Salvador Allendes "sozialistisches Internet"
Zum Auftakt der transmediale-Konferenz wurde am Mittwoch an das chilenische Computer-Netzwerkprojekt Cybersyn erinnert, das zur Zeit des Präsidenten Salvador Allende in den frühen 70er Jahren vernetzte Kommunikationsstrukturen erprobte.
Cybersyn, eine Zusammensetzung aus Cybernetics und Synergy, sollte der neu gewählten chilenischen Regierung unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende Anfang der 70er Jahre dabei helfen, Probleme bei der Verstaatlichung der Industrie zu bewältigen.
Am Mittwoch stand das chilenische Netzwerkexperiment im Mittelpunkt des Eröffnungspanels der Konferenz, des Berliner Festivals für digitale Kunst und Kultur, transmediale, die heuer unter dem Generalthema "conspire" steht. Zu Gast waren unter anderem Cybersyn-Initiator Fernando Flores und Projektleiter Raul Espejo.
Anders als bei dem von US-Wissenschaftlern und Militärs entwickelten Arpanet, sei bei Cybersyn das Soziale über das Technische gestellt worden, sagte die Cybersyn-Expertin und Informatikerin Eden Medina, die das Panel moderierte. Das sei das Vermächtnis des Netzwerkexperiments: "Cybersyn war darauf angelegt, Leute miteinander zu verbinden."
Datenverarbeitung in Echtzeit
Ziel von Cybersyn war es zunächst, ein elektronisches Nervensystem in das Land zu implementieren, mit dessen Hilfe ökonomische Daten in Echtzeit verarbeitet werden konnten. Dazu standen 500 Fernschreiber und ein Computer zur Verfügung. In einem futuristisch anmutenden Kontrollraum [Opsroom] in der chilenischen Hauptstadt Santiago sollten die Daten zusammenfließen und mit Hilfe der Software Cyberstride ausgewertet werden.
Konzipiert wurde das Projekt von dem 2002 verstorbenen britischen Wissenschaftler Stafford Beer, der als einer der ersten kybernetische Prinzipien auf Probleme der Industrie anwandte und bereits Ende der fünfziger Jahre mit einem Buch "Kybernetik und Management" von sich reden machte.
Alptraum Verstaatlichung
An ihn wandte sich Flores, damals technischer Direktor der chilenischen Verstaatlichungsbehörde CORFO, als sich die Eingliederung der verstaatlichten Betriebe in die Verwaltung als Management- Alptraum entpuppte.
"Nachdem Beer angekommen war, haben wir die Aufgabenstellung an das Projekt erweitert. Es ging nicht mehr nur darum, wie wir komplexe wirtschaftliche Prozesse bewältigen können. Wir wollten mit Cybersyn auch Einflüsse auf die gesellschaftlichen Prozesse in Chile nehmen", sagte Flores nach dem Panel im Gespräch mit ORF.at.
Elektronische Mitbestimmung
Die computerunterstützte Steuerung wirtschaftlicher Abläufe sah die Partizipation der Arbeiter an der Entscheidungsfindung vor. Auch über integrierte Techniken zur Messung der öffentlichen Meinung wurde nachgedacht. Der britische "Guardian" stilisierte das Projekt einst sogar zum "sozialistischen Internet" hoch.
Fernando Flores
Cybersyn-Initiator Fernando Flores bei der transmediale: "Cybersyn hat das Leben vieler Leute, die darin involviert waren, verändert und hat einen großen Einfluss darauf gehabt, was wir danach gemacht haben."
Der frühere chilenische Wirtschaftsminister, Ingenieur und Philosoph beschäftigte sich auch nach Cybersyn mit kybernetischen Systemen. Heute lebt er nach langen Jahren im Exil wieder in Chile.
"Bestialisches" Konzept
Um das Projekt rankten sich bald auch die ersten Verschwörungstheorien. In ihrem Forschungsarchiv dokumentierte Cybersin-Historikerin Medina einschlägige Artikel aus der damaligen Zeit.
Von "Big Brother"-Taktiken der chilenischen sozialistischen Partei Unidad Popular war die Rede. Cybersyn wurde als "schreckliche Kontrollwaffe" beschrieben, "mit der das Privatleben chilenischer Bürger mit kybernetischen Mitteln beeinflusst werden könnte". Der US-Wissenschaftler Herb Grosch bezeichnete gegenüber dem "New Scientist" das gesamte Konzept als "bestialisch".
Die Reaktionen der ausländischen und oppositionellen Presse ärgern Cybersyn-Initiator Flores noch heute. "Bullshit", ist alles was er dazu sagen wollte.
Streik und Höhepunkt
Seinen Höhepunkt erreichte das nur rudimentär realisierte Computer-Netzwerkprojekt im Oktober 1972. Damals, so geht die Legende, versuchte der US-Geheimdienst CIA einen Streik bei Transportunternehmen anzustacheln und so die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmittel zum Zusammenbruch zu bringen.
Die über die vernetzten Fabriken gesammelten Daten und der rege Austausch der Fabriken untereinander ermöglichten es jedoch, die drohenden Engpässe zu umschiffen. "Das Netzwerk wurde lebendig, jeder kommunzierte mit jedem", erinnert sich Cybersyn-Projektleiter Espejo, der heute in Großbritannien das Unternehmen Syncho Ltd. leitet. Dadurch konnte die Industrie am Laufen gehalten werden.
Jähes Ende
Weniger als ein Jahr später, am 11. September 1973 putschte General Augusto Pinochet mit Unterstützung der USA, Salvador Allende kam dabei ums Leben. Die Zerstörung der Demokratie in Chile bedeutete auch das Aus für das Computer-Netzwerkprojekt.
"Nach dem Militärputsch gab es viele, die dahinterkommen wollten, was wir mit Cybersyn alles machen wollten", sagte Flores: "Es gab ja auch davor viele Unterstellungen. Alles was sie gefunden haben, waren Leute, die daran gearbeitet haben, einen Computer und 500 Fernschreiber. Die Fernschreiber waren übrigens von Siemens."
"Lücken schließen"
"Cybersyn sollte die Lücke zwischen der Komplexität der wirtschaftlichen Probleme und dem menschlichen Fassungsvermögen schließen", sagte Espejo. Hierarchische Beziehungen sollten dabei durch gegenseitiges Vertrauen ersetzt werden.
Letztlich hält er das Projekt für gescheitert: "Die Technologie war nicht ausreichend in der Lage die Kommunikation zwischen autonomen Gruppen zu unterstützen", meinte er: "Cybersyn war zu sehr auf die Übertragung von Informationen zugeschnitten und hat nicht genug Raum zum Aufbau von Beziehungen gegeben."
Wir hatten damals zu wenig Zeit, um alle Möglichkeiten des Systems umzusetzen, sagte auch Flores: "Es ist nicht alles so gelaufen, wie wir uns es gewünscht haben." Lernen könne man aus dem Projekt heute nichts mehr, so Flores: "Cybersyn gehört ins Museum."
Futurezone-Serie zur transmediale
Die transmediale widmet sich noch bis Sonntag in der Konferenz, in Ausstellungen, Diskussionen, Performances und Film- und Videovorführungen dem Thema "conspire". "Conspire" bedeute nicht nur "sich verschwören", "conspirare" bedeute auch "gemeinsam atmen", sagte Steven Kovats, der künstlerische Leiter des Festivals, bei der Eröffnung am Dienstagabend.
~ Link: Konspiratives bei der transmediale (../http://www.fuzo-archiv.at/?id=252459v2) ~
(futurezone | Patrick Dax)