Über die Wissenswelt vor Google
Auf einer Tagung in Wien gehen Historiker, Philosophen und Medienwissenschaftler der Frage nach, wie die Wissenswelt "vor Google" organisiert war. ORF.at unterhielt sich mit den Organisatoren Anton Tantner und Thomas Brandstetter von der Universität Wien über Wissen und Macht - und darüber, wie "Ego-Googeln" in der Habsburger-Monarchie funktionierte.
Auf der Tagung "Vor Google", die vom 9. bis 11. Oktober in Wien stattfindet, spüren Historiker, Philosophen und Medienwissenschaftler den Vorläufersystemen unserer heutigen Suchmaschinen nach.
Was heute der Google-Bot erledigt, besorgten in früheren Jahrhunderten einzelne Gelehrte, Bibliothekare, spezialisierte Auskunftsbüros und eifrige Lakaien.
ORF.at unterhielt sich mit den Organisatoren der Tagung von der Universität Wien, dem Historiker Anton Tantner und dem Philosophen Thomas Brandstetter, über den Wandel der Wissensorganisation im Lauf der Zeit und über die Frage, wer heute der Herr ist - der Google-Bot oder seine Nutzer.
Thomas Brandstetter, Philosoph, befasst sich am Institut für Philosophie der Universität Wien unter anderem mit Wissensmanagementsystemen.
ORF.at: Wie sind Sie darauf gekommen, sich mit Suchmaschinen und deren Vorläufern wissenschaftlich zu befassen?
Anton Tantner: Als Historiker ist das sehr naheliegend, sich ausgehend von einem Phänomen, mit dem wir alltäglich konfrontiert sind, damit auseinanderzusetzen, wie bestimmte Dinge in der Vergangenheit funktioniert haben. Im Fall von Google fragt man sich, wie die Suche nach Informationen im Zeitalter vor dem Internet funktioniert hat. Es gibt schon Forschungsergebnisse zur Geschichte der Karteikarte oder zur Geschichte des Zeitungsausschnitts. Es lag nahe, einen Aufruf unter Wissenschaftlern zu starten und nachzusehen, wer Forschungen betreibt, die sich unter dem Oberbegriff einer Vorgeschichte von Suchmaschinen einordnen lassen.
Thomas Brandstetter: Das Suchen und Finden ist natürlich auch ein großer Teil unserer wissenschaftlichen Tätigkeit. Bei uns geht es oft darum, Vorgänge in Archiven zu entdecken. Da ist es natürlich spannend, historisch in die Tiefe zu gehen und dieser Praxis nachzuforschen.
Anton Tantner, Historiker, arbeitet zum Thema Adressbüros in der Frühen Neuzeit am Institut für Geschichte der Universität Wien.
Der Wiener Historiker Anton Tantner hat sich damit beschäftigt, wie die österreichischen Städte und Dörfer zu ihren Hausnummern gekommen sind. Er beschreibt, wie der moderne Staat sich selbst konstruiert, indem er Menschen und Häuser erfasst.
ORF.at: Das Zusammenspiel zwischen Menschen und Maschinen ist interessant. Google nutzt in seinem PageRank-System ja auch menschliche Arbeit, weil es ja wir sind, die die Links setzen.
Anton Tantner: Es gibt Formalisierungsversuche auch im Zeitalter vor Google, was technische Medien betrifft, wenn man Papier als ein Medium betrachten möchte. Es geht um Systeme, die als Gedächtnisspeicher zur Verwaltung von Wissen dienen. Menschliches Wissen wird in sie ausgelagert, in Karteikarten oder Zettelsysteme. Was PageRank von Google angeht, so lassen sich auch hier Vorläufer nachweisen. Dazu haben wir einen Vortrag von Bernhard Rieder, in dem es um Zitationsanalysen geht, also um die Frage "wer zitiert wen?" und darum, wie man die Qualität eines wissenschaftlichen Beitrags messen kann. Man sieht dann nach, wer wie häufig in einem hoch eingestuften Journal zitiert wird. Das ist ja auch das System, das Googles PageRank zugrunde liegt. Bernhard Rieder beschäftigt sich damit, wie mathematische Modelle verwendet werden, um ein solches Ranking zu ermöglichen.
Thomas Brandstetter: Bei zeitgenössischen Suchmaschinen ist es auch so, dass wahnsinnig viel in die Technik hineinprojiziert wird. Phantasmen von der Allverfügbarkeit des Wissens. Auch bei den Zettelkästen ging es schon darum, "Information at your fingertips" jederzeit verfügbar zu haben. Diese Phantasmen interessieren mich, weil sie viel über die Wissensutopien ihrer Zeit aussagen.
