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Machtverschiebung in der Internet-Zentrale

NETZ
01.10.2009

Der neue Vertrag zwischen der zentralen Internet-Adressverwaltung ICANN und der US-Regierung stößt bei Experten und Beobachtern aus der Zivilgesellschaft auf Zustimmung. Er verleiht den Vertretern anderer Regierungen ein stärkeres Gewicht, indem er sie stärker in neue Kontrollverfahren einbindet. Diese sollen ICANN-Entscheidungsprozesse transparenter machen. Die US-Regierung behält dennoch die Zügel in der Hand.

Die wesentliche Neuerung im neuen Vertrag besteht darin, dass ein Evaluierungsgremium regelmäßig die Entscheidungen von ICANN überprüfen wird. EU-Kommissarin Viviane Reding glaubt, dass damit "ICANN-Entscheidungen über Internet-Domänennamen und -Adressen unabhängiger und besser nachprüfbar sein und allen Interessen besser Rechnung tragen werden". Die Europäische Union wolle eine "aktive Rolle im ICANN-Beratungsausschuss der Regierungen und bei der weiteren Reform des GAC spielen". Reding regte aber außerdem an, über "Möglichkeiten eines verbesserten externen Einspruchsverfahrens gegen Entscheidungen des ICANN-Vorstands nachzudenken".

Die deutsche Politikwissenschaftlerin und ICANN-Expertin Jeanette Hofmann sagte gegenüber ORF.at: "Beeindruckend ist der Versuch, ICANN zu mehr Rechenschaftspflichtigkeit zu zwingen. Bislang konnte das ICANN-Board entscheiden, wie es wollte. ICANN soll nun jeweils erklären und rechtfertigen, wie Entscheidungen zustande kommen. Ob das gelingt, bleibt abzuwarten." Der neue Vertrag zeige jedenfalls, dass sich die US-Regierung der Probleme bei ICANN bewusst sei und diese über den Regelungsprozess aufbrechen wolle. Dass die Regeln nicht sehr detailliert ausgestaltet sind, hält sie für positiv, denn: "Je detaillierter die Regeln sind, desto eher lassen sie sich umgehen."

Verstärkte Kontrolle

Ein Evaluierungsausschuss wird künftig das ICANN-Board selbst kontrollieren, indem es die "Transparenz, Rechenschaftslegung und Arbeit im Sinn der internationalen Öffentlichkeit" bei ICANN unter die Lupe nimmt. Zuvor konnte die ICANN "entscheiden, wie sie wollte", erklärt Hofmann: "Nun muss ICANN seine Entscheidungen faktenbasiert treffen. Damit wird der Entscheidungsprozess so kultiviert, dass die ICANN-Verwaltung nicht mehr wie bisher im Dunklen wirtschaften kann. Für die Beteiligten war der ganze Prozess sehr schwer zugänglich." Lutz Donnerhacke, Leiter der Arbeitsgruppe "DNS-Sicherheit", begrüßt ebenfalls die verstärkte Kontrolle: "ICANN kann nicht mehr Gelder für ein externes Unternehmen hinausblasen, das irgendwelche Berichte verfasst."

Der neue Ausschuss setzt sich aus freiwilligen Mitgliedern der Community zusammen sowie aus dem Vorsitzenden des Beratungsausschusses der Regierungen (Government Advisory Committee, GAC), dem Vorstandsvorsitzenden der ICANN, einem Abgeordneten des US-Handelsministeriums und Vertretern der ICANN-Unterorganisationen. Weil ein erster Bericht bereits Ende nächsten Jahres vorliegen muss, müssen die Mitglieder rasch berufen werden. Für Hofmann stellt sich nun die Frage, "wie diese Gruppen zusammengesetzt werden, welche Gewichte andere Regierungen, die Privatwirtschaft sowie die Zivilgesellschaft in ihnen haben werden und wie der Berufungsprozess gestaltet wird". Dass auch andere Regierungen über den Beratungsausschuss der Regierungen in diesen Prozess verstärkt einbezogen werden, hält sie für "den großen Schritt".

Bedenken der Zivilgesellschaft

Ein weiterer Evaluierungsausschuss wird alle drei Jahre die getroffenen Maßnahmen zur Stabilität des Domain-Name-Systems (DNS) überprüfen. Für "bedenklich" aus Sicht der Zivilgesellschaft hält Hofmann es jedoch, dass die ICANN-Spitze und der GAC-Chef für die Ausschüsse bestimmen, wer Mitglied wird: "Möglicherweise steht dahinter die Absicht, eine übermäßige Politisierung des Auswahlprozesses zu vermeiden. Faktisch aber liest es sich wie eine Aufwertung der Regierungen gegenüber den beteiligten privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Gruppen." Donnerhacke sieht darin jedoch eine "pragmatische Lösung": "Irgendjemand muss am Ende entscheiden, wer dabei ist. Dass die Autoren des Vertrags nun selbst darüber entscheiden, war anders nicht zu erwarten."

Donnerhacke sieht in dem Vertrag außerdem eine Stärkung der Mitwirkungsrechte: "Heute kann man zwar nicht mehr die Entscheidungsstrukturen selbst beeinflussen, doch es kann jeder, wirklich jeder an allen Mitentscheidungsprozessen teilnehmen. Es genügt, sich über eine 0800-Telefonnummer bei einer Telefonkonferenz, wie sie im ICANN-Wiki angekündigt wurde, einzuwählen." Diese Möglichkeit sei noch nicht allzu bekannt, doch die neue Vereinbarung sorge dafür, so freut sich Donnerhacke, "dass diese Art von transparenter Nutzerbeteiligung von der ICANN nicht willkürlich aufgehoben werden kann".

Neue Top-Level-Domains als Bewährungsprobe

Die erste Bewährungsprobe sieht Hofmann in der Einführung der neuen Top-Level-Domains. "Bisher sind die Gegner entweder zum US-Kongress oder zur US-Verwaltung gerannt, wenn sie mit den Entscheidungen von ICANN nicht einverstanden waren. Das dürfte jetzt nicht mehr so einfach sein." Es bestehe auch die Frage, ob die geplanten internationalen Top-Level-Domains, die in kyrillischen, chinesischen und arabischen Schriftzeichen geschrieben werden sollen, denselben Bedingungen unterworfen werden wie die bisherigen.

Donnerhacke sieht die nächste Herausforderung darin, dass die Whois-Abfrage laut Vereinbarung so gestaltet werden muss, dass sie "akkurate" und "komplette" Daten liefert. Bisher seien falsche Angaben nicht sanktioniert worden. Jetzt müsste sich die ICANN "etwas einfallen lassen, wie man das kontrollieren kann, wem welche Domain tatsächlich gehört". Wichtig ist das nicht nur für die Klärung von Markenrechtsverletzungen, sondern auch für die Bekämpfung krimineller Netzattacken.

Schließlich gibt es noch eine vertragstechnische Neuerung: Bisher hatten die Vereinbarungen eine Laufzeit von drei Jahren und waren unkündbar. Der neue Vertrag ist zwar unbefristet, doch die beidseitige Kündigungsfrist beträgt nunmehr 120 Tage. Lutz Donnerhacke: "Was danach kommt, ist also völlig unklar. Die Vorwarnzeiten sind deutlich kürzer." Der IANA-Vertrag über die Verwaltung der zentralen Root-Zone kann von der US-Regierung ebenfalls jederzeit neu ausgeschrieben werden. - Wirkliche Unabhängigkeit sieht anders aus.

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(Christiane Schulzki-Haddouti)