Netzwerke im Jahr 2020

25.05.2008

"Next Generation Networks", "New Generation Networks", "Netzwerk der Zukunft": Egal wie man es nennt, keiner weiß heute, was es wird. Niemand kann sagen: Das ist die neue Architektur, das sind die neuen Protokolle. Aber alle denken über die Zukunft nach - die Amerikaner genauso wie die Japaner und Europäer.

Die Konferenz "Kaleidoskop - Innovationen für die nächste Generation an Netzwerken - Zukünfte, Netzwerke und Services", die vergangene Woche in Genf stattfand, wollte keine Antworten liefern. Vielmehr diente sie dem Veranstalter, dem Standardisierungsgremium für den Telekommunikationssektor [ITU-T], dazu, sich zu informieren und mögliche neue Aufgabenbereiche zu erkennen.

Diese Art der Themenfindung, so Kai Jakobs, sei in den Standardisierungsgremien derzeit sehr beliebt. In Genf holte man vergangene Woche dazu die Meinung der Wissenschaftler ein.

Jakobs arbeitet auf dem Lehrstuhl für Informatik 4 an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen.

Ende von TCP/IP?

Das alte Internet und seine Protokolle hätten ausgedient, TCP/IP eigne sich mehr schlecht als recht für Streaming und zur Übertagung von hochauflösenden Multimedia-Anwendungen, zeigte man sich in Genf einig.

Die Sicherheit für das digitale Geschäft sei ein weiteres Problem. Aber nicht nur die Protokolle gehörten überarbeitet, sondern auch die Infrastruktur: Kupferleitungen sollten endlich der Vergangenheit angehören. Man setzt auf Glasfaser. Photonik statt Elektronik lautet die Vorgabe. Schließlich sollen datenintensive Anwendungen wie Videokonferenzen und digitales Kino endlich sinnvoll umgesetzt werden.

Einig waren sich die Wissenschaftler und die Ingenieure des Standardisierungsgremiums ITU-T auch darin, dass in Zukunft Mobilfunk, Internet und Sensornetzwerke zusammengeführt werden.

Alles neu?

Kopfschütteln erntete hingegen der Japaner Tomonori Aoyama von der Universität Keio in Tokio. Er verkündete: "Wir brauchen einen Neuanfang, ziehen wir einen Schlusstrich." Aoyama spricht auch nicht mehr über eine "nächste" Generation von Netzwerken, sondern über eine "neue" Generation. Sein Akronym dafür: NWGN [NeW Generation Networks].

Seine Erklärung klingt eigentlich sehr einleuchtend, aber sie passt eben nicht zu der Vorstellung der Standardisierungsgremien: Als in den 1960er Jahren die beiden Computerwissenschaftler Paul Baran in den USA und Donald Watts Davies in England nach einer neuen Lösung für die digitale Datenübertragung suchten, fragten sie sich auch nicht, ob ihre Konzepte den Vorstellungen der Postingenieure gefallen würden. Baran und Watts Davies kamen damals unabhängig voneinander zur Erkenntnis, dass Nachrichten auch in Form von kleinen Datenpaketen über das Netz transportiert werden können. "Packet Switching", paketvermittelte Datenübertragung, nannte es Watts Davies.

Paradigmenwechsel brauchen Zeit

Es gab bei dem Treffen der ITU-T zwar einige, die einen Paradigmenwechsel forderten, aber niemand unterstützte den Vorschlag von Aoyama. Bestenfalls fand man die Idee "interessant".

Paradigmenwechsel brauchen eben ihre Zeit. "In der Geschichte der Telekommunikation gab es bisher nur zwei", sagte Aoyama. "Von der Telegrafie zum Telefon und von der Telefonie zum Internet."

Nachdenken über 2020

Die Forscher müssten aber jetzt damit beginnen, über eine neue Architektur und Protokolle nachzudenken, damit sie 2015 oder 2020 wissen, wie mit den neuen Anforderungen umgegangen werden kann. "Keiner weiß heute, wie die aussehen werden, aber wir in Japan denken, dass es mit der bloßen Verbesserung von existierenden Internet-Protokollen nicht getan sein wird."

Neue Konzepte müssten her, damit Anwendungen wie wandgroße Gigapixel-Wallpaper und die Überwachung der Umwelt mit Hilfe einer großen Anzahl von Sensoren verwirklicht werden können. Aoyama rechnet damit, dass 2020 Übertragunsraten im Bereich von Petabit/s notwendig sein werden. Dafür braucht man neue Router und neue Konzepte für die Energieversorgung. Wenn Aoyama über digitales Kino redet, dann meint er damit nicht HDTV, sondern K4 mit einer Auflösung von 4.096 x 2.160 Pixel [zum Vergleich HDTV: 1.920 x 1.080]. Kino ist für Aoyama nicht Fernsehen.

Auch an der Möglichkeit, das Netzwerk selbst zu virtualisieren, wird in Japan gearbeitet. Dabei soll das Netzwerk zu einer Art Betriebssystem mutieren, um so flexibel wie möglich die Implementierung von neuen Applikationen und den Wechsel von einem Netzwerk ins andere bewerkstelligen zu können.

Ein Blick nach vorne oder doch zurück?

Aoyama nimmt sich den Freiraum, das Design und die Prinzipien des heutigen Internets grundlegend zu hinterfragen und hat dafür auch die Unterstützung der japanische Regierung. Zwei Milliarden Yen, umgerechnet rund zwölf Millionen Euro, ist ihr das Projekt "Akari" wert.

Blick zurück

Aoyama scheut dabei auch nicht den Blick zurück. Er stellt sich zum Beispiel die Frage, ob es wirklich Sinn habe, weiterhin dem Ansatz von TCP/IP zu folgen, der besagt, das Netzwerk sei dumm zu halten und die Intelligenz an den Enden anzusiedeln. Und selbst die Paketvermittlung ist für ihn nicht in Stein gemeißelt. In manchen Situationen, bei der Übertragung von großen Datenmengen, so Aoyama, könnte es durchaus Sinn ergeben, auf ein wesentlich älteres Netzwerkmodell der Telefonie zurückzugreifen: den Aufbau einer festen Leitungsverbindung zwischen A und B, genannt Circuit Switching.

Ein erstaunlicher Vorschlag, wenn man bedenkt, wem er in Genf unterbreitet wurde: Vertretern der ITU-T, die sich in den 1970ern und 1980ern noch CCITT [Comite Consultatif International Telephonique et Telegraphique] nannte und sich jahrzehntelang vehement gegen Datagrams, TCP/IP und Packet Switching ausgesprochen hat.

Mehr dazu am Sonntagabend in "matrix" um 22.30 Uhr in Ö1

(Mariann Unterluggauer)