Unternehmensethik gegen Netzzensur

01.11.2008

Mit der Global Network Initiative wollen sich Microsoft, Yahoo und andere IT-Konzerne einen Verhaltenskodex im Umgang mit repressiven Regimes geben. ORF.at sprach mit dem Juristen Urs Gasser, der an der Formulierung dieser Prinzipien mitgearbeitet hat, über die Chancen und Grenzen des Projekts.

Seit westliche Unternehmen wie Microsoft, Google und Yahoo in nicht demokratisch verfassten Staaten wie China Kommunikationsdienstleistungen anbieten, kommt es regelmäßig zu Problemen. Yahoo etwa hat die Daten von Dissidenten an die chinesischen Behörden übergeben und sich dabei auf die dort herrschende Gesetzeslage berufen, geriet aber daraufhin in seinem Ursprungsland USA unter Druck.

Unter der Ägide des liberalen Washingtoner Thinktanks Center for Democracy and Technology tat sich Ende 2006 eine Reihe von IT-Unternehmen, darunter Microsoft, Google und Yahoo, mit Bürgerrechtsorganisationen, Wissenschaftlern und Journalistenverbänden zusammen, um Verhaltensrichtlinien für Unternehmen auszuarbeiten.

Erste Prinzipien und Ziele

Die teilnehmenden Konzerne verpflichten sich darin auf den Schutz der Menschenrechte und der freien Meinungsäußerung. Am 28. Oktober veröffentlichte der Verband unter dem Namen Global Network Initiative [GNI] seine Prinzipien und Ziele im Netz.

ORF.at sprach mit dem Juristen Urs Gasser von der Forschungsstelle für Informationsrecht [FIR] der Universität St. Gallen darüber, ob solche freiwilligen Verpflichtungen im Ernstfall wirklich dabei helfen können, die Daten gefährdeter Personen vor dem Zugriff durch verfolgende Behörden zu schützen. Die FIR war die einzige europäische Institution, die an der Ausarbeitung der GNI-Prinzipien beteiligt war.

Gasser ist Professor an der Universität St. Gallen, Schweiz, und leitet dort die Forschungsstelle für Informationsrecht. Er ist auch als Faculty Fellow am Berkman Center an der Harvard University tätig. Er hat vor allem in der Startphase aktiv an der Konzeption der Initiative und der Formulierung der GNI-Prinzipien mitgewirkt.

ORF.at: Von wem ist die Initiative zur Formulierung der GNI-Prinzipien ausgegangen?

Urs Gasser: Am Anfang der Global Network Initiative stand die Erkenntnis führender amerikanischer Internet-Unternehmen, dass es einer strategischen Zusammenarbeit innerhalb der Informations- und Kommunikationsindustrie, aber auch der engen Kooperation mit Menschenrechtsorganisationen, Forschungszentren, Investoren und anderen Anspruchsgruppen bedarf, um mit den komplexen Herausforderungen im Zusammenhang mit Internet-Zensur und Privatsphärenschutz in Staaten mit repressiven Regimes angemessen umzugehen.

In einer Anhörung vor dem US-Kongress im Februar 2006 machten sich namentlich die Firmen Google und Yahoo sowie Microsoft für einen solchen kollaborativen, mitunter industrieweiten Ansatz stark.

ORF.at: Soweit ich sehe, ist die FIR die einzige europäische Institution, die an der Formulierung der GNI-Richtlinien beteiligt ist. Wie ist es dazu gekommen?

Urs Gasser: An der Forschungsstelle für Informationsrecht befassen wir uns seit längerer Zeit intensiv mit Fragen der globalen Internet-Regulierung und - als Element von Internet-Governance - mit den verschiedenen Formen der Standardsetzung, wozu eben auch Codes of Conduct wie die GNI-Prinzipien zählen. Dieses Wissen ist im Rahmen der vorliegenden Initiative eingeflossen. In den USA arbeiten wir sehr eng mit dem Berkman Center an der Harvard Law School zusammen, die die GNI komoderiert hat.

