Multimedia-Linux vom Mann ohne Rechner
Er nennt sich Jaromil und ist Entwickler, Hacker und zwischendurch auch Hausbesetzer. Da auf seinen Reisen um die Welt der Besitz eines Computers oft nur unnötiges Gewicht bedeutet, hat er eine Live-Linux-Distribution zusammengestellt, die auf einen kleinen USB-Stick passt und auch auf schlecht ausgestatteten Rechnern die Produktion digitaler Medieninhalte ermöglicht. Teil 2 der futurezone.ORF.at-Serie "Digitale Freiheitskämpfer".
Für Denis "Jaromil" Rojo besteht kein Unterschied zwischen dem Kampf um freien Wohnraum und der Verbreitung freier Software. Er lebt in einem besetzten Haus in Amsterdam, ist die treibende Kraft hinter der GNU/Linux-Live-CD dyne:bolic sowie der Autor der audiovisuellen Anwendungen MuSe, Freej und HasciCam. Auch als Künstler konnte Jaromil bereits reüssieren, beispielsweise als Teilnehmer der CodeDoc-II-Ausstellung im Whitney-Museum, New York, und als Sprecher auf Konferenzen und Festivals wie der Ars Electronica.
Geboren in der Stadt Pescara in der Region der Abruzzen, machte Jaromil schon früh mit dem Computer Bekanntschaft und war Teil der italienischen Mailboxszene Anfang der 90er. Der "italienische Hacker Crackdown" (siehe erste Folge der Serie) trug zur Politisierung seiner Ansichten bei. Die erste Begegnung mit GNU/Linux hinterließ zunächst vor allem einen ästhetischen Eindruck, der "Look" der Kommandozeile und der Fonts beeindruckte ihn.
Freier Compiler
Bald lernte er aber vor allem den GNU C Compiler (gcc) kennen und schätzen. "Gcc hat mein Leben verändert" erzählt Jaromil. Er hatte bereits als Kind zu programmieren begonnen und als Jugendlicher versucht, eigene Spiele zu entwickeln. Wie so viele zu dieser Zeit war er auf die Verwendung eines gecrackten kommerziellen Compilers angewiesen. Mit gcc änderte sich das, und Jaromil begann sich für Richard Stallmans Philosophie der freien Software zu interessieren. Das Argument, dass es bei der Freiheit in freier Software weniger darum gehe, dass diese gratis sei, sondern vielmehr darum, dass sie die freie Rede ermögliche, überzeugte ihn.
Mitte bis Ende der 90er war GNU/Linux unter Programmierern bereits sehr beliebt, es mangelte jedoch an Anwendungen, vor allem im audiovisuellen Bereich. Für das Livestreaming von Audio war damals Realaudio die am weitesten verbreitete Anwendung. Bei Realaudio war der Client zwar gratis, aber eben nicht frei, und die Serverlizenz kostete viel Geld, berechnet je nach Zahl der Livestreams, die man gleichzeitig anbieten konnte.
Software für Internet-Radio
Jaromil machte sich daran, eine Software für Internet-Radio zu entwickeln. Daraus wurde später MuSe, ein Werkzeug für die Komposition und das Livemixing von bis zu sechs Audiokanälen, die dann entweder in einem File abgespeichert oder über einen Server als Stream angeboten werden können. Kurz darauf wurde ihm eine frühe GNU/Linux-Live-CD namens Bolic1 von Hackerfreunden vorgestellt. Eine Live-CD enthält ein komplettes Betriebssystem auf CD-ROM, das gestartet werden kann, indem man direkt von der CD bootet, ohne das System fest installieren zu müssen, wie beim im deutschen Sprachraum sehr bekannten Knoppix.
Jaromil war vom Konzept von Bolic1 angetan, doch diese kleine Distribution war ein reines Hackertool, sie hatte keinen Desktop. Er machte sich daran, eine GNU/Linux-Live-CD auf der Basis von Bolic1 zu entwickeln, die vor allem viele audiovisuelle Anwendungen enthalten sollte, ein Instant-Kreativstudio auf CD sozusagen. Dem mediterranen Kulturraum verbunden und humanistisch gebildet, fügte er den Begriff "dyne" hinzu, eine Maßeinheit, die auf den vorsokratischen griechischen Philosophen Heraklit zurückgeht, dem auch der Ausspruch "panta rhei" - "alles fließt" - zugeschrieben wird. So entstand dyne:bolic.