Anton Tantner: Diese Allwissensphantasien kommen oft mit neuen Techniken auf. Peter Haber, der dazu einen Vortrag hält, hat sich in seinen Weblogeinträgen in den letzten Wochen und Monaten schon damit beschäftigt und zitiert da unter anderem eine jüdische Tradition, in der es die Annahme gibt, dass jedes ungeborene Kind den Talmud vollständig im Kopf hat, dass dieses Wissen aber bei der Geburt verloren geht. Das zweite Beispiel, das er zitiert, ist das "Schlaue Buch" von Donald Ducks Neffen Tick, Trick und Track, das ja auch die Utopie verkörpert, das gesamte Wissen jederzeit bereitzuhalten.
ORF.at: Ganz zu schweigen vom Reiseführer "Per Anhalter durch die Galaxis". Hat es diese Utopie der permanenten Verfügbarkeit des Weltwissens immer schon gegeben?
Anton Tantner: Das ist eine Utopie, die immer von Neuem entsteht und die auch sehr geschichtsvergessen ist. Man muss ja immer wieder in Erinnerung rufen, dass es schon vorher solche Versuche gegeben hat, beispielsweise die Bibliothek von Alexandria oder Projekte wie die Universal-Enzyklopädien. Das ist etwas, das immer wieder vergessen und in neuen Medien wieder von vorne entwickelt wird.
Thomas Brandstetter: Vielleicht hat die aktuelle Ausprägung dieser Utopie damit zu tun, dass das Wissen nicht nur überall verfügbar sein, sondern dass es vor allem auch praktisch anwendbares Wissen sein soll. Das ist so der Ansatz von Tick, Trick und Track. In dem Handbuch stehen auch Lösungen für Probleme drin, und zwar solche, die möglichst schnell und effizient funktionieren. Das ist bei Google auch so. Man will schnell die Fakten haben, ohne sich durch die Literatur wühlen zu müssen.
ORF.at: Sie untersuchen Dienstleistungsstrukturen. Sie schreiben da von Dienern und Lakaien, die Informationen besorgen. Wie hat sich das historische Verhältnis zwischen Auftraggebern und Informationsbeschaffern entwickelt? Wer beherrscht da wen?
Anton Tantner: Es ist ja tatsächlich so, dass ein Hausdiener, wie es dann Markus Krajewski in seinem Vortrag beschreiben wird, eine ziemlich starke Machtposition innehatte. Er kennt die geheimsten Vorlieben seiner Herrschaft und er kann dieses Wissen durchaus als Druckmittel einsetzen.
ORF.at: Wie verhalten sich diese Wissensdienstleister zur Macht? Werden sie nur von oben her instruiert, oder gibt es auch eine Selbstorganisation von unten?
Thomas Brandstetter: Der französische Philosoph Michel Foucault hat die Organisation von Wissen auch mit einer neuen Regierungstechnik verknüpft, die ab dem 17. Jahrhundert aufkam. Die Regierung kümmert sich plötzlich um die kleinsten Details, was die Bevölkerung angeht. Man kann das als Biopolitik verstehen. Wenn man möglichst viel weiß, kann man in vielen Momenten möglichst detailhaft eingreifen. Es gibt parallel aber auch immer "Such- und Findmaschinen", die auf einer anderen Ebene funktionieren. Man denke an die Briefwechsel zwischen Gelehrten im 17. Jahrhundert. Menschen wie der französische Mönch und Gelehrte Marin Mersenne, der den internationalen wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit zusammengeführt und wieder verteilt hat. Da gab es zwar Mersenne als Zentrum, aber es spielte sich viel zwischen den Individuen ab. Die Ein- und Ausschlusskriterien waren damals auch noch nicht so stark wie in heutigen wissenschaftlichen Institutionen. Die zivile Nutzung des Internets ist sicher auch ein Beispiel hierfür.
ORF.at: Sie haben die Bibliothek von Alexandria erwähnt. Die ist ja abgebrannt. Wie sehen Sie als Historiker die heutigen digitalen Werkzeuge aus der geschichtlichen Perspektive?
