
Auf der Jagd nach Jelinek
Mit ihrem Online-Roman "Neid" hat Elfriede Jelinek die Literaturwissenschaftler ins Netz getrieben. Dort ist das Wort der Autorin Gesetz; Textpassagen und ganze Theaterstücke tauchen auf und verschwinden wieder, ohne Spuren zu hinterlassen. ORF.at sprach mit Christoph Kepplinger vom Projekt JeliNetz über die Herausforderungen, die Netz und E-Book-Systeme für Leser und Wissenschaftler darstellen.
Von März 2007 bis April 2008 hat Jelinek ihren "Privatroman" mit dem Titel "Neid" Kapitel für Kapitel auf ihre Website gestellt. Als einfache HTML-Dateien, als Text, der einfach nur Text ist, ohne Hyperlinks und sonstige technische Eigenheiten des Mediums zu nutzen, steht ihre Arbeit quer zum traditionellen Kulturbetrieb und auch zu technisch hochgerüsteten Netzliteraturprojekten.
Um Jelineks Arbeit an "Neid" zu begleiten, haben Wiener Literaturwissenschaftler ein Wiki mit dem Namen JeliNetz aufgesetzt, auf dem sie Eindrücke, Ideen und Begleitmaterial sammeln. Christoph Kepplinger, Projektmitarbeiter am Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum der Universität Wien, ist einer der Administratoren der Site.
Christoph Kepplinger ist Literaturwissenschaftler und Mitarbeiter am Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum des Instituts für Germanistik der Universität Wien. Er betreut mit seinen Kollegen das Projekt JeliNetz, das zu einer Online-Ressource über Leben und Werk von Elfriede Jelinek ausgebaut werden soll.
ORF.at: Sie betreuen das Online-Projekt JeliNetz. Wie lange gibt es das schon?
Christoph Kepplinger: Als Idee gibt es das schon seit Beginn des Erscheinens von Elfriede Jelineks Online-Roman "Neid". Unmittelbar nach dem Auftauchen der ersten Kapitel wussten wir: Da muss man reagieren. Da muss man was Interaktives dazu machen. Wir haben begonnen, das Projekt auf Grundlage eines Wikimedia-Systems umzusetzen. Wir haben dann dazu eingeladen, Texte für das Portal zu verfassen, die wir dann mit Querverweisen auf den Online-Roman ins Netz gestellt haben. Es eignet sich auch dazu, Querverweise in Elfriede Jelineks Texten, die auf aktuelle politische Ereignisse deuten, zu dokumentieren, zu sammeln und zugänglich zu machen. Das ist dann immer mehr geworden. Das gibt es seit 2006. Wir haben heuer, nachdem der Roman nun abgeschlossen ist, entschieden, dass wir das Projekt auch weiterführen. Und zwar über den Roman "Neid" hinaus. Wir wollen daraus eine Wiki-Ressource über das gesamte Werk von Elfriede Jelinek machen.
"Neid" im Netz
ORF.at: Unter jedem der einzelnen HTML-Files in "Neid" steht, dass man aus dem Text nicht ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin zitieren darf. Hat diese Bestimmung die Literaturwissenschaftler nicht letztlich dazu gezwungen, ins Netz auszuweichen? Dort kann man wenigstens Links auf den Text setzen.
Kepplinger: Ja. Das haben wir auch im JeliNetz so gemacht. Besagter Satz sorgt auch immer wieder für Diskussionen. Ich bin kein Jurist, und ich weiß nicht, inwieweit das überhaupt zu klären ist. Ich weiß auch nicht, inwieweit dieser Satz die Lehre an der Universität betrifft.
ORF.at: Ist "Neid" eine Ausnahmeerscheinung oder die Avantgarde in Sachen Selbstpublikation? Jelinek selbst schreibt in einem Essay zu "Neid" schon von den "Electronic Books", die wir "schon bald kriegen" würden.