Klein und funky
Unterstützung für seine Arbeit erhielt Jaromil in Österreich durch Servus.at und Public Voice Lab, so kam es, dass er für einige Jahre in Wien lebte. Hier entstand der erste Stable Release von dyne:bolic. Der Clou an der Sache ist nicht nur, dass man mit dyne:bolic ein komplettes Betriebssystem inklusive einer Reihe audiovisueller Anwendungen erhält, sondern dass dieses auch ausgesprochen "schlank" ist, und auch auf älteren Computern schnell läuft. Nicht zuletzt verfügt es über einen intuitiv benutzbaren und sehr funky gestalteten Desktop.
Die Inspiration für seine Arbeit holt sich Jaromil durch ausgedehnte Reisen. Dabei sucht er allerdings nicht die üblichen Urlaubsziele auf, sondern Krisengebiete wie Palästina und aufstrebende Schwellenländer wie Indien und Indonesien. Zielgruppe für seine Arbeit sind vor allem auch jene, die sich keine teuren Computer leisten können, aber dennoch kreativ tätig sein und ihre Stimme zu Gehör bringen möchten. Deshalb verfügt dyne:bolic zum Beispiel über die Fähigkeit des Clusterings: Das System erkennt andere Computer in einem lokalen Netz, die auch dyne:bolic benutzen, und verteilt die anstehenden Rechenaufgaben so, dass diejenigen Jobs, die am meisten Rechenleistung benötigen, auf den schnellsten Rechnern im Cluster ausgeführt werden. "Der nächste Release wird sogar noch weniger Speicherplatz brauchen als der jetzige", erzählt Jaromil stolz.
Zahlreiche begeisterte Reviews sprechen dafür, dass das Konzept aufgegangen ist, ob in der "Hindu Times" oder in der englischen Tageszeitung "The Independent", die im Jahr 2005 dyne:bolic gar unter die Top Ten der GNU/Linux-Projekte wählte. Inzwischen gibt es die Version 2.5.2 unter dem Codenamen Dhoruba. Eine der wesentlichen Veränderungen gegenüber der ersten Version ist, dass alle Entwicklungswerkzeuge mit auf der Distribution enthalten sind.
Tonstudio in der Hosentasche
So ist es möglich, dass andere dyne:bolic nehmen und auf dieser Grundlage eine eigene Distribution herstellen. Geschehen ist das zum Beispiel durch die Gruppe Goto10, die auf Basis von dyne:bolic die Distribution Puredyne entwickelten. Diese enthält noch mehr und vor allem schwer zu installierende Software für audiovisuelle Gestaltung wie zum Beispiel das visuelle Entwicklungswerkzeug Puredata mit den wichtigsten Video-Plug-ins. Viele Nutzer, die selbst keine Supernerds sind, möchten mit solcher Software gerne experimentieren, ohne dafür gleich ihre ganze Installation zu riskieren. Mit Puredyne funktioniert hochspezialisierte Software "out of the box".
Jaromils asketischer Lebensstil führt ihn manchmal zu Extremen. Als eine Art Manu Chao der Computerszene reist er um die Welt und solidarisiert sich mit unterdrückten und marginalisierten Menschen, doch anstatt sich eine akustische Gitarre um die Schulter zu schwingen, ist es in seinem Fall ein Laptop. Oder nicht einmal das. Eine Zeit lang hatte er nicht einmal einen eigenen Laptop, wollte aber dennoch mobil leben und arbeiten. Deshalb kann dyne:bolic "nesting": alles befindet sich in einem einzigen Verzeichnis und kann "installiert" werden, indem dieses Verzeichnis auf die Festplatte eines Rechners kopiert wird. So ist es möglich, eine komplette Version von dyne:bolic inklusive eigener Konfigurationen und Anwendungsdateien auf einem USB-Stick oder einer wiederbeschreibbaren CD mit sich zu tragen, in einem Internet-Cafe zu arbeiten und alles wieder abzuspeichern und mitzunehmen - ideal für den Lebensstil eines "digitalen Migranten".
