bericht über die erzielten Fortschritte übermittelt. Die ICANN hat beschlossen, diesen Bericht öffentlich zu machen und im Internet zu publizieren. Wir fühlen uns der Internet-Gemeinde ebenso verantwortlich wie der US-Regierung, also wäre es sinnlos, Berichte geheim zu halten. Die Internet-Gemeinschaft kann am besten über die Fortschritte entscheiden, die gemacht worden sind.
Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Veröffentlichung des Midterm Review, also des Zwischenberichts, der nach Ablauf der ersten eineinhalb Jahre der aktuellen Übereinkunft erstellt werden soll. Dieser Bericht soll im März 2008 veröffentlicht werden. Das US-Handelsministerium hat die Internet-Nutzer dazu aufgerufen, ihre Stellungnahmen dazu einzusenden, wie sie die Leistung der ICANN beurteilen.
Auch ich möchte hiermit alle Nutzer dazu auffordern, ihre Kommentare einzusenden. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass alle, die etwas Gutes oder Schlechtes über die ICANN zu sagen haben, dies dem Handelsministerium mitteilen. Niemand sollte davor zurückschrecken, uns unsere Fehler deutlich zu machen oder auf gute Leistungen hinzuweisen. Der Zwischenbericht ist wichtig, weil er der ICANN und der US-Regierung ein Bild von der Lage vermittelt und wir die verbleibenden eineinhalb Jahre noch dazu nutzen können, unsere Fehler zu berichtigen.
Am Ende der Vertragsperiode, im September 2009, werden wir hoffentlich zu einer neuen Form der Regulierung übergehen können. Im Licht dessen, was ich vorher gesagt habe, wird das nicht notwendigerweise bedeuten, dass wir aus den USA wegziehen werden, weil das ein unwichtiger Aspekt ist. Aber wir werden zu einer Art der Regulierung finden, bei der die Verbindung mit der US-Regierung schwächer sein wird.
ORF.at: Es geht ja immer noch das Gerücht um, dass die US-Regierung über eine Manipulation des DNS-Root-Servers ganze Länder vom Netz nehmen könnte.
Gaetano: Lassen Sie uns nachsehen, woher dieses Gerücht kommt. Um die Einzigartigkeit der Zuordnung von IP-Adressen zu Namen im Internet Domain Name System zu wahren, haben wir einen einzelnen Root-Server. Dieser muss sich physisch an einem bestimmten Ort und damit im Geltungsbereich einer bestimmten Rechtsprechung befinden. Da sich der Root-Server im US-Bundesstaat Virginia befindet, steht er im Geltungsbereich der Rechtsprechung der USA.
Vom Root-Server gibt es aber noch zwölf weitere Kopien weltweit. Nun gibt es durch Anycast mehrere hundert Kopien des Root-Servers, die über die ganze Erde verteilt sind. Der einzige Kontinent, der keinen hat, ist die Antarktis. Um den Datenverkehr optimieren zu können, brauchen wir Regeln. Es ist Teil der technischen Grundlagen des Internets, dass die DNS-Informationen repliziert werden und es einen Mechanismus gibt, der sicherstellt, dass alle DNS-Server sich auf den ursprünglichen, den A-Root-Server zurückbeziehen.
Wenn etwas am A-Root-Server geändert werden soll, funktioniert das folgendermaßen. Der Antrag zur Änderung - das kann die Eintragung einer neuen Telefonnummer eines wichtigen Ansprechpartners sein bis hin zur neuen Einrichtung einer Top-Level-Domain - kommt zuerst zur IANA. Die IANA wird den Änderungsantrag dann prüfen.
Ein aktueller Fall ist die Länder-Domain der Demokratischen Volksrepublik Korea, also Nordkoreas, mit der Kennung .kp. Diese ist vor einigen Monaten zum ersten Mal dem Root-Server hinzugefügt worden, es handelte sich dabei also um eine neue Einrichtung. Bevor dem Antrag durch die IANA stattgegeben wird, wird er im Rahmen eines durch und durch bürokratischen Prozesses von der US-Regierung geprüft.
