1948: Die Kunst der Kybernetik

24.12.2007

1948 veröffentlichte der Mathematiker Norbert Wiener sein Buch "Cybernetics", einen Schlüsseltext der Ingenieurs- und auch der Sozialwissenschaften. Schon sehr früh sah Wiener die Konsequenzen seiner Arbeit für Wirtschaft und Gesellschaft.

Eigentlich war Norbert Wiener auf der Jagd nach einer Methode, die Zukunft voraussagen zu können. Zwischen den Weltkriegen befasste sich der Mathematiker mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit den scheinbar unvorhersehbaren Bewegungen winzigster Teilchen.

Doch schon bald sollte Wiener nicht mehr Molekülen, sondern deutschen Flugzeugen nachjagen. Mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg arbeitete Wiener im militärisch-industriellen Komplex seines Landes mit. Er wollte eine Flugabwehrkanone bauen, die die Bahn einer feindlichen Maschine so zuverlässig wie möglich vorausberechnen und damit deren Abschuss erleichtern sollte.

Treffen in der Zukunft

Seit dem Ersten Weltkrieg waren die Flugzeuge so schnell geworden, dass es keinen Sinn mehr ergab, einfach so auf sie zu schießen. "Es wird daher immer wichtiger, das Geschoß nicht auf das Ziel abzufeuern, sondern so, dass Geschoß und Ziel irgendwann in der Zukunft aufeinandertreffen werden", schrieb Wiener im Vorwort zur ersten Auflage seines Buchs "Cybernetics - or control and communication in the animal and the machine", das 1948 erschien.

Die Flugabwehrkanone, die Wiener und sein Kollege Julian Bigelow entwarfen, kam im Zweiten Weltkrieg zwar nicht mehr zum Einsatz. Das Prinzip, auf dem ihre Funktionsweise basiert, nämlich das eines Systems, das sich selbst auf Umwelteinflüsse einzustellen vermag, legte Wiener nach dem Krieg in "Cybernetics" dar.

Norbert Wiener

Der Mathematiker Norbert Wiener wurde am 26. November 1894 als Sohn des russischstämmigen Sprachwissenschaftlers Leo Wiener in Columbia im US-Bundesstaat Missouri geboren.

Nach akademischen Zwischenstationen in Cambridge und Göttingen ging Wiener 1919 ans Massachusetts Institute of Technology [MIT]. Von Phänomenen der Unregelmäßigkeit und des Zufalls fasziniert - etwa von der Brown'schen Molekularbewegung - arbeitete er auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wo er 1923 mit dem nach ihm benannten Wiener-Prozess eine wichtige Grundlage für die moderne Wahrscheinlichkeitsrechnung schuf. Der Wiener-Prozess findet in einem breiten Spektrum wissenschaftlicher Arbeit Anwendung, von der Informationstheorie bis hin zu den Wirtschaftswissenschaften.

Wiener zeigte auch, dass sich seine Beschreibungen der Brown'schen Molekularbewegung auf die Quantentheorie anwenden lassen, und trug damit entscheidend zu deren Weiterentwicklung bei.

Norbert Wiener starb am 18. März 1964 in Stockholm.

Steuern ohne Steuermann

Schon der erweiterte Titel des Buches liest sich wie das zukünftige Programm der Industriegesellschaft. Um Kontrolle und Kommunikation soll es gehen - und Kontrolle durch Kommunikation.

Seit 1933 diskutierte Wiener mit seinem Freund, dem mexikanischen Arzt Arturo Rosenblueth, über die Rolle von Feedback-Mechanismen. Das klassische Beispiel dafür ist der Regelkreis eines Thermostats, der über einen Fühler die Raumtemperatur misst und diese durch Steuerung der Heizung stets konstant hält. Wiener führt im bereits zitierten Vorwort dieses grundlegende Konzept auf den britischen Physiker James Clerk Maxwell zurück, der bereits im 19. Jahrhundert in einem Gedankenexperiment seinen berühmten Maxwell'schen Dämon erdachte, ein Kunstwesen, das in der Lage ist, die Temperatur in einem Behälter dadurch zu regeln, dass es schnelle von langsamen Luftmolekülen trennt.

Wiener und Rosenblueth fanden auch einen eingängigen Namen für ihr transdisziplinäres Forschungsfeld. "Wir haben beschlossen, das gesamte Gebiet der Theorie über Kommunikation und Kontrolle, egal ob sie Maschinen oder Tiere betrifft, mit dem Namen Kybernetik zu bezeichnen", schreibt Wiener in seinem Vorwort und datiert die offizielle Einführung des Begriffs auf den Sommer 1947. Hergeleitet hatte ihn Wiener vom altgriechischen Wort für Steuermann, da er die Steuerungsmechanismen von Schiffen als eine der frühesten und am besten entwickelten Implementationen eines Rückkopplungsmechanismus betrachtete.

Mit der Wahl des Begriffs wurde aber auch Wiener selbst schnell klar, wer am Ende des von ihm in die Zukunft projizierten Prozesses durch möglichst raffinierte Automatismen ersetzt werden sollte: der steuernde Mensch. "Ich bin in die Gestaltung eines mechanisch-elektrischen Systems involviert worden, das dazu geschaffen werden sollte, eine spezifisch menschliche Funktion zu übernehmen", so Wiener über seine Arbeit.

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In seinem Vorwort zur Erstausgabe von "Cybernetics" beklagt Wiener, dass seit Gottfried Wilhelm Leibniz kein Mensch mehr als Universalgelehrter gelten könne. Die Wissenschaft sei in die Gebiete von Spezialisten fragmentiert, die nichts mehr voneinander wüssten. Die Kybernetik solle, so Wiener, in den Räumen zwischen den Einzeldisziplinen wachsen und diese schließlich ausfüllen.

