1948: Die Geburt des Großen Bruders

25.12.2007

1948 stellte George Orwell auf der Insel Jura das Manuskript zu seinem Roman "Nineteen Eighty-Four" fertig. "Big Brother" nähert sich also langsam dem Rentenalter. Leider hat die Kunstfigur viele virtuelle Enkel.

"Nineteen Eighty-Four" ist ein Buch über einen Mann, der die Herausforderung sucht, aber immer nur Zumutungen findet. Insofern hat George Orwell über Eric Blair geschrieben, als er Winston Smith erschuf und ihn gegen den "Big Brother" antreten und verlieren ließ.

Denn auch Eric Blair war kein Gewinner. Er schlug sich als Polizist in Burma durch, sackte gezielt in die untersten Schichten der europäischen Zwischenkriegsgesellschaft ab, rappelte sich hoch, langweilte sich in der britischen Provinz, entkam im Spanischen Bürgerkrieg mehrmals knapp dem Tod. Sieger schreiben nicht, allenfalls diktieren sie. Eric Blair schrieb und schrieb und schrieb.

Ab 1933, mit der Publikation von "Down And Out In Paris And London", wurde Eric Blair zu George Orwell, dem Mann, der 1948 auf seinem abgelegenen Hof auf der Isle of Jura die Sätze "Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke" mit den Lettern seiner Schreibmaschine dem Papier einprägte.

Zensur und BBC

1945 war Orwells Frau Eileen gestorben. Ihre Erfahrungen aus dem Dienst bei Londoner Zensurbehörden während des Zweiten Weltkriegs sollten ebenso in die Schilderung der repressiven Techniken des Big-Brother-Regimes einfließen wie Orwells Erlebnisse mit der Zensur bei der BBC, bei deren Indien-Dienst Orwell von 1941 bis 1943 gearbeitet hatte.

Die mörderischen Konflikte zwischen Kommunisten und anderen Fraktionen, die Orwell im Kampf gegen Francos Truppen im Spanischen Bürgerkrieg miterleben musste, nahmen ihm jede Illusion, was die Vereinbarkeit sowjetischer Machtkonzepte mit seinen eigenen sozialdemokratisch-liberalen Überzeugungen anbelangte.

Schon 1943 hatte Orwell in einem Notizbuch erste Skizzen zu einem Projekt angelegt, das erst "Der letzte Mensch in Europa" heißen sollte und aus dem schließlich, in Umkehrung des Jahres seiner Entstehung, "1984" wurde. Auf den Markt kam das Buch erst 1949.

Kochbuch für Diktatoren

Da Orwell die Motive des Buchs aus seiner reichhaltigen Erfahrung mit totalitären Regimen und Zensursystemen unmittelbar ableiten konnte, sind sie ihm so mächtig geraten, dass sie bis heute wirksam sind. So wirksam, dass der Text schon beinahe als Anleitung für den Aufbau totalitärer Regime gelesen werden kann: Etablierung einer Führerfigur - Check. Einrichtung eines Überwachungsapparats - Check. Kontrolle von Sprache und Massenmedien - Check.

Da Orwell die längste Zeit in einer Welt des Mangels gelebt hat, mussten ihm die Kontrollmethoden einer voll entwickelten Konsumgesellschaft allerdings entgehen. In "1984" herrscht die Partei durch Zwang und kontrollierte Mangelwirtschaft. Einverständnis erzeugt sie durch Hassshows.

Dass eine Elite einen guten Teil der Bevölkerung auch durch die Jagd auf die billigsten Mobilfunk- und Versicherungsverträge in ihrem Sinne beschäftigt halten kann, ist in diesem Szenario nicht vorgesehen. Big Brother wird also alt, sein Enkel Michel Foucault muss ihm zuweilen zum Überwachen und Strafen über die Straße helfen.

Realityshow und Tod

Trotzdem hat sich Orwells Konzept als stärker erwiesen als diverse Versuche, den Großen Bruder politisch zu vereinnahmen oder ihn durch einen salonsituationistischen Trick durch hohle "Reality"-Shows zu überformen. Big Brother ist die kalte Macht. Eine Macht, die alles sieht. Ein Konstrukt, das Gott ersetzt, so gut es kann.

Wie "Animal Farm", Orwells erste politische Fabel, so muss auch "1984" in einer ganz bestimmten Art von Hoffnungslosigkeit enden, die den Leser in einem Schockzustand zurücklässt. Gegen die geballte Macht von Dummheit, Gleichgültigkeit, Brutalität und Gier muss jede Tugend scheitern. Und weil Orwell seinerseits die Sprache gut im Griff hat, glauben ihm die Leser, dass es böse enden muss. Wie das propagandistische Trommelfeuer zeitgenössischer Überwachungsbefürworter kann auch die Lektüre von "1984" den Leser in Passivität erkalten lassen: Es hat doch alles keinen Zweck gegen die.

1948, als Orwell sein berühmtestes Buch schrieb, hatte der Kalte Krieg gerade erst begonnen. Josef Stalin lebte noch und die Sowjetunion strebte dem Gipfel ihrer Machtfülle entgegen. Orwell ging also mit der Zeit, als er der Welt ein kollektives Abgleiten in den Totalitarismus prophezeite. Dazu kam noch seine Lungenkrankheit, die ihn seit 1938 schwächte. Im Dezember 1948 schickte Orwell das fertige Manuskript an seinen Verleger, wenige Wochen darauf musste er sich mit akuter Tuberkulose in ein Sanatorium einweisen lassen. Am 21. Jänner 1950 starb er im Alter von 46 Jahren.

Die Hoffnung

Die Geschichte hat George Orwell längst nicht überall auf der Welt recht gegeben. Die wahre Hoffnung, die "1984" vermitteln kann, liegt also außerhalb des Texts.

Denn immer wieder gab es Menschen, die den Möchtegern-Big-Brothers erfolgreich entgegengetreten sind. Menschen, die ihren Orwell besonders sorgfältig gelesen haben. Um ihn zu überwinden.

(futurezone | Günter Hack)