Es besteht also die theoretische Möglichkeit, dass die US-Regierung sagen könnte: Diese Änderung wird nicht ins DNS eingetragen. Seit IANA existiert, ist dieser Fall kein einziges Mal eingetragen. Und wir haben wirklich viele Änderungsanträge, einige recht alltäglich, andere wichtig. Aber wir hatten keinen einzigen Fall, in dem das US-Handelsministerium zur IANA gekommen wäre und seine Zustimmung zu einer Änderung verweigert hätte.
Wenn jemand wirklich ein Land vom Netz nehmen wollte, würde er wohl eher dessen Verbindung zum Backbone kappen wollen. Würde etwa Präsident Bush befehlen, die Länder-Domain .at abzudrehen, dann würde man Österreich zwar kurzfristig nicht mehr erreichen, aber das Netz in Österreich selbst würde weiterarbeiten.
Ich bin mir auch sicher, dass es in so einem Fall eine Kopie des Root-Servers mit intakter .at-Domain in der EU geben würde, auf die dann alle anderen als Referenz zugreifen würden - und nicht mehr auf die Maschine in Virginia. Die USA wissen, dass die Menschen im Internet die Wahl haben. Das ist der beste Garant dafür, dass solche unilateralen Aktionen niemals stattfinden werden, weil man sich damit selbst eine Wunde zufügen würde. Man würde sich damit selbst in den Fuß schießen. Ich bin mir absolut sicher, dass niemals eine Länder-Top-Level-Domain aus dem Root-Server genommen werden wird.
ORF.at: Mit der Einführung von internationalisierten Domain-Namen [IDNs] will die ICANN betonen, dass sie eine internationale Organisation ist.
Gaetano: Für die meisten Nutzer in Europa wird das nicht so wichtig sein - mit der Ausnahme der Griechen und Bulgaren. In Ländern, die nichtlateinische Zeichensätze verwenden wie Japan oder China, ist es ein großes Hindernis für die Nutzer, wenn sie in der Adresszeile des Browsers ein anderes Alphabet benutzen müssen als ihr eigenes. In Asien müssen die Nutzer manchmal wahre Kunststücke auf ihren Tastaturen vollbringen, um die Domain-Namen in ASCII eingeben zu können.
Es ist sehr kompliziert, dafür eine Lösung zu finden und einen Standard zu schaffen, der dazu geeignet ist, aus allen Schriften der Welt in eindeutige ASCII-Zeichenketten zu übersetzen. Das DNS versteht ja nur ASCII, also müssen wir irgendwo zwischen dem Browser und dem Domain Name Server einen Übersetzungsvorgang stattfinden lassen. Es hat eine große Anstrengung gekostet, diesen Standard zu schaffen, über mehrere Jahre hinweg.
Heute haben wir zu Testzwecken elf IDNs im Root-Server. Diese werden täglich von Tausenden Nutzern getestet, und wir haben bereits einen kleinen Fehler in der Übersetzung arabischer TLDs entdeckt, den wir noch korrigieren müssen. Auf den Kongressen in Los Angeles und Rio hatten wir Informationsstände, bei denen die Teilnehmer die IDNs ausprobieren konnten. Das stieß auf große Resonanz. Ich glaube, die IDNs sind die wichtigste Maßnahme der ICANN seit Einführung des Wettbewerbs zwischen Registraren.
ORF.at: Wann werden die IDNs breit verfügbar sein?
Gaetano: Das hängt von den Ergebnissen der Testphase ab. Wenn alles gutgeht, werden wir die ersten IDNs gegen Ende 2008 im Netz haben. Wir haben auch einen schnellen Beantragungsprozess für Länder-Domains eingeführt. Beispielsweise schreibt sich die Volksrepublik China mit zwei Schriftzeichen. Die könnten auch als IDN-ccTLD funktionieren - und das bereits ab 2008.
Länger als bei den IDN-Länder-Domains wird es dauern, generische IDN-Top-Level-Domains einzuführen. Diese folgen einem anderen Genehmigungsprozess, der nicht gerade einfach ist. Ein Beispiel: Es gibt kyrillische Buchstaben, die identisch mit lateinischen Buchstaben sind. Das lateinische "P" ist das kyrillische "R". Man könnte aus einem String kyrillischer Buchstaben also eine Domain bauen, die genauso aussieht wie eine aus ASCII-Zeichen zusammengesetzte Domain, aber ganz woanders hinführt. Damit wäre das Potenzial für Betrug recht hoch. Wir müssen also einen Prozess einführen, in dessen Rahmen alle für die Verwendung in IDNs vorgeschlagenen Schriften geprüft werden.
Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass der Genehmigungsprozess für IDN-gTLDs identisch ist mit dem für herkömmliche generische Top-Level-Domains, weil wir nicht zwei verschiedene Genehmigungsprozesse haben wollen. Ich glaube daher nicht, dass wir die ersten IDN-gTLDs schon 2008 sehen werden.
Ich glaube, dass der Betrieb von Länder-Domains, die im Fast-Track-Verfahren genehmigt werden, auch einen guten Test für das Verhalten des Systems bei der Einführung generischer IDN-Domains darstellen wird. Aber das ist nur meine Meinung, nicht die des gesamten Vorstands.
ORF.at: Sie haben bereits das Internet Governance Forum erwähnt, das von den Vereinten Nationen veranstaltet wird. Wie hat sich das Verhältnis zwischen UNO und ihrer Fernmeldebehörde ITU in jüngster Zeit entwickelt?
Gaetano: Wenn Sie sich die Positionen ansehen, die zu mehreren Gelegenheiten von den Generalsekretären der ITU und der UNO vertreten wurden, werden Sie feststellen, dass deren Verhältnis zur ICANN sehr freundlich ist.
Was die Vergangenheit angeht: Ich weiß nicht, ob es diesen Gegensatz zwischen der UNO und der ICANN wirklich gegeben hat. Ich habe mich jedenfalls in einer spaßigen Position wiedergefunden, weil ich im Vorstand von ICANN sitze und gleichzeitig für die UNO arbeite. Einen echten Konflikt oder gar Streit zwischen den beiden habe ich nie wahrgenommen.
Es gibt Probleme wie Spam oder Online-Kinderpornografie, die sich außerhalb des Bereichs der ICANN befinden und trotzdem auf Treffen wie dem IGF besprochen werden. Es gibt nur verschiedene Meinungen darüber, wie bestimmte Ressourcen des Internets verwaltet werden sollten.
Ich kann mich an eine Diskussion erinnern, die wir im Juli 2004 auf dem ICANN-Treffen in Kuala Lumpur mit ITU-Vertretern hatten. Es ging um die Verwaltung von IP-Adressen. Wie Sie wissen, gibt es im Telefonsystem Ländervorwahlen. Die ITU schlug uns ein Modell vor, nach dem auch alle IP-Adressen zu Beginn eine Nummer haben sollten, die eindeutig auf ein Land zurückverweisen sollte. Nach diesem Vorschlag hätten die IP-Adressen nach dem Muster der Telefonnummern organisiert und daher von der ITU verwaltet werden sollen.
Wir haben dann mit ihnen über Routing-Tabellen und die Einführung von IPv6 diskutiert, und dann wurde ihnen klar, dass die Durchführung ihrer Idee mehr Probleme verursachen als lösen würde. Also haben sie sie aufgegeben.
ORF.at: Interessant.
Gaetano: Ich habe auch von einem Vorschlag gehört, die Adressen zu teilen und die eine Hälfte so und die andere so zu verwalten. Der hat sich auch nicht durchsetzen können, und ich glaube, das ist auch gut so.
Die ITU kann uns jederzeit neue Ideen mitteilen, und wir werden sie in der Internet-Gemeinschaft diskutieren. Wenn diese Ideen besser sind als das gegenwärtige System, warum sollten wir sie dann nicht implementieren? Das Internet ist vom Prinzip her evolutionär.
Am Ende wird der Markt entscheiden, welche Institution am besten dafür geeignet ist, die Internet-Ressourcen zu verwalten. Einige Leute in der UNO oder in der ICANN mögen vielleicht einen eher "religiösen" Ansatz verfolgen, nach dem bestimmte Entscheidungen von oben nach unten durchgesetzt werden müssen. Aber das Internet funktioniert so nicht, und ich sehe auch nicht, dass sich das in Zukunft ändern wird.
Es gibt noch einen wichtigen Aspekt: Im Dialog mit der ITU habe ich den Eindruck gewonnen, dass dem neuen Generalsekretär der Aufbau der Infrastruktur in Entwicklungsländern wichtiger ist als die Verwaltung von IP-Adressen. Wir haben mit Reinhard Scholl nun auch einen ITU-Vertreter im Vorstand der ICANN. Ich kenne ihn noch vom ETSI. Ich bin sehr optimistisch, was die zukünftige Zusammenarbeit zwischen UNO und ICANN angeht.
