Digitaler Lomo-Konkurrent aus Japan
Ausgebleichte Polaroids, unscharfe "Lomografien", grobe JPEG-Kompressionsartefakte: Auch technisch schlechte Fotografie kann ihren Reiz haben. In Japan tritt das Kreativkollektiv Superheadz mit der Trash-Digicam Harinezumi gegen die rauschfreie und glattgebügelte Ästhetik des DSLR-Mainstreams an.
Japaner lieben Fotografie. Und sie sind sentimental. Kein Wunder, dass in den kunstbegeisterten Kreisen Tokios 35-mm-Kameras derzeit äußerst beliebt sind. Dabei darf es auch gern trashig zugehen: "Golden Half Telepathy", "Blackbird" und "Slim Devil" heißen die eigenwilligen Plastikgeräte, die mit billigen Linsen, ungewohnten Brennweiten und kunstsinniger Marketingbegleitung in Designläden und Museumsshops um Filmnostalgiker buhlen. Das Motto: Im Zweifelsfall ist die Kamera schuld daran, wenn hinterher Kunst herauskommt.
Kein Wunder, dass sich clevere Produzenten anschicken, das Prinzip auch auf die digitale Welt zu übertragen. Nun sind auch Handykameras und Schlüsselanhänger-Cams schön trashig, aber etwas Auswahl auf dem Markt der schlechten Werkzeuge schadet nicht. So arbeitet das japanische Kreativkollektiv Superheadz seit März mit seinem Plastikprodukt Harinezumi (Igel) daran, die Hosentaschen trendbewusster Tokioter zu erobern. Eine Warnung gleich vorab: Bisher ist das Gerät nur in Japan erhältlich.
Bereits in Form und Größe erinnert der digitale Winzling mit seinen rollenförmigen Ausbuchtungen an die verführerische Haptik der 110er-Pocketfilme. Die Harinezumi lässt sich hervorragend in der Hand verstecken und ermöglicht gut getarnt Spycam-Schnappschüsse. Ab Werk gibt es keine Vorschaufunktion. Nur ein ausklappbarer Plastikrahmen dient behelfsmäßig als Sucher. Was die kleine Plastiklinse (Brennweite entspricht ca. 39 mm an Kleinbildsystemen bei einer Lichtstärke von 1:3) und der winzige CMOS-Chip mit zwei Megapixel Auflösung auf MicroSD-Speicherkarte gebannt haben, wird außerdem erst nach drei Sekunden auf dem mickrigen Ein-Zoll-LCD-Display auf der Rückseite sichtbar. Nur ein Fingerfertigkeitshack mittels richtiger Kombination der Bedienungstasten aktiviert die gewohnte schnelle Bildkontrolle.
Das Resultat der erzwungenen Schnappschüsse sind ungewöhnliche Perspektiven, angeschnittene Bildmotive und unerwartete Lichtreflexe, die vorzüglich mit den Verzerrungen der Plastiklinse und ungewohnten Farbwiedergabe des Billigsensors harmonieren. Der User kann außerdem nur zwischen den ISO-Werten 100 und 800 wählen und sich damit aussuchen, ob er seine Motive unter schlechteren Lichtverhältnissen nun verwackelt oder gnadenlos verrauscht wiedergegeben haben will. Ab Einbruch der Dämmerung hält die Kamera gnadenlos bis zu einer Drittelsekunde offen und liefert wenig betörende Wischeffekte, der automatische Weißabgleich lässt die Bilder in sumpfigen Rot-Braun-Tönen absaufen.
Retroästhetik
Der Billigchip der Harinezumi schafft natürlich keinen großen Tonwertumfang. Beim Digitalfilmen (640 mal 480 Pixel VGA mit 25fps) ist das allerdings kein Nachteil. Anders als die ramschige Bildqualität von Handyvideos erinnern die matten Farben der Harinezumi mit ihrem Gelb- und Grünstich und starken Kontrasten an Opas Super-8-Filme. Durch gelegentliches Ruckeln bei der Aufzeichnung, den völligen Verzicht auf Audioaufnahme und eigenwillige Effekte der Plastiklinse bei abruptem Lichtwechsel verwandelt die Harinezumi die Gegenwart auf simple Weise in einen lyrischen Trickfilm.
Leider macht der japanische Drang zur Produktoptimierung auch vor der Harinezumi nicht halt. Nur acht Monate nach Erscheinen des ersten Modells kündigten Superheadz bereits das Nachfolgemodell Harinezumi2you an. Wie schon die erste Igel-Cam kostet das neue Modell 16.000 Yen (ca. 120 Euro). Der Kamerachip wurde durch ein Drei-Megapixel-Modell ersetzt, eine Makrofunktion eingeführt und das Farbrauschen bei hohen ISO-Werten vermindert. Außerdem hat die neue Harinezumi leider ein eingebautes Mikrofon.
In ersten User-Videos zeigt sich, dass ausgerechnet die technischen Verbesserungen dem kleinen Wunderigel seinen spezifischen Charme rauben könnten. Mit einem öfffentlich gemachten Hack lässt sich das Nachfolgemodell aber durch richtige Kombination der Bedientasten in einen poetischen Schwarz-Weiß-Modus setzen, der Low-Fi-Fans dann doch wieder zufriedenstellen könnte.
Dank ihrer (Un)tugenden mausert sich die erste Harinezumi derweil zum Sammlerstück und wurde zuletzt in einer "limitierten" Edition mit diversen Tiermotiven in Weiß neu aufgelegt. Die Welteroberung könnte dennoch auf sich warten lassen. Superheadz konnten erst diesen Herbst in den USA Fuß fassen. Ein Vertrieb nach Deutschland ist vorerst nur angekündigt, und die Harinezumi2you ist bisher nur in Japan erhältlich.
(eSeL)