Dem Programm zum Entwurf einer übergreifenden Metatheorie entsprechend hat Wiener in "Cybernetics" zahlreiche Forschungsthemen angeschnitten. Er schreibt über Informationstheorie ebenso wie über Statistik, die Funktionsweise des Nervensystems und Gestaltpsychologie. Ein Kapitel gilt dem Lernen - und Maschinen, die sich selbst reproduzieren können.

Kybernetik und Gesellschaft

Als Experte für die Zukunft sah Wiener auch die Auswirkungen seiner Arbeit auf die Gesellschaft bereits 1947 mit aller Deutlichkeit. Der freie Markt sei zum Fetisch der US-amerikanischen Öffentlichkeit geworden. Die Möglichkeiten, die sich durch die Anwendung der Kybernetik eröffneten, dürften aber gerade nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz betrachtet werden.

Die Maschinen eröffneten der Menschheit eine unerhört effiziente Art, sich ihrer Arbeiten zu entledigen. "Diese automatisierte Arbeit verfügt über ähnliche Eigenschaften wie die Sklavenarbeit, wenngleich sie nicht die direkten demoralisierenden Auswirkungen der Sklavenarbeit zeitigt. Aber jede Arbeit, welche die Bedingungen des Wettbewerbs mit der Sklavenarbeit akzeptiert, akzeptiert auch die Bedingungen der Sklavenarbeit selbst und ist, im Grunde, Sklavenarbeit."

Arbeit und Sklavenarbeit

Diese Bedingungen würden durch den Fortschritt der Kybernetik nicht nur den Schwerarbeitern aufgedrängt, wie es bereits in der ersten industriellen Revolution geschehen war. "Die moderne industrielle Revolution wird auf ähnliche Weise die Arbeit des menschlichen Gehirns entwerten, zumindest was dessen einfachere und routinemäßigen Funktionen angeht", so Wiener. Am Ende würden Menschen mit durchschnittlichen Fähigkeiten nichts mehr zu bieten haben, wofür jemand noch Geld ausgeben würde.

Wiener beschreibt, wie er sich mit diesen Befürchtungen an die Gewerkschaftsführer seiner Zeit wendet, bei ihnen aber kein Gehör findet. Die moralische Position der Kybernetiker sei, so Wiener, äußerst unkomfortabel. Man arbeite letztendlich für die Machtkonstrukte, an deren Spitze sich meist die skrupellosesten Individuen fänden. Im Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Auflage von "Cybernetics", die 1961 erschien, weist Wiener darauf hin, dass sich die negativen Auswirkungen des falschen Einsatzes der Kybernetik bereits deutlich zeigten.

Um diese Auswirkungen auch einem breiteren Publikum zeigen zu können, veröffentlichte Wiener 1954 das Buch "The Human Use Of Human Beings" mit dem Untertitel "Cybernetics and Society".

Kontrolle außer Kontrolle

Zu diesem Zeitpunkt war Wiener beim militärisch-industriellen Komplex der USA bereits in Ungnade gefallen. Wiener hatte des Öfteren laut seinen Unmut über den Geheimhaltungswahn der Militärs geäußert, der ihn daran hinderte, die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs öffentlich zu machen.

Richard Barbrook hat in seinem Buch "Imaginary Futures" recht schön beschrieben, wie der Pazifist Norbert Wiener im Kalten Krieg von den US-Machthabern immer heftiger zur Seite gedrängt wurde. Als Computerexperten bevorzugte man radikale Antikommunisten wie John von Neumann.

Die Kalten Krieger wollten eine "Kybernetik ohne Wiener", wie Barbrook meint, der darauf hinweist, dass Wieners Ideen auch begeisterte Aufnahme in der UdSSR fanden - allerdings erst nach dem Tod Stalins, unter dessen Herrschaft die Kommunistische Partei noch eine harte Kampagne gegen die Kybernetik gefahren hatte. Automatisierte Kontrollsysteme, die alle Vorgänge in die Zentrale rückmelden, waren schließlich auch für die Sowjets nicht ganz unattraktiv.

"Roter Stern": Kybernetik 1908

1908, also genau vor 100 Jahren, erschien nämlich der seinerzeit äußerst einflussreiche Science-Fiction-Roman "Roter Stern" des russischen Sozialisten Alexander Bogdanow, in dem ein präsowjetischer Berufsrevolutionär von Marsianern auf unseren Nachbarplaneten eingeladen wird, auf dem bereits die sozialistische Gesellschaft verwirklicht ist.

Auf diesem in jeder Hinsicht roten Planeten werden Produktionsmittel und Arbeitskraftverteilung in Echtzeit von einem zentralen statistischen Planungsbüro gesteuert; die jeweiligen Quoten zeigt das System blitzschnell auf Displays in allen Fabriken des Planeten stets aktuell an. Dadurch wird die Arbeit so effizient organisiert, dass die Marsianer eigentlich nur noch zu ihrem eigenen Vergnügen tätig werden müssen.

Kurz vor seinem Tod erhielt Wiener doch die National Medal of Science aus den Händen von US-Präsident Lyndon B. Johnson. Der wiederum steckte bereits in den stillen Vorbereitungen auf den Vietnam-Krieg, in dem Computer schon dazu verwendet wurden, zu strategischen Zwecken die Todesquoten hochzurechnen.

(futurezone | Günter Hack)