Google Wave & Co: Die Erbschleicher der E-Mail
Trotz Spams, altbackener Benutzerschnittstellen und ähnlicher Widrigkeiten: E-Mail ist nach wie vor einer der wichtigsten Dienste im Netz. Mit neuen Systemen wie Google Wave und Mozillas Raindrop wollen Entwickler die verschiedenen Formen der interpersonalen Online-Kommunikation neu bündeln und damit die klassische E-Mail langsam verdrängen. Ob ihnen das gelingen kann, darüber streiten die Experten.
Seit den Zeiten des ARPAnets und früher Unix-Installationen bilden E-Mail-Dienste das Rückgrat der Online-Kommunikation. Sie werden sowohl innerhalb von Firmennetzwerken als auch zum privaten Austausch mit Freunden und Familie verwendet. Laut der letzten Nutzungsstudie des heimischen Telekomregulators RTR verwendeten 91,7 Prozent der Österreicher ihren Anschluss mindestens einmal pro Woche zur E-Mail-Kommunikation.
Doch nicht immer bereitet das Hin- und Hermailen den Nutzern Freude. "E-Mail funktioniert oft ziemlich schlecht. Es ist eher ein Zustand als eine erfreuliche Technologie", meint Peter Purgathofer vom Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung der TU Wien. "Die Zustellung funktioniert nicht immer zuverlässig, oft ist die Mail-Software schlecht organisiert - aber die Möglichkeiten sind so groß, dass wir trotzdem alle damit arbeiten."
Konkurrenz durch andere Kommunikationskanäle
Der Austausch von Nachrichten per E-Mail erfolgt zudem asynchron. Zwar lässt sich durch schnelles Hin- und Hermailen nahezu so etwas wie eine Kommunikation in Echtzeit erreichen, allerdings stapeln sich dadurch die Nachrichten in der Inbox, und der Vorgang wird rasch unübersichtlich. Zudem verliert die E-Mail mit dem Aufkommen anderer Kommunikationssysteme tendenziell an Bedeutung.
So hat es sich in manchen Firmen bereits eingebürgert, seine Arbeitskollegen über den Microblogging-Dienst Twitter zu informieren. "Da gibt es viele Dinge, die man quasi auslagern könnte, die nicht mehr über E-Mail laufen. Meine Kollegen schreiben mir etwa über Twitter, wenn sie sich verspäten werden. Dagegen wäre eine E-Mail eher behäbig", so Martin Ebner, Abteilungsleiter für Vernetztes Lernen am Institut für Informationssysteme und Computermedien der TU Graz.
Ebner setzt mit seinen Studenten Echtzeit-Kommunikationsplattformen wie Twitter und Soziale Netzwerke ein. "Lernen ist ein sozialer Prozess, und je mehr man miteinander kommuniziert, desto höhere Lerneffekte hat man. Bisher war dies durch die zeitversetzte Reaktion immer schwierig", meint Ebner.
Zu den Experten:
Lisa Ehrenstrasser ist Interaction Designerin von Inklusiv Design - Büro für barrierefreie Gestaltung und Universitätsassistentin am Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung der TU Wien.
Peter Purgathofer ist außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung der TU Wien. Sein Arbeitsbereich umfasst die "Human Computer Interaction".
Martin Ebner ist Abteilungsleiter für Vernetztes Lernen am Zentralen Informatikdienst der TU
Graz und Forscher am Institut für Informationssysteme und Computer Medien.
Mit Google Wave und Mozilla Raindrop gibt es seit kurzem zwei Kommunikationswerkzeuge, die zwar noch in den Kinderschuhen stecken, aber bewährte Ansätze der Online-Kommunikation geschickt neu kombinieren und im Detail verbessern. Ob die Entwickler ihr Ziel erreichen werden, die klassischen E-Mail-Dienste abzulösen, darüber sind sich die von ORF.at befragten Experten keineswegs einig.
Kommunikation ist generationsabhängig
Lisa Ehrenstrasser, Universitätsassistentin an der TU Wien und Expertin für User-Interface-Design, warnt vor einer künftigen Kluft zwischen den Generationen. "Es ist noch nicht so lange her, dass die ältere Generation Skype entdeckt hat. Sie war dabei getrieben von der Motivation, die Kommunikation mit der Familie aufrechtzuerhalten, also sein entfernt wohnendes Enkerl auch per Video sehen zu können. Doch wie wird die Menschheit in 20 Jahren kommunizieren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine 60-jährige Frau plötzlich auf einen neuen Zug aufspringt, wenn sie 80 ist."