Kepplinger: Elfriede Jelinek sitzt an ihrem Tisch hinter dem Computer, mit dem sie Texte aus sich heraus schreibt. "Neid" war das erste große Werk von ihr nach dem Literaturnobelpreis 2004. Die ganze Verlagswelt, allen voran der Rowohlt-Verlag, bei dem sie lange gewesen ist, hat da durch die Finger geschaut. Dieses gigantische Prosawerk ist an ihnen vorbeigegangen. Sie hat es der Verwertungsmaschinerie entzogen. Inwiefern das jetzt ein taktischer Schachzug war oder ob es von längerer Hand angedacht war, dass sie einen Roman ins Internet stellt, das weiß ich nicht. Aber es steht in der Konsequenz ihres bisherigen Arbeitens. Ihre Website ist seit 1998 online. Sie hat dort in diesem Zeitraum zwischen 1.800 und 2.000 Druckseiten publiziert. Das sind zum Teil Texte, die nirgendwo anders veröffentlicht worden sind. Leserbriefe oder Essays. Aber "Neid" sprengt da wirklich den Rahmen. Inwiefern das jetzt das elektronische Publizieren im Hinblick auf E-Book-Reader publiziert, bin ich mir nicht sicher. Da müsste man natürlich auch die Formatfrage stellen. Es ist ja als reines HTML ins Netz geworfen, kann man sagen, es steht auf einer spartanischen Homepage, die seit zehn Jahren in ihrer Struktur unverändert ist. Anachronistisch, kann man da sagen. Wenn man es auf zukünftige Technologien hin denkt, dann bleibt es entweder dem User überlassen, sich das zurechtzuformatieren. Oder es würde als PDF-Download zur Verfügung stehen oder in einer anderen Form. Ich weiß nicht, ob sie das tun würde. Es gibt zu "Neid" noch eine Geschichte: Es hat eine einzige öffentliche Lesung dieses Romans gegeben, die von der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Löffler im Literaturhaus München veranstaltet worden ist. Diese Lesung konnte nur unter der Auflage der Autorin stattfinden, dass der Text nicht ausgedruckt, sondern von einer elektronischen Quelle aus gelesen wird. Da saß dann eine Schauspielerin und hat von einem aufgeklappten Laptop heruntergelesen, durch Wireless LAN mit dem Internet verbunden. Andererseits hat sie es den Lesern auch freigestellt, sich den Text auszudrucken. Die saßen dann mit ihren Ausdrucken da.
ORF.at: Elfriede Jelinek arbeitet schon recht lange mit Computern. Es ist wahrscheinlich, dass sie das Format bewusst gewählt hat.
Kepplinger: Sie produziert seit 1984 ihre Texte am Computer, legt regelmäßig Backups von ihren Arbeiten an. Sie hatte ursprünglich einen Apple, ist jetzt aber auf ein Microsoft-System mit Word umgestiegen, glaube ich. Sie schreibt ihre Texte ja nicht unmittelbar im Netz, etwa wie ein Blogger das macht, sondern sie erzeugt erst offline eine Textdatei. Das heißt, die Texte bleiben uns hoffentlich auch dann erhalten, wenn der Server crasht.
ORF.at: Stichwort Blog. Es ist ja so, dass "Neid" auch quer dazu steht, was man sonst als Internet-Literatur verstehen würde. Sie arbeitet nur mit Hyperlinks, um den Text zu strukturieren, setzt sie aber nicht als Stilmittel ein.
Kepplinger: Es gibt da keine Querverweise inhaltlicher Natur, etwa dass sie aus dem Text rausverlinken würde, um sich Zusatzinformationen zu holen. Es ist eine einseitige Form der Kommunikation. Die Autorin stellt den Text nach draußen. Es geht nur weg vom Medium Papier. Das einzige interaktive Element auf der ganzen Site ist ein kleiner versteckter Link auf eine E-Mail-Adresse des Rowohlt-Verlags. Dann steht auch noch die in einem Interview geäußerte Drohung der Autorin im Raum, dass sie jederzeit diesen Text auch wieder offline nehmen könne. Wenn es ihr reicht, dann ist er wieder weg. Das ist auch bisher schon mit einigen Texten auf ihrer Homepage so gewesen. Wenn man Glück hat, dann hat man sie, wenn man Pech hat, dann bekommt man sie nie wieder zu sehen. Zum Beispiel hat sie das Theaterstück "Ulrike Maria Stuart", das ja in Hamburg uraufgeführt wurde und dessen Text nicht zugänglich ist, für drei Tage auf ihre Homepage gestellt. Seither gibt es nur noch einen gekürzten Auszug und einen Vermerk, wann dieser Text vollständig zugänglich war. Das war's dann. Wird auch nie gedruckt werden. So operiert sie immer wieder. Es ist auch bei "Neid" so gewesen, dass sie nach der Fertigstellung aller Kapitel im Text noch etwas verändert hat. Beispielsweise ist zum Fall Fritzl noch ein Absatz hineingeraten. Wenn man immer brav ausgedruckt und nachkontrolliert hat, dann konnte man auch sehen: Oh! Da ist ja eine Änderung dabei. Bei Blogs sieht man ja, wann die letzte Änderung gemacht wurde, aber das geschieht hier unsichtbar und es steht trotzdem als monolithischer Text da. In einem Wiki kann man so etwas später nachvollziehen.