Anton Tantner: Es gibt natürlich die Frage der Langzeitarchivierung, die ja aktuell das große Thema von Bibliotheken ist. Wie kann man sicherstellen, dass man in 20 Jahren unsere Dateien noch lesbar sein werden. Ein schönes Beispiel ist natürlich das von der Volkszählung, wobei Daten aus dem 18. Jahrhundert heute noch problemlos gelesen werden können. Die Magnetspeicherbänder der britischen Volkszählung aus den 1960er Jahren sind aber heute nicht mehr abspielbar. Die österreichische Nationalbibliothek hat jetzt den Auftrag, alle Sites, die unter der österreichischen Länder-Domain .at laufen, zu archivieren. Bei Großereignissen wie der Fußball-EM und den Nationalratswahlen archiviert sie ausgewählte Online-Quellen ja heute schon. Zugriff auf die archivierten Daten bekommt man allerdings nur, wenn man die Nationalbibliothek selbst aufsucht. Heute haben wir es mit Unmengen von Daten zu tun, die es haltbar zu machen gilt. Es gibt auch private Initiativen wie das Internet Archive von Brewster Kahle. Der Zugriff ist halt nicht so bequem wie der über Google.
Thomas Brandstetter: Der Verlust von Daten ist aber immer wieder auch produktiv gewesen. In der Geschichte der Wissenschaft haben fehlende oder verlorene Daten auch immer gereizt, sie zu ergänzen oder neue Wege zu finden, an sie zu gelangen.
Anton Tantner: Diese Frage des Vergessens ist sehr interessant. Einerseits fürchtet man sich vor dem Verlust beispielsweise von E-Mails. Andererseits gibt es immer wieder Skandale, in deren Ablauf herauskommt, dass sie doch irgendwo gespeichert waren und als untote Datenleichen wiederkehren. Interessant war auch der Fall, als Google seinerzeit die Usenet-Archive gekauft und zugänglich gemacht hat. Da war das auch vielen Leuten unangenehm, dass diese Daten aus den 1980er und 1990er Jahren plötzlich allen zugänglich und leicht durchsuchbar waren. Auch bei diesem Verfahren gegen die Tierschützer neulich sind E-Mails dazu benutzt worden, um Inhaftierungen zu rechtfertigen.
ORF.at: Haben Sie eigentlich ein historisches "Lieblings-Google"?
Anton Tantner: Naja, das ist natürlich das, womit ich mich selbst beschäftige. Das sind diese Adressbüros, die in der Habsburgermonarchie den schönen Namen "Fragamt" hatten. Es gab tatsächlich in den 1780er Jahren das kurzfristige Projekt einer Zeitschrift, die hieß "Das gelehrte Fragamt". Leider ist davon nur die Ankündigung erhalten. Darin hat der Initiant des Projekts geschrieben, dass es ja schon viele Zeitungen gebe und er nicht wisse, was er veröffentlichen solle. Man wolle ihm doch einfach Fragen schicken, die er dann in seiner Zeitung beantworten würde. Das ist natürlich schon sehr charmant.
Thomas Brandstetter: Ich habe da jetzt keine besondere Präferenz. Mich haben diese Briefwechsel zwischen Gelehrten im frühen 17. Jahrhundert interessiert, die eigentlich nicht institutionalisiert waren, aber in deren Rahmen dennoch unglaublich viele Informationen verarbeitet und im Fluss gehalten wurden. Man hat auch viele Detailfragen behandelt, etwa die Qualität von optischen Linsen, die in Holland hergestellt werden und wie man an diese herankommt. Das ist ein Fall von selbstorganisiertem Informationsaustausch. Das war eine Zeit, in der sich bestimmte alte Formen von Informationsorganisation delegitimiert haben. Rene Descartes fing immer wieder neu an. Francis Bacon hat geschrieben, dass er wieder von Neuem anfangen muss, dass man die Wissenschaft nicht auf die Bücher der alten Gelehrten gründen soll, sondern auf die Anschauung der Natur. Gerade deshalb werden in dieser Zeit wahnsinnig viele neue Informationen produziert, an verschiedenen Orten, die natürlich auch ausgetauscht und verglichen werden müssen.
Anton Tantner: Es gab auch früher einen Hang zum "Ego-Googlen", also dem Suchen nach dem eigenen Namen. Man suchte damals eben in Staatshandbüchern, die die Namen und zum Teil auch die Wohnhäuser des Hofstaates und der Beamten umfassen. Die gibt es seit dem 17. Jahrhundert. Damals war es natürlich sehr wichtig für die jeweiligen Beamten, sich in diesen Verzeichnissen zu finden. Das wurde auch zeitgenössisch bemerkt. Man hat auch gerne nachgesehen, ob der eigene Familienname im "Wurzbach", also im großen biographischen Lexikon, das im 19. Jahrhundert in der Habsburgermonarchie erstellt worden ist, aufscheint.
