Das Internet als Kino der Zukunft
Das Internet hat unseren Umgang mit dem Bewegtbild verändert. Alte Rituale, die sich um das Mediensystem Kino angelagert haben, werden aufgebrochen und neu zusammengesetzt. Alle sind davon betroffen: Produzenten, Regisseure, Kritiker, Kinogänger und Cineasten. Der Kulturwissenschaftler und Filmkritiker Ekkehard Knörer erkundet für futurezone.ORF.at die Möglichkeiten des Bewegtbilds im Netz.
Wie geht's dem Kino in Zeiten des Internets? Das soll die einfache Frage sein, die ich in der Folge äußerst skizzenhaft zu beantworten versuche. In der Praxis eher als in der Theorie, vor allem in den folgenden Wochen. Heute soll es jedoch erst einmal darum gehen zu fragen, wie die Erschütterungen zu begreifen sind, die die Digitalisierung und insbesondere das Internet für das Kino, wie wir es kannten, bedeuten. Die Frageperspektive soll ausdrücklich die desjenigen sein, der das Kino als sozialen Raum einer technischen Praxis zu lieben gelernt hat und der zugleich von den Möglichkeiten, die das Internet bietet, begeistert ist.
Bilderstürmerische Netzeuphorie erscheint mir, heißt das, ebenso wenig ergiebig wie rückwärtsgewandte Kinonostalgie. Die Frage, die James Quandt, einer der geachtetsten Filmkuratoren der Welt, jüngst in polemischer Absicht gestellt hat, mag dabei als Motto dienen. Sie ist eine Reaktion auf die Netzbegeisterung insbesondere von Adrian Martin und Jonathan Rosenbaum in ihrem Buch "Movie Mutations" von 2003.
Zur Person:
Der Kulturwissenschaftler Ekkehard Knörer ist Filmkritiker und Redakteur der Filmzeitschrift "Cargo". Im Rahmen der futurezone.ORF.at-Serie "Konfiguration Kino" erkundet er die Möglichkeiten des Bewegtbilds im Netz.
Die Serie "Konfiguration Kino" wird unter folgender URL gesammelt:
Das große Bilderfressen
Programmatisch hieß es da: "Der Band zeigt, dass die Kunstform bei bester Gesundheit ist und sich noch immer in neue und unerwartete Richtungen entwickelt. Im Einbezug transnationaler Diskussionen und Debatten macht das Buch deutlich, warum die Idee der Cinephilie heute nicht weniger relevant ist als zuvor." Quandt formuliert seine Skepsis wie folgt: "Ist die 'neue Cinephilie', diese Netflix- und YouTube-grande-bouffe der Bilder, in der Costa, Straub und Baillie nun in Nunavut oder Kappadokien verfügbar sind und jederzeit mit Cinephilen nah und fern diskutiert werden können, das Wunder eines 'offenen Museums' demokratischer Kultur oder eine falsche Feier des Allesfressens und des Inauthentischen?"
Ich vermute: Die Alternative ist falsch. Beziehungsweise: Sie geht von Begriffen und Kategorien aus, die neuere Sachverhalte nicht mehr recht greifen. Dazu aber später mehr. Beginnen wir lieber mit einer so einfachen wie dramatisch klingenden Feststellung: Das Kino ist in Auflösung begriffen. Oder, etwas präziser gesagt: Die klassische "Konfiguration Kino" ist es, nämlich als Vorführung von Bewegtbildern am speziell für sie vorgesehenen und erbauten Ort.
Konfigurationen statt Medien
Weniger denn je versteht sich, was das Medium ausmacht, heute von selbst: Nicht die ästhetische Form (zwischen Sekundenclips auf Videoplattformen und dem milliardenschweren 3-D-Schinken "Avatar"), nicht das Trägermedium (Server, MAZ, Film, DVD, Festplatte etc.), nicht die Art und der Ort der Vorführung (Kinoprojektion, Fernsehen, Computerbildschirm, Museumsräume etc.) und nicht die Sozialform seiner Betrachtung (Masse, Vereinzelung, zu Hause, unterwegs, auf der Couch, im Sessel, am Schreibtisch, im Zug etc.).
In alle Richtungen, die man sich denken kann, löst sich so der Verbund, der Kino hieß, in andere Konfigurationen auf. Die Bilder des "Kinos" diffundieren, verteilen sich, multiplizieren sich, das Kino begegnet dem Publikum längst an mehr als nur einem für ihn spezifischen Ort. Und nur auf den ersten Blick wird man sagen können, so neu sei diese Krise des Kinos ja wohl nicht - schließlich vagabundieren die Bewegtbilder seit Jahrzehnten auf unterschiedlichen Kanälen durch die Welt.
Das Silberne Zeitalter
Das ist nicht falsch, aber es scheint mir doch, dass die "Konfiguration Kino" bis zum Anbruch des Digitalen eine für lange Zeit sehr stabile Form gefunden hatte. Zwar reichte deren Goldenes Zeitalter nur ungefähr von den 20ern bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Mit dem Fernsehen - in den 50ern - und für alle Haushalte verfügbaren Aufzeichnungsmedien - in den 80ern - trat das Kino in ein Silbernes Zeitalter ein, ohne seine wesentlichen Bestimmungen zu verändern.
