E-Mail-Flut: "Der Feind sind wir"
Durch falschen Umgang ihrer Mitarbeiter mit der Informationsflut gehen alleine US-Unternehmen jährlich 28 Milliarden Personenstunden an Arbeitszeit verloren. Info-Gestresste schnitten im Test der Universität London signifikant schlechter ab als Testpersonen unter Drogeneinfluss.
Während rund um den Jahreswechsel gewöhnlich Produkte oder Personen des Jahres nominiert werden, habe man sich heuer entschlossen, ein Problem des Jahres zu benennen, dessen Lösung 2008 in Angriff genommen werden müsse, schreibt David M. Goldes, Präsident der New Yorker Beratungsfirma Basex.
Das auf den Sektor Informations- und Wissensmanagement spezialisierte Unternehmen hat in einer ganze Reihe von Untersuchungen vor allem bei großen Firmen wie Intel und Microsoft über die Jahre analysiert, was "Information Overload" anrichtet.
Der Infostress
Zu Zeiten, in denen zunehmend größere Teile jeder Firmenbelegschaft der Kategorie "Informations"- oder "Wissensarbeiter" zugerechnet werden, haben diese Angestellten Jahr für Jahr größere Schwierigkeiten, mit den via E-Mail, Messaging, Telefon, Handy, RSS-Feeds, Internet-Chats etc. parallel hereinprasselnden Informationen adäquat umzugehen.
Bei Analysten in den USA, wo das Problem bereits länger diskutiert wird, haben sich dafür die Begriffe "Information Overload" und auch "Infomania" eingebürgert.
Der leidvolle Arbeitsalltag
Es sind das Situationen, die wohl alle Leser dieses Artikels aus eigener, leidvoller Erfahrung kennen.
Während man an einem Bericht arbeitet, ist das E-Mail-Programm geöffnet. Obwohl man sich geschworen hat, den Bericht diesmal zügig abzufassen, trifft gerade eben die lang erwartete Antwort auf eine eigene E-Mail ein.
Nun wird sofort gelesen, geantwortet und pflichtgemäß weitergeleitet, natürlich jeweils mit einem individuellen Kommentar.
Der E-Mail-Teufelskreis
Inzwischen hat das Handy das Eintreffen zweier SMS gemeldet, die man sich auch noch ansehen kann, wenn die Arbeit am Bericht ohnehin schon unterbrochen ist.
Dann hat der Kollege zwei Zimmer weiter wieder einmal ein typisches Problem, das schnell gelöst werden kann, und während man die zweite SMS beantwortet, treffen schon die Reaktionen auf die vorhergehende Mail-Aussendung ein.
Erst wenn der Vorgesetzte in der Tür steht und einen demonstrativen Blick auf seine Uhr wirft, kommt die Erkenntnis, dass alle abgewickelten Kommunikationen warten hätten können. Das einzig Zeitkritische war nun einmal der jetzt nicht fertige Bericht.
Der Feind sind wir
"So wird der Wissensarbeiter zu seinem eigenen ärgsten Feind", kommentiert das Basex-Analyst Jonathan B. Spira. Das Resultat sei nämlich, dass pro Tag und Wissensarbeiter im Schnitt bereits mehr als zwei Arbeitsstunden durch Unterbrechungen verloren gingen. Die Tendenz sei seit Jahren konstant steigend, der hauptsächliche Faktor dabei sei der Umgang mit E-Mails.
Die Chance, einen Arbeitsvorgang ohne Unterbrechungen abzuschließen, sei mittlerweile nämlich nahezu null. Doch das sei nicht allein auf die schiere Anzahl von E-Mails, Instant Messages, Sitzungen und Telefonaten zurückzuführen, sagt Spira.
Info-Orchester ohne Dirigent
Das Hauptproblem sei, wie all diese Kommunikationsformen zeitlich zusammenspielten, vergleichbar einem Orchester ohne Dirigenten. Mit technischen Mitteln allein sei das nicht zu lösen, so Spira weiter, denn ironischerweise hätte neue Büro-Software zur Steigerung der Produktivität oft den genau gegenteiligen Effekt.
Beim Chipgiganten Intel mit seinen fast 100.000 Angestellten hat man das Problem seit längerem im Auge, denn stetig sinkende Produktivität eines Teils der Belegschaft bedeutet für das Management Handlungsbedarf.
Neue Arbeitsweisen bei Intel
Um die acht Stunden Arbeitszeit gingen pro Woche duch Informationsüberfrachtung verloren, schreibt Intel-Manager Nathan Zeldes. Man arbeite bei Intel nun daran, neue Arbeitsweisen im Umgang mit der Informationsflut einzuführen, um dem entgegenzuarbeiten.