ORF.at: Menschen haben ja schon seit sehr langer Zeit versucht, ihr Wissen zu organisieren. Ist das eine Konstante in der Geschichte, oder gibt es da immer wieder Brüche?
Anton Tantner: Vielleicht ist es tatsächlich noch zu früh, das festzustellen. Diese Frage nach der Organisation des Wissens wird in vielen Forschungsdisziplinen erst jetzt gestellt. Brüche werden sich erst dann feststellen lassen, wenn man sich die Ergebnisse daraus ansehen kann.
ORF.at: Gibt es einen neuen Trend in den Sozial- und Geisteswissenschaften, sich angesichts von Google und anderen Werkzeugen mit diesen Fragen zu beschäftigen?
Anton Tantner: Es gibt tatsächlich, aus der Bibliothekswissenschaft kommend, Informationswissenschaftler, die sich auch historisch damit beschäftigt haben. Die große Frage ist auch die nach der "digitalen Generation", die sozialwissenschaftlich intensiv beforscht wird. Wie organisieren Schulkinder im Internet-Zeitalter ihr Wissen? Wie verwenden sie Suchmaschinen? Das wird in Zukunft auch immer wichtiger für die universitäre Lehre. Was sollen Hochschullehrer in Zukunft vermitteln?
Thomas Brandstetter: In den Medienwissenschaften, etwa bei Harold Innis oder Marshall McLuhan, hat man sich viel mit dem materiellen Aspekt von Wissen beschäftigt. Man hat in großen Entwürfen versucht, Kommunikationsstrukturen und Wege zur Verbreitung von Wissen sichtbar zu machen. Daher kommt auch im deutschsprachigen Raum die Beschäftigung mit Ordnungssystemen, mit den medialen Bedingungen des Wissens.
ORF.at: Von wegen Materie. Luhmanns Zettelkasten war ja noch so ein Ding, das man angreifen konnte. Google ist aber ein Un-Ort.
Thomas Brandstetter: Ja, so hausbacken gesagt, wenn mein Computer eingehen würde, dann wäre das tragisch. Ich verwalte alle meine Daten, Aufzeichnungen und bibliographischen Informationen auf meinem Notebook, und ich bin halbwegs paranoid, was die Sicherung der Daten betrifft. Ich habe externe Festplatten, die ich nicht am selben Ort aufbewahre wie den Computer und so weiter.
ORF.at: Wenn Sie sich die Beiträge zu der Tagung vergegenwärtigen, sehen Sie da einen Trend in der Forschung zu Wissenssystemen?
Anton Tantner: Die Forschung ist auf diesem Gebiet bisher tatsächlich noch nicht besonders gut vernetzt gewesen. Sie findet auf ganz unterschiedlichen Feldern statt. Wir haben Medienwissenschaftler, klassisch ausgebildete Historiker, Literaturwissenschaftlerinnen, Philosophen. In allen Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften ist ein Trend feststellbar der aber bisher - so habe ich den Eindruck - noch nicht zusammengekommen ist.
ORF.at: Für einen Historiker ist das doch auch ein Nachdenken über die eigene Methodik.
Anton Tantner: Ja. Da kommt natürlich auch die Frage auf, wie Historiker arbeiten. Man sieht, welche Recherchestrategien Historiker früherer Zeiten verwendet haben. Das führt zur Selbstreflektion. Die modernen Methoden, etwa mit dem Laptop ins Archiv zu gehen, haben sich auch noch nicht formalisiert. Da hat jeder sein eigenes selbstgestricktes System, wie er Informationen in Datenbanken eingibt. Interessanterweise wird darüber auch noch recht wenig gesprochen.
Thomas Brandstetter: Eine andere schwierige Frage ist das Problem mit den Plagiaten. Das sollte man nicht als den Untergang des Abendlandes verstehen, aber es ist schon ein Problem des Umgangs mit einer neuen Technologie. Darüber muss noch mehr nachgedacht werden, wie wissenschaftliches Schreiben auf digitaler Basis funktioniert.
ORF.at: Kann man aus historischer Perspektive sagen, wie sich Wissen verflüchtigt und verfestigt?
Anton Tantner: Ich habe schon den Eindruck, dass man das feststellen kann. Es wäre ein künftiges Publikationswesen vorstellbar, bei dem man erste Überlegungen zu einem Projekt in einem Weblog publiziert, dann als Preprint, dann trägt man das einmal vor, dann gibt es einen Sammelband - dessen Inhalte dann auch online sind - und zum Schluss gibt es dann als großes Ergebnis die Monographie, also das Buch als sicherste Form im Sinne einer Langzeitarchivierung.
(futurezone | Günter Hack)