Zu diesen gehörte, dass sich das Trägermedium (Film), seine Vorführgestalt (Projektion) und seine Rezeption (massenhaftes Betrachten in großen öffentlichen Räumen) regelmäßig am eigens für sie bestimmten Ort in riesigen Sälen und eigens erbauten Palästen trafen. Das Fernsehen und die Videokassette als frühere Diffusionsformen des Kinos ließen sich noch als Hilfsmedien (minderwertige Abspielstation bzw. Ersatzträger) begreifen, die für - auch institutionalisierte - Zugänglichkeit sorgten, an der Konfiguration selbst und den an sie gebundenen Institutionen und Diskursen aber qualitativ wenig änderten.
Dominanz der Nebenformen
Heute aber haben die einstigen Nebenformen nicht nur quantitativ die Führung übernommen. Der Bewegtbildkonsum findet in seiner Masse längst nicht mehr vorwiegend in eigens für ihn geschaffenen Räumen statt. Noch allgemeiner gesagt: Das Bewegtbild ist nicht mehr an einen bestimmten Ort, an ein bestimmtes Trägermedium, auch nicht mehr an Vorführzeiten gebunden. Es ist inzwischen selbst beinahe unendlich beweglich. Hier wie stets gilt jedoch: Wer technische Neuerungen als bloße Veränderungen materialer Mechanismen begreift, begreift nichts. Zur Technik gehört ihre gesellschaftliche Aneignung in Praktiken und Diskursen. Wo eine neue Technik nicht angeeignet wird, bewirkt sie schlicht: nichts. Zur Auflösung, in die die "Konfiguration Kino" geraten ist, gehört der Aufruhr jener sozialen Praktiken und Diskurse, die sie ausmachen.
Wie jede Kunst hat auch die "Konfiguration Kino" (Rezeptions-)Formen der Liebe hervorgebracht, die das technisch Bedingte als unbedingt notwendig fetischisieren und damit die distinktive Produktion von Gemeinschaftserfahrung - und daran angeschlossene Formen der Reflexion und Kritik der Kunstrezeption und damit einen Diskurs - erst ermöglichen. Es gab zahlreiche Vorgängerformen, aber fürs Kino hieß diese Liebe seit den 50er Jahren Cinephilie. Die klassische Cinephilie, die die Rezeption des Kinos für die Begeisterten auf Jahrzehnte geprägt hat, liebt(e) den Besuch der Kinemathek, sie liebt(e) die "realistische" Ontologie des Aufzeichnungsbilds ebenso wie die Anmutungsqualität der chemischen Emulsion, sie liebt(e) die Projektion auf der Leinwand, und natürlich kommunizierte sie in begeisterter Rede den Ausschluss anders Begeisterter unentwegt mit.
Die Liebe zum Kino
Wie jede Gemeinschaft bildete die der Cinephilen Rituale und Codes aus, zu denen die Wertschätzung für das Entdecken des Unbekannten wie das Bilden von Kanons gleichermaßen gehörten. Und sie erfand sich (meist ortsgebundene) Institutionen, die das Entdecken des Neuen, die Kanonisierung des Anerkannten und die Kommunikation und Zusammenkunft Gleichgesinnter verbanden: Kinematheken, Verlagsreihen, Zeitschriften, Festivals und Studiengänge an Universitäten.
Der industriellen Vermarktung durch das kommerzielle Verleihsystem stand dabei ein eigener "Markt" gegenüber, der in kuratorischer Praxis Verfügbarkeiten und Ein- und Ausschlüsse regulierte (Ein- und Ausschlüsse von Personen, aber auch Formen, damit auch die zusehends schwieriger werdende Abgrenzung von anderen Künsten - insbesondere der bildenden Kunst). Und er tat das, was beinahe wichtiger ist, mit einer Verbindlichkeit, die über die engeren Zirkel der cinephil Vergemeinschafteten hinaus starke Wirkungen zeitigte. Die Behauptung der französischen "Cahiers"-Generation etwa, es ließen sich im Industriekino Hollywoods Autorenhandschriften erkennen, erschütterte die Vorstellung davon, was Kino ist, auf der ganzen Welt (nicht zuletzt in Hollywood selbst).
Die neue Geschichte des Films
Dieser kurze Exkurs zur Cinephilie ist alles andere als ein Abweg beim Versuch, über die Krise der "Konfiguration Kino" zu sprechen. Die Cinephilie gehört irreduzibel zu dieser Konfiguration, sie verbindet als einziger Diskurs die sonst oft getrennten Sphären von Bildindustrie, Normalrezeption, Feuilleton und Akademie. Deshalb ist es von weit mehr als nur nebensächlicher Bedeutung, dass die Institutionen der Cinephilie - nämlich: die kuratorisch betriebenen Kinos, die einschlägigen Zeitschriften und Verlagsreihen, auch die Festivals - mit den Umbrüchen konfrontiert sind, die die Digitalisierung und das Internet brachten und bringen. Die längerfristigen Folgen sind noch kaum absehbar, aber wichtige Konfrontationslinien und neue Praktiken und erste Versuche der Reflexion zeichnen sich ab.
In der Folge soll es genau darum gehen: Wie die Digitalisierung nicht nur gegenwärtige Diskurse und Praktiken des "Kinos", sondern auch dessen Geschichte (genauer: den Blick darauf) verändert. An vielen Beispielen werde ich mich in den nächsten Wochen mit dem Wandel von Rezeptionsgewohnheiten, filmischem Material, erzählerischen Verfahren und mit der Bedeutung von Verfügbarkeit, Kopierbarkeit und der gewaltigen Ausdifferenzierung von Bewegtbildformen befassen.
(Ekkehard Knörer)