Ehrenstrasser gibt zu Bedenken, dass die Entwicklung von neuen Technologien, die dazu dienen sollen, die Kommunikation zu verbessern, selten aufgrund eines Wissentransfers vom Nutzer zur Technik erfolge, sondern vielmals die Technik zuerst zum Nutzer gebracht werde und "man sich anschaut, was die Jugend daraus macht". Auch bei Wave und Raindrop würden nicht alle Zielgruppen gleichermaßen in die Tests einbezogen, so Ehrenstrasser.
Purgathofer sieht das ganz anders: "Es ist sinnvoll, die Entwicklungen bereits in einem frühen Stadium öffentlich zu machen und herzuzeigen, da die Unternehmen auf diesem Weg viel Input bekommen, weitere Visionen entstehen und eingebracht werden. So hat Wave etwa eine echte Chance, dass daraus etwas wird."
Wave als "neue Art der Flexibilität"
Google Wave basiert auf HTML 5 und läuft komplett im Web-Browser des Anwenders. Das System erlaubt es Nutzern, neben herkömmlichen Textnachrichten auch Bilder, Dokumente und Videos innerhalb einer Abfolge von Nachrichten (auch "Wave" genannt) darzustellen. Mehrere Nutzer können wie in einem Wiki Beiträge bearbeiten und ergänzen. Die Kommunikation erfolgt hierbei entweder asynchron oder synchron, Wave ist Chat und E-Mail in einem.
"Das Spannende an Wave ist nicht der zeitlich synchrone Fall der Nutzung, sondern der fließend synchron-asynchrone Fall. Damit wird eine neue Art der Flexibilität unterstützt", so Purgathofer. Das System macht es den Usern einfach, bei Bedarf zwischen Echtzeit-Chat und E-Mail-ähnlicher Kommunikation zu wechseln. Die Organisation in "Waves" - vergleichbar mit Foren-Threads - und Arbeitsgruppen soll für Übersichtlichkeit sorgen.
Offene Protokolle als Erfolgsmodelle
Das Wave-Netzwerk ist Open Source und kann daher auch von externen Entwicklern auf eigenen Servern installiert werden. Google bietet das entsprechende Google Wave Federation Protocol zum kostenlosen Download an. Purgathofer gibt sich überzeugt, dass diese Öffnung des Protokolls dem Dienst einen ersten Erfolg bescheren wird: "Wenn man sich die Geschichte des Internets ansieht, stellt man fest, dass die Erfolgsmodelle die offenen Protokolle waren, die jeder verwenden und umsetzen konnte. Es kann etwa jeder seinen eigenen Mail-Server aufsetzen. Das ist eine der Eigenschaften, die notwendig sind, um ein Angebot wirklich nachhaltig zu installieren."
Der Software-Hersteller SAP hat vor kurzem als eines der ersten Unternehmen einen Prototyp auf Google-Wave-Basis entwickelt. "Ich kann mir Wave als künftiges Arbeitstool vorstellen, da in Zukunft immer mehr Leute im Rahmen von Projekten miteinander arbeiten werden", so Ehrenstrasser.
Betaversion mit Verbesserungsmöglichkeiten
In einem ersten futurezone.ORF.at-Test erwies sich die Betaversion von Google Wave als durchaus nützlich für die Online-Zusammenarbeit, allerdings lief das Tool noch nicht stabil. Für eine flüssige und nachhaltige Zusammenarbeit notwendig wären zudem eine Druckfunktion, eine "Copy & Paste"-Möglichkeit von zusammenhängenden Gesprächsabschnitten und eine Möglichkeit zum Ausblenden eben dieser, wenn sich eine Wave einmal in die Länge zieht.
Ein weiterer Nachteil in puncto Benutzbarkeit ist, dass sich der Scrollbalken nicht mit der wachsenden Länge der Nachricht oder Anzahl der Kontakte vergrößert, sondern immer gleich groß bleibt, was die Navigation im System erschweren kann.
Die fehlende oder mangelhafte Übertragung der elektronischen Konversation auf Papier sieht Purgathofer noch als Hindernis: "Drucken und das World Wide Web haben eine lange gemeinsame Geschichte der Entäuschungen. Bei der Betaversion hat sich Google aufs Wesentliche konzentriert, und das finde ich gut. Google hat die Tür ein Stück aufgemacht, und wir sehen das Licht, das im nächsten Raum ist. Weil das Protokoll so offen ist, spricht jetzt nichts dagegen, dass wir alle daran mitmachen und diese Vision verbessern."
