Österreich verleiht Big Brother Awards
Im Wiener Rabenhof Theater ist am Samstagabend die zehnte Ausgabe der Big Brother Awards Österreich über die Bühne gegangen. Die unbeliebten Preise für Überwacher gingen unter anderem an Wiener Wohnen, die Post AG, UPC, TIWAG, Telekom Austria und die ehemaligen Sicherheitssprecher Günter Kössl [ÖVP] und Rudolf Parnigoni [SPÖ].
In sechs Kategorien wurden auch dieses Jahr wieder die größten Datenkraken in das Licht der Öffentlichkeit gezerrt und in der "Hall of Shame" öffentlich geschmäht durch Preise, die sie nicht gewinnen, und Laudatios, die sie nicht hören wollen.
In der Kategorie "Politik" waren Kössl und Parnigoni nicht zu schlagen. Die Verbschiedung einer in den letzten Stunden davor von Kössl und Parnigoni abgeänderten Novelle des Sicherheitspolizeigesetzes als letzter Punkt der letzten Parlamentssitzung des Jahres 2007 war in der Öffentlichkeit auf breiten Widerstand gestoßen.
Die Novelle erlaubt der Polizei, IP-Adressen und Handystandortdaten ohne richterliche Kontrolle abzufragen, Stichworte: "Gefahr im Verzug", "Auffindung verirrter Wanderer vermittels IMSI-Catcher".
Überwachung im Gemeindebau
In der Kategorie "Behörden und Verwaltung" setzte sich die Gemeindebauverwaltung gegen ihre Konkurrenz durch: Daniela Strassl erhielt stellvertretend für Wiener Wohnen den Award. Möglich machten es die Videoüberwachung in Müllräumen, Karten mit Funkchips für die zentrale Verwaltung von Waschküchen und, neu, ein als "anonym" beschriebener Fragebogen mit intimen Fragen zu den Nachbarn und dem Sicherheitsgefühl, auf dem die Kundennummer als Strichcode der automatisierten Zuordnung diente, so die Veranstalter der Big Brother Awards.
TIWAG bespitzelt Kritiker
Als "Sieger" der Kategorie "Business und Finanzen" ging der Vorstandsvorsitzende der Tiroler Wasserkraft AG [TIWAG], Bruno Wallnöfer, mit seinem beinahe vier Jahre währenden Versuch, einen Kritiker mundtot zu machen, hervor.
Der Ötztaler Publizist Markus Wilhelm berichtete im Netz über die Ausbaupläne der TIWAG in unverbauten Alpentälern, Vetternwirtschaft und die dubiosen Cross-Border-Leasingverträge von TIWAG-Kraftwerken, die immerhin in öffentlichem Eigentum stehen. Erst versuchte die TIWAG, die verwendete Domain im Handstreich auszuschalten, dann wurde Wilhelm für seine Veröffentlichung mit Klagen in existenzbedrohender Höhe eingedeckt. Nun kam heraus, dass der Energieversorger - Eigentümer ist das Land Tirol - dem Kritiker Wilhelm auch ein Detektivbüro auf den Hals gehetzt hatte. Über 1.000 Stunden ließ die TIWAG gegen Wilhelm ermitteln, Kostenpunkt: 152.000 Euro.
UPC und die Privatsphäre
Im Bereich "Kommunikation" ging der Award an den Internet-Provider UPC/Chello, der in Österreich ein fragwürdiges Service testet: Das von UPC verwendete System der US-Firma Nominum fängt Tippfehler bei der Adresseingabe im Browser ab und leitet sie an den kommerziellen Werbe- und Suchdienst InfoSpace weiter. Das passiert ungefragt für alle, außer man meldet sich aktiv davon ab oder betreibt einen eigenen Name-Server. Alle anderen werden von Infospace mit kommerziellen Werbebannern und einem eindeutigen Cookie beglückt, Ablaufdatum: das Jahr 2108.
UPC beteuert zwar, während der mehrmonatigen Testphase noch kein Geld daran zu verdienen. Tatsache ist aber laut Big-Brother-Jury, dass ein großer österreichischer Provider die Privatsphäre seiner Kunden ungefragt an ausländische Werbefirmen verscherbelt, die zu weit entfernt sind, um europäischen Datenschutzbestimmungen zu entsprechen.
Veranstaltet werden die Big Brother Awards von quintessenz - Verein zur Wiederherstellung der Bürgerrechte im Informationszeitalter und Vibe!at - Verein für Internet-Benutzer Österreichs.