ORF.at: Geht es da um die Kontrolle über den Text? Oder um den Zeitaspekt? Jelinek hat sinngemäß geschrieben, dass man dem Text sein Verfallsdatum ansehen solle.
Kepplinger: Alle Texte auf ihrer Website sind datiert. Ich weiß nicht, ob sich bei "Neid" das Datum nach diesen Einfügungen geändert hat. Die Homepage ist natürlich für Elfriede Jelinek ein Vorteil, weil sie in Essays schnell auf politische Ereignisse reagieren kann, wie jetzt, zum Beispiel, auf den Tod von Jörg Haider. Da gab es auch ein großes mediales Echo darauf, dass wieder ein neuer Text von ihr im Netz erschienen ist. Sie wird schon auf der Homepage gelesen. Es ist auch bei "Neid" gelungen, ohne eine mediale Maschinerie zu bemühen, dass sich die Botschaft auch in den Printmedien verbreitet hat, dass da etwas ist. Ganz ohne PR-Apparat. Ich weiß nicht, ob die besondere Stellung von Elfriede Jelinek als sehr bekannte Autorin und Nobelpreisträgerin dazu beiträgt, dass das so funktioniert. Andere Autoren müssen da weit mehr Anstrengungen in die Selbstvermarktung stecken. Meistens wird aber nicht online sondern offline auf Jelineks Texte reagiert. Das ist mir schon aufgefallen.
ORF.at: Das Feuilleton hat mit der Geschwindigkeit der Schriftstellerin nicht gleichgezogen.
Kepplinger: Wir haben in unserem Archiv eine ganze Rezensionsmappe zu "Neid" gesammelt. Der Wortlaut dieser Rezensionen ähnelt sich schon sehr. Ich habe noch nicht herausgefunden, wo da zum ersten Mal welcher Satz gekommen ist, aber jeder hat etwas dazugeschrieben. Wir haben den Roman irgendwann zum ersten Mal ausgedruckt und jemand von uns hat gesagt, er habe 936 Seiten. Plötzlich stand das in allen Artikeln. Obwohl man es sich ja ausdrucken kann, wie man will. Die Reaktionen finden dann aber doch hauptsächlich offline im Feuilleton statt.
ORF.at: Elfriede Jelinek ist die erste Nobelpreisträgerin, die im Netz einen großen Roman veröffentlicht hat.
Kepplinger: So ist es. Man muss es auch in Ergänzung zu ihrem sehr umfangreichen Werkteil sehen, der nur im Druck erschienen ist. Allein ihre 400 Essays, die zum Teil natürlich auch online sind, die Kurzprosa, die 385 Interviews. Sie hat sich ihren Namen schon erschrieben. Von denen, die herausragen, ist sie diejenige, die am konsequentesten intermedial arbeitet. Peter Handke hat auch eine Website. Aber das wird dann auch von dritten betrieben. Da schreibt nicht der Autor.
ORF.at: Das ist bei Jelinek anders. Da ist die Website kein Marketinginstrument.
Kepplinger: Da steht nirgends, dass es einen neuen Roman zu kaufen gibt, dass man hier draufklicken muss, um zum Einkaufswagen zu kommen. Das fehlt alles. Das war ja der große Regelverstoß bei "Neid", dass dieser Text, der sicher gut als Buch vermarktbar gewesen wäre, sich dem kommerziellen Druck entzogen hat. Da konnten alle nur noch mit den Armen fuchteln und sagen: hach! Da ist uns was entgangen. Um die Marketingstrategie geht es ihr nicht. Letztlich hat sie es auch nicht nötig, sich zu verkaufen. Das sagt sie immer wieder selbst. Nach dem Nobelpreis hat sie gesagt: So. Jetzt kann sie wirklich schreiben, was sie will und machen, was sie will. Vorher hat sie auch geschrieben, um davon leben zu können. Das fiel nach dem Nobelpreis völlig weg.
ORF.at: Die Reaktionen auf "Neid" als Neid auf Freiheit.