ORF.at: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Probleme, die die ICANN bis Ende 2009 angehen sollte?
Gaetano: Zuallererst müssen wir dafür sorgen, dass die IDNs eingeführt werden und gut funktionieren. Das wird die größten Auswirkungen haben, und es ist auch wichtiger als die Frage, ob wir weiterhin unter der Jurisdiktion der USA stehen.
Das zweitwichtigste Problem ist die Lösung der Whois-Frage. Hier vertreten verschiedene Interessengruppen grundlegend unterschiedliche Meinungen darüber, welche Informationen von Domain-Inhabern weiterhin frei im Whois-System zugänglich sein sollten und welche nicht. Es betrifft auch die Rechtsprechung, die in den USA und Australien anders funktioniert als in der EU. Andererseits kann die ICANN, indem sie dieses Problem löst, beweisen, dass sie wahrhaft eine internationale Organisation ist.
Ich bin Pragmatiker. Wieder bringe ich das Beispiel ETSI: ETSI hat sich dann als echte internationale Institution bewährt, als seine Standards - wie etwa GSM - in zahlreichen Ländern angenommen wurden. Genauso sollte sich ICANN auch verhalten. Falls eine Regelung der ICANN nicht alle hundertprozentig zufriedenstellen sollte, aber dennoch für jeden auf internationaler Ebene vertretbar ist, dann hat die ICANN es geschafft, auf dieser Ebene zu funktionieren.
Ich sage immer: Wir müssen von einem System, in dem wir durch Verträge mit einem oder mehreren Staaten legitimiert sind, zu einer Art der Legitimation kommen, die aus dem Konsens zwischen unseren Interessengruppen erwächst. Daher ist auch die Lösung des Whois-Problems so wichtig für mich.
ORF.at: Was sind für Sie die zentralen Werte der ICANN? Der Entschluss im Konsens?
Gaetano: Ja. Der Wille zum Konsens gehört sicher zu unseren zentralen Werten. Das Internet funktioniert, weil die Art und Weise, wie es betrieben wird, von allen akzeptiert wird. Man kann einfach Geräte anschließen und neue Anwendungen aufsetzen, die sich an einen grundlegenden Satz von Regeln halten, und der allgemeine Betrieb wird dadurch nicht gestört. Das ist die grundlegende Philosophie des Internets. Die ICANN muss genau so funktionieren.
Ihre Autorität darf sich nicht von einer Regierung oder von Gesetzen ableiten, die dann allen aufgeprägt werden. Die von der ICANN erarbeiteten Regeln sollten deshalb von den Nutzern akzeptiert werden, weil sie davon überzeugt sind, dass es keinen besseren Kompromiss geben kann.
Weil wir im Internet viele Interessengruppen haben, die nicht von diesen Regeln überzeugt sind, werden sie sich einfach anders verhalten, als diese Regeln vorschreiben. Und sie könnten eine Alternative dazu schaffen. Das würde dann die ICANN aus ihrer Position drängen: wenn das andere System besser funktioniert als die Lösungen, die von der ICANN vorgeschlagen werden. Dann würde jedermann das andere System jenem der ICANN vorziehen.
ORF.at: Folglich muss die ICANN möglichst transparent und offen arbeiten.
Gaetano: Sie muss offen sein. Um wieder zum Beginn des Gesprächs zurückzukommen: Genau deshalb ist es auch so wichtig, dass die ICANN offene Kanäle zu den Internet-Nutzern unterhält.
Während der kommerzielle und professionelle Teil der Internet-Nutzer schon über einige Macht verfügt, sind die Interessen der Nutzer zwar ebenso wichtig, aber sie verfügen nicht über einen direkten Zugang, über den sie ihren Willen äußern können. Ich glaube, dass die At-Large Structures [ALS, regionale Nutzervertretungen, Anm.] sehr wichtig dafür sind, diesen direkten Kanal zwischen ICANN und Nutzern aufzubauen, damit diese besser an der Arbeit der ICANN teilhaben können.
ORF.at: Vielen Dank für dieses Gespräch.
(futurezone | Günter Hack)