"Erschlägt jeden, der älter als 30 ist"
Ehrenstrassers erster Eindruck der Betaversion von Google Wave aus der Sicht einer Usability-Expertin fällt weniger zufriedenstellend aus: "Vom Interface-Design her erschlägt es jeden, der älter als 30 ist, weil man zu viele Informationen auf einmal hat." Besonders kritisch steht Ehrenstrasser den Fotos in der Inbox gegenüber, die darauf hinweisen sollen, zwischen wem kommuniziert wird. "Damit muss sich das Hirn länger beschäftigen als mit reinem Text."
Auch die visuelle Aufbereitung des Abstimmungs- und Umfrage-Gadgets in Wave sei nicht gut umgesetzt. "Dadurch werden bestimmte Leute ausgeschlossen, die kognitive Lernprobleme haben. Man muss sich immer fragen, welchen Stress man Nutzern zumutet, weil sie es nicht schaffen, die visuellen Reize zu verarbeiten. Diese Zielgruppe wird immer größer", so Ehrenstrasser. Kein gutes Haar lässt die Expertin für barrierefreies Design zudem an dem Knopf für private Antworten innerhalb einer Welle. Der sei viel zu klein und versteckt, ältere Menschen würden ihn nicht gleich entdecken können.
"Für ältere Leute würde es eher Sinn ergeben, die derzeitige E-Mail-Kommunikation mit Add-ons auszubauen. Aber selbst hier ist zu wenig untersucht, was die heutige Generation der 50-Jährigen wirklich nutzt", so Ehrenstrasser.
Raindrop für persönliche Kommunikation
Mit Raindrop wurde von Mozilla Labs jüngst ein neues Projekt gestartet, das Kommunikation wieder persönlicher machen möchte. Wichtige Nachrichten von Kollegen, Freunden und Familie sollen vom System automatisch in den Vordergrund gestellt werden, und Plattformen wie Facebook und Twitter werden gemeinsam mit der E-Mail in einem Dienst zusammenfasst. "Da private Nachrichten auf Twitter oder Facebook der E-Mail sehr ähnlich sind und das Dinge sind, die ich dauernd verfolge, ist es sinnvoll, diese über eine Plattform anzusteuern", so Ebner.
Im Gegensatz zum Web-basierten Google Wave läuft Raindrop als gewöhnliches Programm auf der Maschine seines Nutzers. Das System sei dazu in der Lage, von selbst die wichtigsten Elemente zu erkennen und sie dann übersichtlich in Firefox, Safari oder Chrome zu präsentieren, so die Entwickler. "Bei automatischen Features muss man immer skeptisch sein. Die funktionieren meist gut bei regulären Fällen und schlecht bei unerwarteten. Die unerwarteten sind aber sehr oft die, die am meisten Aufmerksamkeit brauchen würden. Bei einem Feature wie der automatischen Erkennung von Wichtigkeit braucht man außerdem das Vertrauen der Anwender in dieses Feature. Dieses Vertrauen muss man sich erst einmal holen, und dann muss es von Anfang an funktionieren, denn wenn das Vertrauen einmal gebrochen ist, wird die Hürde wieder viel höher", gibt sich Purgathofer pessimistisch.
"Mit Spam wird es sich nicht durchsetzen"
Bei beiden Kommunikationsdiensten bleibt die Frage, ob sie sich Spam-Nachrichten, die derzeit einen Großteil der E-Mail-Kommunikation ausmachen, verschließen können. "Spam ist ein ein Milliarden-Dollar-Business, da stecken Menschen dahinter, die mit goldenen Rolls-Royces herumfahren. Die werden alles versuchen, um da hineinzukommen. Google wäre gut damit beraten, sich so früh wie möglich dagegen zu wehren. Denn wenn Google Wave so Spam-verseucht wird wie E-Mail jetzt, wird es sich nicht durchsetzen", ist Purgathofer überzeugt.
Doch welche Alternativen gäbe es in so einem Fall? "Wir brauchen auf jeden Fall mehr Projekte, die versuchen, mit der Misere Online-Kommunikation umzugehen, damit wir etwas finden, was nachhaltig ist. Kommunikation soll ja nicht nur technisch gut funktionieren, sondern auch emotional. Wir müssen uns damit wohlfühlen", so Purgathofer.
(futurezone/Barbara Wimmer)