Es geht also um neue Arbeitsweisen oder Umgangsformen und nicht um die Einführung einer noch neueren Software-Suite zur Verbesserung des internen Informations- und Wissensmanagements.
588 Milliarden Dollar
Bei etwa 28 Prozent täglichem Zeitverlust durch Unterbrechungen kommt man laut Basex alleine in den USA auf 28 Milliarden verlorene Personenstunden pro Jahr.
Bei durchschnittlichen Kosten von 21 Dollar pro Arbeitsplatz im Informationssektor schlägt sich das hochgerechnet mit 588 Milliarden Dollar zu Buche.
Morgan Stanley
Bei den Investementbankern von Morgan Stanley - 600 Niederlassungen in 30 Ländern - sind um die 100 Mitarbeiter ausschließlich damit beschäftigt, die Informationsflüsse im Unternehmen zu optimieren.
Das ist nicht eben verwunderlich, denn die Belegschaft einer Investmentbank besteht de facto nur noch aus Informationsarbeitern, die obendrein aussschließlich sehr zeitkritische Prozesse abwickeln.
Kommunikationen, die versäumt oder nicht abgeschlossenen wurden, schlagen sich hier direkt in millionenschweren Verlusten nieder.
"Mehr Kunst als Wissenschaft"
Das Problem am Informationsstress ist laut Spira dessen Vielfältigkeit, da jeder individuell anders kommuniziere und von der Art seiner Arbeit auch unterschiedliche Bedürfnisse habe. Ein derartiges Problem in der Praxis zu lösen sei "mehr eine Kunst als eine Wissenschaft".
In der Praxis
Beispiele dafür gibt es wie Sand am Meer, auch wenn der durch Kommunikation angerichtete Schaden oft nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist.
Ein Manager eines großen Unternehmens steht vor dem Problem, alle Mitarbeiter an einem bestimmten, neuen Projekt über Änderungen in den Vorgaben ad hoc informieren zu müssen.
Da diese Mitarbeiter über vier verschiedene Abteilungen verstreut sind, entschließt er sich, die betreffende Nachricht an die Mail-Verteiler aller vier Abteilungen abzusetzen.
Kollateralschäden
Damit hat er sein Ziel erreicht, der Kollateralschaden wird freilich in der Regel übersehen. Neben 100 tatsächlichen Adressaten, nämlich dem Projektteam, erhalten in den vier betroffenen Abteilungen 800 andere Mitarbeiter eine Information, die für sie nutzlos war.
Ein Gutteil dieser Mitarbeiter öffnet die Mail, weil sie aus den "oberen Etagen" kommt und aus dem "Betreff" nicht ersichtlich ist, dass der Inhalt gar nicht für sie bestimmt ist.
Von einigen wird die Mail dann an andere Kollegen weitergeleitet, von denen man weiß, das sie am Projekt mitarbeiten, andere wiederum antworten auf eine E-Mail, die nicht für sie bestimmt war.
Schon sind ein paar hundert Personenminuten den großen Datenstrom hinuntergegangen, die gänzlich unproduktiv verlaufen sind.
Infostress und IQ-Test
2005 hatte das Psychiatrische Institut der Universität London eine Vergleichsstudie zum Thema "Informationsstress" durchgeführt.
Während eine Gruppe der Versuchspersonen einen IQ-Test unter normalen Bedingungen absolvierte, musste die andere denselben Test unter Informationsstress von eintreffenden E-Mails und Telefonaten durchführen.
Die so Gestressten lieferten durchwegs signifikant schlechtere Ergebnisse ab, im Schnitt waren sie um zehn Punkte "dümmer" in puncto Intelligenzquotient.
Weniger "Ablenkung" durch Marihuana
Eine weitere Vergleichsgruppe, deren Teilnehmer den Test ebenfalls unter normalen Bedingungen durchführten, aber vorher Marihuana zu rauchen bekommen hatten, schnitt überraschend weitaus besser ab als die Informationsgestressten.
Hier betrug der "Intelligenzrückstand" zur ersten Gruppe im Schnitt nur vier Punkte.
Anmerkung zur Person
Der New Yorker Jonathan B. Spira, Chief Analyst der seit 1983 auf Infomanagement spezialisierten Beratungsfirma Basex, spricht perfekt Deutsch mit wienerischer Färbung.
Sein Vater, der spätere Fotopionier und Unternehmer Fred Spira [Spiratone], hatte Wien mit einem der letzten Kindertransporte nach dem Nazi-Einmarsch verlassen können. Bis zu seinem Tod am 2. September 2007 war Spira Österreicher.
In der "New York Times" erschien ein ausführlicher Nachruf, in Österreich erschien bisher nichts.
(futurezone | Erich Moechel)