Vorratsdaten nur für "gravierende Delikte"
Das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat Teile des Gesetzes zur massenhaften Speicherung von Telefon- und Internet-Verbindungsdaten vorerst eingeschränkt. Vertreter der Regierungskoalition zeigten sich in ersten Reaktionen zufrieden über das Urteil.
Nach einer am Mittwoch veröffentlichten einstweiligen Anordnung dürfen die Informationen aus der Data-Retention zunächst nur für die Verfolgung besonders schwerer Straftaten genutzt werden. Damit gaben die Karlsruher Richter dem Eilantrag acht betroffener Bürger teilweise statt. Insgesamt haben mehr als 30.000 Bürger Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Daten dürfen gespeichert werden
Die Karlsruher Richter erlauben zwar bis auf weiteres, dass die Telekommunikationsunternehmen - wie seit dem 1. Jänner vorgeschrieben - sämtliche Daten etwa über Zeitpunkt und Dauer von Telefonaten speichern.
Sie dürfen aber dann nicht an Strafverfolgungsbehörden weitergegeben werden, wenn ihre Herausgabe zur Aufklärung weniger gravierender Delikte - etwa zur Aufspürung von Filesharern - beantragt wird. Konkret muss eine schwere Straftat im Sinne des Paragrafen 100a Absatz 2 der deutschen Strafprozessordnung Gegenstand des Ermittlungsverfahrens sein und "die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos" sein.
In diesem Fall, und nur dann, dürften die Ermittler auf die im Rahmen der VDS erhobenen Daten zugreifen. Auch laut EG-Richtlinie zur Data-Retention dürfen die VDS-Daten nur zur Bekämpfung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens eingesetzt werden.
Die Anordnung der Verfassungsrichter gilt zunächst ein halbes Jahr, kann aber - falls sich die Entscheidung in der Hauptsache hinzieht - verlängert werden.
Kein abschließendes Urteil
Der Erste Senat hat damit noch nicht abschließend über die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung entschieden, nach der die Verbindungsdaten von Telefon- und E-Mail-Verkehr - nicht die Inhalte - ein halbes Jahr lang gespeichert werden müssen. Nach den Worten der Richter können Betroffenen "Nachteile von ganz erheblichem Gewicht" drohen, weil mit Hilfe der Daten weitreichende Erkenntnisse über ihr Kommunikationsverhalten möglich seien. Deshalb dürften die Daten bis auf weiteres nur bei schweren Straftaten abgerufen werden.
Das Gericht hat der Bundesregierung aufgegeben, bis zum 1. September 2008 einen Bericht über die praktischen Auswirkungen der Datenspeicherung und der nun bekanntgegebenen einstweiligen Anordnung vorzulegen. Auf Grundlage des Berichts wollen die Richter dann entscheiden, ob und wie die einstweilige Anordnung gegebenenfalls verlängert werden kann. Mit dem Beginn der Hauptverhandlung ist deshalb vermutlich nicht vor Jahresende zu rechnen.
Es hat aber die Datenspeicherung nach Paragraf 113a Telekommunikationsgesetz, der die Speicherungspflicht regelt, nicht abgestellt, da es von seiner Befugnis, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, "nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen" wolle, um den Handlungsspielraum der Exekutive nicht über Gebühr einzuschränken.
40.000 Verbindungsdaten abgefragt
Allein im Jahr 2005 hatten dem Gericht zufolge die Behörden mehr als 40.000 Verbindungsdaten abgerufen, die Telekommunikationsanbieter zu Abrechnungszwecken gespeichert hatten.
Erste Reaktion des AK Vorrat
In einer Aussendung vom Mittwoch begrüßte die Bürgerrechtsorganisation Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung [AK Vorrat] die Entscheidung des Gerichts, die verdachtsunabhängige Speicherung aller Verbindungsdaten einzuschränken.