Kepplinger: Die Freiheit ist schon etwas, was sie sich errungen hat. Auch die Freiheit, einmal gar nichts zu sagen. Dass sie nicht zur Nobelpreisverleihung geht und stattdessen ein Video hinschickt. Dann aber auf drei monumentalen Videowänden gleichzeitig auftaucht, in einer Art Altarbild. Auf einem Videowall-Triptychon. Sie verschwindet zwar als Person, nimmt aber zu aktuellen Ereignissen Stellung. Es ist unglaublich, was in "Neid" alles drinsteckt. Es ist ein Konglomerat aus Zitaten. Sie ist abwesend, aber nicht inaktiv.
ORF.at: Eine Echtzeitverarbeitung von Geschehnissen. Es hat manchmal schon etwas von einem Blog.
Kepplinger: Aber nicht tagesaktuell und zu jedem Anlass. Es sind schon die Jelinek-spezifischen Themen, die sie sich raussucht. Gewalt in der Familie ist immer wieder ein Thema. In "Neid" kommt auch die wirtschaftliche Situation in der Region Eisenerz vor. Darüber schreibt Elfriede Jelinek schon seit den 1970er Jahren immer wieder. Sie nimmt das auf und schreibt es fort, literarisiert es.
ORF.at: Das Internet ist für eine solche Arbeitsweise ideal. Sie nimmt dort die Nachrichten auf, konzentriert sie und baut sie in ihre Welt ein.
Kepplinger: Es sind keine luftigen und lockeren Texte. Da reihen sich Anspielung an Anspielung und Zitat an Zitat. Ketten von Wortspielen. Über Wortähnlichkeiten kommen neue Zusammenhänge zum Vorschein. Ich finde auch, dass man diese Texte laut lesen muss. Das hört man dann auch.
ORF.at: Wie gehen Sie als Literaturwissenschaftler mit Jelineks Arbeitsweise um? Wenn sie etwas ändert, dann hinterlässt sie dabei keine Spuren. Früher gab es Manuskripte, in denen die Korrekturen der Schriftsteller sichtbar waren. Müssen Sie jetzt in Elfriede Jelineks Webserver einsteigen und ihre Logfiles analysieren?
Kepplinger: Das ist ein Problem, das nicht nur die Literaturwissenschaft betrifft, sondern schon bald auch die Editionswissenschaft. Noch schwieriger als bei Elfriede Jelinek wird das bei der Autorengeneration, die jetzt so um die 30 sind und nur noch elektronische Systeme benutzen. Bei Elfriede Jelinek wird man wahrscheinlich auch nie alles erwischen. Man muss sich darauf einstellen, dass gewisse Dinge verloren gehen. Wir haben nur das, was wir über die Homepage abrufen können. Als Notmaßnahme haben wir auch schon eifrig ausgedruckt, abgeheftet und datiert. Wir haben versucht, das Elektronische irgendwie in das Medium Papier zu kriegen. Wir mussten es auch nochmals ausdrucken, als wir gesehen haben, dass es neue Absätze im Text gibt. Wir haben diese Kapitel dann ausgedruckt, damit man sie nebeneinander legen kann. Ob es noch Zwischenstufen gab, das ist uns dann entgangen. Wenn die Autorin jemals ihre Festplatte der Wissenschaft zur Verfügung stellen sollte, dann wäre das ein Glücksfall. Bis dahin müssen wir hinterherhinken.
ORF.at: Der Literaturwissenschaftler als Computerforensiker.
Kepplinger: Die Literaturwissenschaft war ja durch diese Manuskriptverwaltung und Nachlassbearbeitung schon immer auch eine Institution. Diese Kompetenz geht dadurch etwas verloren und wandert in den Zugriffsbereich der Autorin. Sie kann das filtern. Darauf stellen wir uns schon ein.
ORF.at: Keine Spuren mehr.
Kepplinger: Man drückt auf Delete und weg ist die Version. Vielleicht kommen wir mal drauf, dass es doch in einem Hochsicherheitsserver gespeichert ist. Oder es gibt eine Festplatte in einem Schließfach. Aber das kümmert uns Lebende eigentlich jetzt nicht wirklich. Peter Handke hat seinen Vorlass übergeben. Elfriede Jelinek wird das nicht tun. Da geht es schon auch um den Zugriff aufs eigene Werk, glaube ich. Das ist im Fall Jelinek besonders wichtig.
ORF.at: Sind Sie auch im Kontakt mit Elfriede Jelinek?