Post als "lebenslanges Ärgernis"
Der Award für ein "lebenslanges Ärgernis" ging heuer an die Post AG. 2001 wurden die Postler für ihre Kollaboration mit dem Datenhändler Schober bereits mit einem Award ausgezeichnet. Schober bot die persönlichen Daten "von allen 5,5 Millionen erwachsenen Privatpersonen in Österreich mit bis zu 100 marketingrelevanten Merkmalen pro Person" an.
2003 setzte es Award Nummer zwei für die Datenerhebungspraxis über ein Formular, an dem in Österreich niemand vorbeikommt, der die Adresse wechselt. Mit Erteilung eines Nachsendeauftrags stimmte man automatisch der Datenweitergabe zu. Wer das nicht wollte, musste ein zweites Formular zum Widerruf ausfüllen.
2008 ist die Passage zum Widerruf zwar auf dem [Papier-]Formular vorhanden, aber im Kleingedruckten so gut versteckt, dass sie kaum wahrgenommen wird. Wer seinen Antrag im Netz ausfüllt, hat auf direktem Weg keine Chance, die Weitergabe der Daten abzulehnen, denn das Formular enthält kein Feld, das diese Option anbietet. Die einzige Möglichkeit ist, die entsprechende Passage auf dem Ausdruck manuell durchzustreichen.
Seit Anfang 2008 verlangt die Post bei Nachnahmesendungen jetzt auch die Bekanntgabe von Geburtsdatum und -ort. Dabei beruft man sich auf EU-Vorgaben zur Bekämpfung von "Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung".
Telekom Austria siegt bei Volkswahl
Bei der "Volkswahl" errang die Telekom Austria den Sieg für die Weitergabe von Kundendaten an die Pornoindustrie: Die in Deutschland grassierende Abmahnwelle - im letzten Jahr wurden nach übereinstimmenden Schätzungen etwa 150.000 Menschen wegen angeblicher Verletzung der Urheberrechte abgemahnt - ist im Herbst 2008
nach Österreich übergeschwappt. Auf Begehren einer Vorarlberger Anwaltskanzlei, die im Auftrag von Pornofirmen tätig wurde, gab die Telekom Austria die persönlichen Daten der Kunden von Hunderten
Breitbandanschlüssen weiter.
Die Telekom Austria berief sich erst auf die Rechtslage: Laut OGH-Entscheid sei man verpflichtet, bei Urheberrechtsverletzungen Stammdaten und IP-Adressen der Kunden
herauszugeben. Weder der Verband der Internet-Provider [ISPA] noch die Mitbewerber der TA - also alle anderen - teilen diese Rechtsansicht,
Bedingung für die Datenweitergabe ist für sie
immer noch der Beschluss eines ordentlichen Gerichts. Dass man auch bei der TA von der eigenen Rechtsmeinung nicht wirklich überzeugt war, beweist der Schwenk: Nach lautstarken Protesten der Kunden wurde die Datenweitergabe abgestellt.
Am Freitag waren im Rahmen der neunten Big Brother Awards in Deutschland unter anderem an die Deutsche Telekom und die Abgeordneten des deutschen Bundestags Preise verliehen worden.
"Defendor libertatis" an Marzouki
Der einzige Positivpreis bei den Big Brother Awards, der "Defendor libertatis", wird alljährlich an Personen und Organisationen verliehen, die sich durch lobenswerten Widerstand gegen Überwachungsmaßnahmen hervortun. In diesem Jahr erhielt diese Auszeichnung Meryem Marzouki, Kosmopolitin und Doyenne der Bürgerrechte im
Informationszeitalter.
Seit sich die digitale Bürgerrechtsbewegung Europas Mitte der 90er Jahre zu konstituieren begann, ist ihr Name nicht mehr wegzudenken.
Marzouki war 1996 Gründungsmitglied der ersten weltweiten Dachorganisation Global Internet Liberty Campaign und wirkte seitdem bei jeder großen Aufklärungskampagne gegen Zensur und Verschlüsselungsverbote, gegen Überwachung, Gängelung und Kontrolle federführend mit. Parallel
dazu baute sie in Frankreich mit IRIS eine der schlagkräftigsten Truppen im Kampf gegen die Überwachungslawine in Europa auf.
Dass Marzouki nach der Jahrtausendwende zur Vorsitzenden des Dachverbands European Digital Rights [EDRi] gewählt wurde, war nur
konsequent und - wenn auch im Nachhinein betrachtet - eigentlich voraussehbar.
Als Vorsitzende eines Dachverbands von Cyber-Habenichtsen, die durch ihr Engagement fehlende Budgets mehr als kompensieren, hat es die Doyenne
der digitalen Bürgerrechtsbewegung in Europa souverän verstanden, die Energien zu bündeln und über alle nationalen Grenzen hinweg der Forderung nach Wiederherstellung der Bürgerrechte im
Informationszeitalter lautstark Ausdruck zu verleihen.