Eine Frucht dieser transatlantischen Zusammenarbeit ist, dass unsere Forschungsstelle eine Art Brückenfunktion zwischen den Kontinenten einnimmt und auch vermittelnd mit den unterschiedlichen Rechtssystemen, Kulturen und Mentalitäten umgehen kann. Schließlich bestand seitens der amerikanischen Kollegen ein großes Interesse daran, namentlich auch die europäische Sicht im Bereich Datenschutz mitzuberücksichtigen. An der FIR ist mit meinem Kollegen Herbert Burkert einer der führenden Datenschutzexperten Europas tätig, was bestimmt ein weiterer Grund für unser Mitwirken war.

ORF.at: In welchem Verhältnis sehen Sie Initiativen wie die GNI zu etablierten diplomatischen Diskursmechanismen zur Propagierung der Menschenrechte? Geht GNI einen Schritt weiter in der Implementation und Konkretisierung, oder ist es notwendig, Multi-Stakeholder-Prozesse von Unternehmen und NGOs aufzusetzen, weil die herkömmlichen Kanäle nicht ausreichen bzw. versagt haben?

Urs Gasser: In meiner Wahrnehmung handelt es sich um ein interaktives Verhältnis. Es hat sich in den letzten Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Wahrung und Förderung der Menschenrechte zwar primär in der Verantwortung der Staaten liegen, der private Sektor aber ethisch - und zu einem wachsenden Teil sogar auch rechtlich - ebenfalls in der Verantwortung steht.

Mit der GNI sehen wir nun einen industriespezifischen Effort, dieser steigenden Verantwortung im Zusammenspiel mit anderen Institutionen und Akteuren gerecht zu werden. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass wir es mit einer Materie zu tun haben, die raschem technischen Wandel unterworfen ist. Dies gilt sowohl mit Blick auf Verwendung der neuen Informationstechnologien zugunsten der Förderung von Menschenrechten, aber auch deren Verwendung zwecks Kontrolle oder Überwachung von Informationsströmen.

Zudem sind die Gesetze, die auf die Anbieter von Informations- und Kommunikationsprodukten und -dienstleistungen Anwendung finden, von Land zu Land verschieden - trotz der globalen Natur des Mediums Internet. Diese Differenzen und Komplexitäten müssen auch berücksichtigt werden, wenn es wie hier um freie Meinungsäußerung und Privatsphärenschutz geht. In diesem Sinne bedarf es eines echten Lernprozesses, der dann wiederum beispielsweise die Gesetzgebung oder die klassische Diplomatie informieren und jene letztlich effektiver machen kann.

ORF.at: Wie soll die Einhaltung der Prinzipien durch die beteiligten Unternehmen kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert werden?

Urs Gasser: In einer ersten Phase geht es nun darum, dass die beteiligten Unternehmen - weitere, auch aus Europa, sollen dazukommen - interne Richtlinien und Prozesse definieren, damit die Prinzipien umgesetzt werden können. Über diese Bestrebungen wird eine neu zu schaffende Multi-Stakeholder-Organisation regelmäßig Bericht erstatten. Innerhalb zweier Jahre soll dieser Prozess abgeschlossen sein.

In einer zweiten Phase werden dann diese internen Systeme der beteiligten Unternehmen einer Prüfung durch eine unabhängige Instanz unterzogen. Basis hierfür bilden detaillierte Berichte der betroffenen Unternehmen - ähnlich wie das heute bei der Buchprüfung und Revision der Fall ist.

Die genannte Multi-Stakeholder-Organisation wird in dieser Phase vor allem den Informationsaustausch zwischen den Unternehmen koordinieren und die Lehren aus den ersten Erfahrungen mit den Principles sowie den Umsetzungsmechanismen ziehen - eben im Sinne des bereits erwähnten kontinuierlichen Lernens und Verbesserns. In der dritten Phase, die ab 2012 starten soll, werden dann nicht nur die internen Richtlinien überprüft, sondern auch evaluiert, wie die Unternehmen auf einzelne, konkrete Anfragen und Weisungen von Amtsstellen reagiert haben, soweit die Meinungsäußerungsfreiheit oder der Privatsphärenschutz betroffen sind.