Kepplinger: Es ist nicht so, dass man sich täglich schreiben würde. An der Universität bemühen wir uns, dass wir den Zugang zu den Werken irgendwie ermöglichen. Es gibt im Unterrichtsrahmen hier an der Universität aber genug nachzuholen, was die Gegenwartsliteratur betrifft. Das endet ja oft genug in den 1980er Jahren oder noch früher. Das Thema Netzliteratur und Literatur im Netz ist im Curriculum der Literaturwissenschaft noch nicht so zentral. Das wäre auch eine Anforderung an die Germanistik.
ORF.at: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Werkzeug Wiki gemacht?
Kepplinger: Da gab es ein reges Interesse, solange dieser Roman in Teilen entstanden ist. Das merkte man an den Zugriffszahlen. Das war für uns ein Ansporn. Wir haben auch Fachkollegen gefragt, ob sie uns nicht ihre ersten Eindrücke über diesen Text übermitteln wollen. Wir haben dabei darauf hingewiesen, welche Form die Texte haben sollten. Ein Wiki verträgt keine langen Abhandlungen. Als "Neid" dann fertig war, hat man gesehen, dass die letzten Medienmeldungen kamen, nach dem Motto: Roman fertig. Da hat man dann auch schon gemerkt, dass die Rezeption nachgelassen hat. Das hat man auch online gemerkt. Ich glaube, dass sich so ein Wiki-Projekt zu einem einzelnen Werk dann auszahlt, wenn man parallel zur Autorin arbeitet. Wenn man das aber als längerfristige Ressource nutzen will, dann muss man das Projekt auf das ganze Werk ausdehnen. Das ist jetzt hier im Entstehen. Wir werden auch studentische Arbeiten mit einbeziehen. Wir werden über literaturgeschichtliche Übungen zu Elfriede Jelinek dazu ermuntern, eigene Arbeiten ins Wiki zu stellen. Der Roman war jedenfalls der Anlass dazu, dass wir uns daran gewagt haben, uns selbst ein Wiki hinzustellen. Alle Leute, die Sie auf unserer Homepage sehen, sind damit befasst. Eines unserer Vorbilder war das elib-Projekt, das auch auf einem Wiki basiert und auf der österreichische Literatur publiziert wird, deren Copyright abgelaufen ist. Eine sehr wertvolle Ressource.
ORF.at: Nochmals die Frage nach der Zukunft: Kann Jelineks Publikationsmodell Vorbildcharakter haben?
Kepplinger: Es ist Ausdruck ihrer Freiheit.
Seit der Einführung der Bildschirmtechnologie E-Ink gilt unter Branchenkennern als sicher, dass elektronische Lesegeräte für längere Texte schon bald zur medialen Standardausrüstung jedes Haushalts gehören werden.
ORF.at: Man kann es auch als Geschenk an das Netz sehen.
Kepplinger: Es ist keine geringe Arbeit, 936 Seiten sehr dichten Prosatext zu verfassen. Ein Jahr Arbeit ohne Gegenleistung. Die großen Nachahmer gibt es in dieser Größenordnung noch nicht. Stephen King ist mit einem Online-Romanprojekt gescheitert, das er sich von den Lesern bezahlen lassen wollte. In der Musik funktioniert das manchmal, etwa bei Radiohead. Jelinek als Modell? Sie wird sicher nicht aufhören, im Internet zu schreiben. Das macht sie seit zehn Jahren konsequent und es ist ja auch schneller als wenn sie einen Roman zum Verlag tragen muss und dieser dann nach einem halben Jahr Lektorat erscheint. Dann ist er schon nicht mehr aktuell. Im Fall von Jörg Haiders Tod hat man das gesehen. Da setzt sie sich wahrscheinlich unmittelbar danach hin und schreibt das. Aber ob das in dieser Großform weitergeführt werden wird, ist schwer zu sagen. Wir lassen uns überraschen. Es ist immer etwas Nervenkitzel dabei. Wir schauen nach: Ist wieder was Neues da? Wenn man mal dabei ist, hat man die Homepage eh in den Favoriten gespeichert. Leider hat sie keinen RSS-Feed, der uns zeigen würde, wann es einen neuen Text gibt. Demnächst wird in München ein neues Stück von ihr Premiere haben: Rechnitz, der Würgeengel. Soweit ich weiß, ist geplant, dieses Stück dann auch als Buch herauszubringen. Das heißt: Das Medium Buch ist noch nicht ganz ad acta gelegt. Es ist ja auch das stabiler als jedes Betriebssystem. Man klappt es auf und es fährt hoch und stürzt nie ab.
(futurezone/Günter Hack)