Wolfram Alpha als Universalcomputer
Wolfram Alpha wird ein Jahr alt. Anfangs fälschlich als "Google-Killer" gehandelt, hat sich das System im Stillen dynamisch weiterentwickelt und immer neue Datenquellen erschlossen. Denn die Antworten für viele Fragen stünden nicht im Web, sondern müssten stets neu berechnet werden, so Alpha-Gründer Stephen Wolfram.
Wolfram berichtet stolz im Firmenblog, dass seine Wissensmaschine inzwischen auf 90 Prozent der Anfragen eine Antwort hat – ein Jahr zuvor war das nur bei zwei Drittel der Anfragen der Fall. Das größte Missverständnis, das Wolfram Alpha überwinden musste, besteht wohl in der zum Start verbreiteten Annahme, dass es das bessere Google sei.
Als großer Google-Konkurrent wurde Alpha vor einem Jahr von den Medien gefeiert – und enttäuschte dadurch viele Nutzer. Dabei wollte Wolfram Alpha nie eine Such-, sondern eine Wissensmaschine sein. Sie gleicht eher Wikipedia – nur gibt sie auf Suchanfragen keine Texte, sondern Ergebnisse aus. Und mit der Entwicklung ist Wolfram zufrieden: "Das letzte Jahr hat gezeigt, dass man menschliches Wissen berechenbar machen kann." Im letzten Jahr konnten die Entwickler nicht nur die Menge der zur Auswertung verfügbaren Rohdaten verdoppeln, sondern auch Anzahl der Algorithmen.
Frisch berechnete Antworten
Die größte Stärke der Wissensmaschine sind die Algorithmen, die aus Wolframs Software-Paket Mathematica stammen. Diese kombiniert das Projekt bei Abfragen mit einer umfangreichen Datenbank und präsentiert das Ergebnis in Form von Daten und Grafiken. Der Schwerpunkt liegt hiermit im Bereich der exakten Wissenschaften, wobei der Funktionsumfang der Wissensmaschine ständig erweitert wird. Wolfram begründet die Relevanz seines Projekts damit, dass es auf 50 Prozent der Anfragen im Web keine Antwort gebe, da die diese erst errechnet werden müsse.
Bei Bedarf auch als großer Taschenrechner nutzen: Zu den einfachsten Übungen gehören Umrechnungsaufgaben wie Kilometer/Stunde in Fuß/Sekunde. Auch kann der Internet-Rechner einfache physikalische Aufgaben bearbeiten, etwa die, wie schwer ein Kilogramm Wasser auf dem Mond ist. Vor allem für Schüler und Studenten sind die mathematischen Funktionen interessant, die über verschiedene Lösungsschritte aufgelöst und in grafische Darstellungen umgesetzt werden. Damit eignet sich die Wissensmaschine auch für den Matheunterricht – wobei Lehrer dann mehr Zeit bleibt, um über Methoden zu diskutieren.
Grippeverbreitung und Börsenkurse
Aber auch bei der Auswertung von Unternehmenskennzahlen zeigt sich Wolfram Alpha von einer starken Seite: Die Suchanfrage "Apple Google" etwa ergibt, dass die Apple-Aktie die Google-Aktie im letzten Jahr überholt hat – und dass der Trend ungebrochen zu sein scheint. Weitere Vergleichszahlen lassen sich nach verschiedenen Zeiträumen aufblättern. Auf dieselbe Weise können die User auch einzelne Länder miteinander vergleichen – nicht jedoch unterschiedliche Staatengebilde wie etwa die Europäische Union und die USA.
In Entwicklung befindet sich derzeit die Funktion "Automobile" – künftig sollen sich wohl auch verschiedene Autotypen miteinander vergleichen lassen.
Ein Wermutstropfen besteht noch darin, dass Nutzer ihre Suchanfragen auf Englisch formulieren müssen. Doch Anfragen wie "Swine flu in Austria" ergeben prompt eine Reihe von Grafiken, wie sie jedem besseren Online-Magazin anstünden. Die Aktivitätskurven zeigen die jüngsten Fallzahlen.
Suche und Prognosen
Während Wolfram Alpha gezielt Daten zum Grippevirus H1N1 und dessen Verbreitung liefert, bietet die Grippe-Vorhersage von Google nur akkumulierte Grippedaten, die anhand von Suchabfragen erstellt werden. Diese wiederum sollen, so eine eben vorgestellte Studie der Universität Seattle, wenig zuverlässig sein. Während Wolfram Alpha historische Fallzahlen anzeigt, versucht sich Google mit Hilfe der Suchbegriffe an Prognosen. Doch die Suchanfragen nach Symptomen wie Fieber, Husten und Halsschmerzen lassen sich während einer Grippewelle nur zu 20 bis 70 Prozent tatsächlich auf Grippeviren zurückführen, so die Studie aus Seattle.
Nachdem die US-Regierung mit data.gov und die britische Regierung mit data.gov.uk Tausende von hochwertigen Datensätzen im Zuge ihrer Open-Government-Politik veröffentlicht haben, könnte sich Wolfram Alpha zu einer wichtigen Auswertungszentrale für solche Open-Data-Sets mustern. Eine Kostprobe lieferte die Wissensmaschine bereits mit Kriminalitätsdaten aus den USA: So können Nutzer etwa die Kriminalitätsraten verschiedener Städte miteinander vergleichen, sie können herausfinden, ob es mehr Wohnungseinbrüche als Autodiebstähle gibt.
Immobilienpreise und Kriminalität
Sie können sogar sozioökonomische Suchanfragen stellen. Sie können beispielsweise feststellen, dass die Immobilienpreise in New York City seit dem Jahr 2000 enorm gestiegen sind, nachdem die Verbrechensrate sich seit den 90er Jahren kontinuierlich nach unten bewegt hatte. Auch können Alpha-Anwender der Frage nachgehen, ob mit der Zunahme der Arbeitslosigkeitsrate auch die Einbruchsrate steigt – was in Seattle etwa eindeutig nicht der Fall ist.
Die Zahl der eingelesenen Datenbanken steigt: Anfangs glaubt Wolfram, dass es immer Dinge geben würde, die ein wenig zu weit abseits lägen, um von der Expertenmaschine abgedeckt zu werden. Dafür führte er immer die Suchanfrage "France goats", also "Frankreich Ziegen", als Beispiel für die Suchanfragen an, die wohl nie beantwortet werden würden. Doch kürzlich stellte er fest, dass auch diese Suchanfrage inzwischen funktioniert, da irgendjemand eine Datenreihe über eine Herde in Frankreich spendiert hatte, die bis in das Jahr 1971 zurückreichte. Dabei soll dieses Beispiel kein Einzelfall sein. Wolfram: "Ich staune immer wieder, wie vieles wirklich bekannt ist und sich berechnen lässt."
Inzwischen hat sich aber auch das Umfeld weiter entwickelt: Wolfram Alpha wird langsam in Microsofts Suchmaschine Bing integriert, es gibt eine eigene iPhone-App, ein erstes eBook, das Wolfram Alpha integriert, aber auch erste Anwendungen in Unternehmensumgebungen. Zum ersten Geburtstag hat sich die Wissensmaschine außerdem ein neues Aussehen verpasst. Es gibt Straßenkarten, Tausende von Krankheiten und Krankheitssymptome werden abgedeckt. Und es gibt Dank der erweiterten linguistischen Datenbank nun auch den Versuch, Fragen auch "annähernd" zu beantworten.
(Christiane Schulzki-Haddouti)