Die Organisation forderte die deutsche Bundesjustizministerin Brigitte Zypries [SPD] zum Rücktritt auf, weil diese die Vorratsdatenspeicherung gegen den Willen des Bundestages ausgehandelt habe. Der AK Vorrat hatte die Verfassungsbeschwerde initiiert.
Die Bürgerrechtler fordern nun auch den Stopp ähnlicher verdachtsunabhängiger Erfassungspläne, die Rückschlüsse auf Kommunikations- und Bewegungsmuster aller Bürger erlauben, darunter auch die staatliche Registrierung aller Flugreisen [PNR-Speicherung] und die Erfassung und Auswertung von Brief- und Paketsendungen.
"In einem freiheitlichen Rechtsstaat ist eine anlasslose, massenhafte, computerisierte Erfassung beliebiger Personen ins Blaue hinein nicht hinnehmbar", so die Aussendung des AK Vorrat.
Datenschutzbeauftragter zufrieden
Der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Peter Schaar, hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur massenhaften Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten begrüßt. "Ich bin erstmal zufrieden", sagte Schaar am Mittwoch in Berlin. Er zeigte sich zuversichtlich, dass die Karlsruher Richter auch bei der Entscheidung in der Hauptsache ihrer Linie treu bleiben werden.
Schaar rechnet damit, dass bis zur endgültigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs [EuGh] vorliegt. Irland hatte aus formalen Gründen gegen die EU-Richtlinie geklagt. Dabei geht es nicht um die Inhalte der Datenspeicherung, sondern um die Frage, ob die EU überhaupt berechtigt war, eine solche Richtlinie zu erlassen.
Rechtskonflikt mit EU
Sollte der EuGh die Richtlinie verwerfen, wäre das Bundesverfassungsgericht frei, allein nach der deutschen Verfassung zu entscheiden, betonte Schaar. Derzeit sei noch nicht darüber entschieden, inwieweit die europarechtliche Vorgabe deutsches Recht breche.
Grundsätzlich positiv äußerte sich Schaar über die jüngsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Datenschutz. Karlsruhe korrigiere mit zunehmender Frequenz den Gesetzgeber. Der Staat müsse die Grundrechte respektieren. "Es darf keine Ermittlungen ins Blaue geben", sagte Schaar.
Österreich wartet ab
In Österreich wartet die Bundesregierung derzeit den Spruch des Europäischen Gerichtshofs zur Data-Retention ab. Wirtschaft und Bürgerrechtler haben sich wiederholt stark gegen die Umsetzung der EG-Richtlinie zur Data-Retention ausgesprochen.
Zypries sehr zufrieden
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries [SPD] hat gelassen auf die Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung reagiert. Die Strafverfolgungsbehörden könnten mit der Übergangsregelung gut leben, die sich aus der Karlsruher Entscheidung ergebe, erklärte das Bundesjustizministerium am Mittwoch in Berlin.
Die Daten könnten weiter gespeichert und bei der Verfolgung schwerer Straftaten auch an die Behörden übermittelt werden. Geringfügige Einschränkungen gebe es lediglich bei der Verfolgung von Taten, die nur als erheblich eingestuft würden, sowie bei Taten, die mittels Telekommunikation begangen worden seien.
Nicht zu früh freuen
Nach Ansicht des innenpolitischen Sprechers der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kein Erfolg für die Kläger. "Die Kläger können mit dieser Entscheidung nicht sehr zufrieden sein", sagte er am Mittwoch "Spiegel Online".
Das Gericht habe lediglich angedeutet, dass bei weniger schweren Straftaten eventuell verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Datenweiterleitung an die Sicherheitsbehörden bestünden. "Im Kern hat das Gesetz aber Bestand", betonte Wiefelspütz. "Das Speichern ist nicht außer Kraft gesetzt."
Die Entscheidung sei eine Mahnung an den Gesetzgeber, präziser zu arbeiten, sagte Wiefelspütz. Es gebe aber "keinen Grunddissens zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht" auf dem Feld der Inneren Sicherheit.
(dpa | futurezone)