Wenige Ressourcen, langsame Entwicklung
Finanziert wird all diese Entwicklungsarbeit nur mit Unterbrechungen. Von Wien aus zog es Jaromil nach Amsterdam, wo seine Arbeit gewissermaßen vom Niederländischen Institut für Neue Medien unterstützt wird, er kümmert sich dort um die Umstellung der hauseigenen Systeme auf GNU/Linux, arbeitet aber vor allem an seinen eigenen Software-Projekten, die wiederum dem Institut zugutekommen. Wichtig ist aber auch die Unterstützung der wachsenden Dyne-Community, zu der neben Entwicklern auch Leute zählen, die sich um Bug-Reports und Dokumentation kümmern, sowie Einnahmen aus Spenden und durch CD-Verkäufe an User. Ein europäisches Durchschnittseinkommen für Jaromil und den engeren Kreis der Leute um dyne.org erwächst daraus aber kaum. Vielleicht ist auch die Entwicklungszeit relativ langsam, der letzte Stable Release von dyne:bolic stammt vom Herbst 2007. Ein anderer Grund ist aber, dass die Arbeit an der Software für Jaromil nicht der alleinige Lebensinhalt ist.
Er engagiert sich, wie eingangs erwähnt, in der Hausbesetzerszene in Amsterdam, denn freier Wohnraum ist ihm genauso wichtig wie freie Software. Das politische Engagement und die freie Software können für Jaromil nicht auseinanderdividiert werden. Auf die Frage, was ihn motiviert, antwortet er ausführlich: "Ich könnte mir vorstellen, dass es schön wäre, ein Haus in der Toskana zu haben und dort unter dem Baum zu sitzen und mich so 'inspirieren' zu lassen," erklärt Jaromil. Doch die wirkliche Inspiration kommt, wie Jaromil meint, nicht allein aus der kontemplativen Versenkung in die Natur: "Ich möchte die schmutzigen Kämpfe im Herzen von Babylon mitbekommen, um wach und sensibel zu bleiben."
Freies Denken
Ebenso wichtig ist es ihm, die Bedürfnisse seiner potenziellen User kennenzulernen. "Nimm dir einen Laptop mit leistungsstarken Akkus, setz dich in einen Zug in Indien und schau aus dem Fenster und stell dir vor, was die Leute denken, was sie brauchen, wovon sie träumen." Entscheidend dafür, welchem Projekt er seine Zeit widmet, "ist nicht nur die Software, sondern wie ich mich selber dabei weiterentwickle". Jaromil stellt so ziemlich alle Klischees auf den Kopf, die gerne über Hacker verbreitet werden. Jaromil liest nicht nur Fachliteratur und Code, sondern Werke über Philosophie, Politik, Ökonomie und Arbeiten anti-kolonialistischer Freiheitskämpfer, aber auch Poesie. Die Ergebnisse seiner Denkprozesse fließen dann in eigene Texte wie zum Beispiel das Weaver-Bird-Manifesto.
Wenn Jaromil von "Babylon", spricht, ist das natürlich eine Anspielung auf das Babylon der Rastafari-Bewegung, mit der er sich eine Zeitlang stark identifizierte, so dass das Label, unter dem er seine Software zusammenfasst, "Rastasoft" heißt. Doch die Rastazöpfe sind inzwischen abgeschnitten, eine Art süditalienischer Afrolook ist nachgewachsen. Zum Glück ist Jaromil noch kein Heiliger geworden, sondern hat Humor und kann sich auch über sich selber lustig machen. Er ist stolzer Sieger des "Frank Zappa Lookalike"-Wettbewerbs. Eine seiner jüngsten Aktivitäten war ein Codesprint in einem Haus in den Bergen unter dem Motto "Zu viel Kaffee, zu wenige Hirnzellen", wobei versucht wurde, drei Tage lang ununterbrochen wach zu bleiben und eine neue Version der inzwischen ältesten Jaromil-Software MuSe zu schreiben. Da die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die vom vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen System produziert werden, eher noch zu- als abnehmen, ist vorherzusehen, dass Jaromils kreative Odyssee noch eine Zeit weitergehen und das eigene Haus in der Toskana warten muss.
(Armin Medosch)