Die Mittel zur Konrolle sind also Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit - wozu natürlich auch die Kunden und Investoren zählen - sowie die unabhängige Überprüfung der Einhaltung der Prinzipien. Diese Mittel sind meiner Auffassung nach im vorliegenden Markt, in dem Reputation eine zentrale Rolle spielt, durchaus griffig.

ORF.at: Die GNI-Prinzipien sehen auch vor, dass sich die Unternehmen an die Gesetze der Länder halten sollen, in denen sie operieren. Nun gibt es aber Gesetze und Usancen in nicht demokratisch verfassten Staaten, die im Widerspruch zum Kernbereich der GNI-Vorgaben stehen. Wird sich ein Unternehmen nicht im Zweifelsfall so verhalten wie Yahoo bei der Herausgabe der Daten von Dissidenten an die chinesischen Behörden?

Urs Gasser: Eines der schwierigsten Probleme für die Internet-Unternehmen ist, zwischen legitimen Handlungen und Begehren staatlicher Stellen - etwa im Kampf gegen Terrorismus, Verbrechen wie Kidnapping oder Kinderpornografie - einerseits und jenen illegitimen Handlungen andererseits zu unterscheiden, die vor allem darauf abzielen, Menschrechte einzuschränken.

Für die Beurteilung solcher amtlicher Begehren schaffen die GNI-Prinzipien eine normative Basis und setzen Leitplanken, die im Rahmen unternehmensinterner Richtlinien und Prozesse zu konkretisieren sind. Nach der dergestalt systematischen Bewertung der Legitimität von staatlichen Begehren müssen sich die Unternehmen natürlich auch über die Risiken im Klaren werden, welche mit Befolgung oder Nichtbefolgung des Begehrens verbunden sind. Unternehmen in nichtdemokratischen Staaten können dabei z. B. riskieren, dass ihnen Betriebsbewilligungen entzogen werden oder - wesentlich dramatischer - dass sie die Sicherheit ihrer Arbeitnehmer im jeweiligen Land gefährden.

Aus alledem folgt, dass die GNI-Prinzipien nicht alle Probleme lösen können, aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung sind, indem die extrem wichtigen unternehmensinternen Prozesse gestärkt werden und die Aspekte Meinungsäußerungsfreiheit und Privatsphärenschutz damit systematisch und auf allen Stufen in die Entscheidprozesse Einfang finden.

Hinzu kommt, dass es sich bei der GNI um ein koordiniertes Vorgehen handelt, womit nicht nur auf "Best Practices" hingearbeitet werden kann, sondern vor allem auch die Einflussmöglichkeit auf die Regierungen in nichtdemokratischen Staaten wächst.

ORF.at: Ist schon abzusehen, wie die Initiative international breiter abgestützt werden kann, etwa durch die Teilnahme chinesischer Unternehmen?

Urs Gasser: Die bisherigen Teilnehmer der GNI sowie die neu initiierte Multi-Stakeholder-Organisation arbeiten intensiv daran, den Kreis der Beteiligten international zu erweitern. Verschiedene Unternehmen, in Europa gemäß Presseberichten etwa die France Telecom und Vodafone, überlegen sich derzeit einen Beitritt zur Initiative.

Neben dem Wunsch nach einer breiten und internationalen Teilnehmerschaft geht es aber auch darum, sicherzustellen, dass die neu eintretenden Mitglieder die festgelegten Grundwerte, Prinzipien und Verfahren tatsächlich mittragen und den eingeschlagenen Weg der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Lernens mit aller Kraft mitgestalten können und wollen. Die bisherigen Mitglieder sind diesbezüglich bereits einen weiten Weg gegangen. Dennoch bleibt noch viel zu tun.

(futurezone | Günter Hack)