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Filesharing: Die wundersame Musikvermehrung

MEDIEN
17.06.2010

Der Harvard-Ökonom Felix Oberholzer-Gee hat mit seinen Studien die Annahme erschüttert, dass der unlizenzierte Musiktausch via Internet für sinkende Umsätze in der Medienindustrie verantwortlich sei. Der Musikindustrie sagte er im Gespräch mit ORF.at trotz aller Schwierigkeiten eine glänzende Zukunft voraus.

Der gebürtige Schweizer Felix Oberholzer-Gee ist Associate Professor an der Harvard Business School in der Strategieabteilung. Der Ökonom befasst sich mit den ökonomischen Folgen der Digitalen Wende in der Musik-, Film- und Zeitungsbranche.

2004 sorgte der Schweizer Ökonom Oberholzer-Gee gemeinsam mit seinem amerikanischen Kollegen Coleman Strumpf mit einer aufwendigen Studie zur Auswirkung von Tauschbörsen auf CD-Verkäufe für einiges Aufsehen. Die beiden Autoren fanden damals keinen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit, wie oft ein Lied heruntergeladen wurde und wie oft es in traditioneller Form auf einem Datenträger über den Ladentisch ging. Sie schlossen daraus, dass Filesharing keine negativen wirtschaftlichen Auswirkungen habe.

Heute findet der Harvard-Professor, dass von einer Krise der Musikindustrie wenig zu spüren sei, dafür aber das Geistige Eigentumsrecht grundlegend reformiert werden müsse.

ORF.at: Ihre Studien aus dem Jahr 2004 und 2007, die unter dem Titel "The Effects of Filesharing on Record Sales" veröffentlicht wurden, hat unter Ökonomen sowie in der Musikbranche für sehr viel Wirbel gesorgt. Haben Sie die Reaktionen überrascht?

Felix Oberholzer-Gee: Mich haben weniger die Reaktionen als das Resultat der Studie überrascht. Die Daten, die der Studie zugrunde liegen, stammen aus dem Jahr 2002, als Filesharing noch in den Kinderschuhen steckte. Napster war zwar bereits ein Jahr von der Bildfläche verschwunden, aber dezentrale Netzwerke wie Opennap wurden gerade erst populär. Damals galt unangefochten die Theorie, dass die Umsatzzahlen der Musikindustrie einzig und allein deshalb zurückgehen, weil viele Leute Musik gratis und unlizenziert im Netz herunterladen.

ORF.at: Wieso kamen Sie zu einem anderen Ergebnis?

Oberholzer-Gee: Wir waren die Ersten, die sich nicht an Umfragedaten orientiert haben, die etwas unzuverlässig sind. Wir haben analysiert, wie die Leute wirklich die Tauschbörsen nutzen. Dafür haben wir die Logfiles von Millionen von Downloads untersucht. Daran konnte man sehen, wer sich wann einloggt, wonach gesucht wird und was tatsächlich heruntergeladen wird. Uns hat dabei die Frage interessiert, ob es einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit, mit der ein bestimmtes Lied bei einer Tauschbörse heruntergeladen wurde und seinen Verkaufszahlen gibt.

ORF.at: Zu Ihrer Überraschung gab es keinen Zusammenhang.

Oberholzer-Gee: Zunächst war es kaum nachvollziehbar, dass es keinen Zusammenhang zwischen Umsatzzahlen und der Popularität von Titeln in Tauschbörsen gibt. Aber wenn man sich genauer anschaut, was da eigentlich im Internet passiert, ist es schon weniger überraschend. Mein Mitautor und ich, wir hatten zu Beginn diese romantische Vorstellung, dass das Netz diese unheimliche Vielfalt anbietet. Musik und Filme, die längst nicht mehr über den Ladentisch gehen, sind im Internet verfügbar. Aus unseren Daten haben wir allerdings gelernt, das in Tauschbörsen hauptsächlich jene Titel nachgefragt werden, die ganz an der Spitze der Hitparaden stehen, also auch kommerziell erfolgreich sind. Filesharing bezieht sich hauptsächlich auf ganz populäre Musik und richtet wirtschaftlich keinen Schaden an.

ORF.at: In Anlehnung an Ihre Studie und weitere Untersuchungen, etwa zur Einkommenssituation von Künstlern, gehen Sie so weit, dass Sie den Untergang der Musikindustrie infrage stellen.

Oberholzer-Gee: Wir können lange darüber streiten, welcher Teil des Umsatzrückganges im Tonträgergeschäft durch Filesharing verursacht wird oder was andere Faktoren für den Rückgang sind. Die Leute spielen Videospiele und tun viele Dinge, die sie nicht tun konnten, solange es kein Internet gab. Der entscheidende Punkt ist, dass wenn ein Produkt in einer Volkswirtschaft günstiger wird, die Zahlungsbereitschaft für sogenannte komplementäre Güter steigt. Das heißt, wenn Musik sehr günstig wird, nimmt meine Zahlungsbereitschaft für iPod, Konzerttickets und Merchandising-Produkte zu. Die Geschäftsmöglichkeiten verlagern sich von einem Bereich in einen anderen. Man muss deshalb die verschiedenen Einkommensströme zusammenrechen. Da wird schnell klar, wer in einer Krise steckt. Es sind die großen Musikunternehmen, die sich traditionell darauf verlassen haben, dass das Einkommen aus dem Verkauf von Tonträgern kommt. In der Tat sinken dort die Umsätze, da gibt es nichts schönzureden. Was man aber auch sehen muss: Der Markt für Komplementärgüter hat sich in den letzten Jahren ganz toll entwickelt. In den USA, Großbritannien und Schweden sind in den letzten Jahren, das belegen Studien, die Einkommen von Musikern im Durchschnitt gestiegen, weil sie viel höhere Preise für Konzerttickets verlangen können. Der Komplementärmarkt macht also den Verlust wett, der durch den Einbruch auf dem Tonträgermarkt entstanden ist. Wenn man eine nicht ganz enge Vorstellung davon hat, was die Musikindustrie ist und womit sie Geld einnimmt, muss man sagen, dass die Wertschöpfung in der Musikindustrie in den letzten Jahren unheimlich stark gestiegen ist. Der Musikindustrie geht es besser denn je zuvor.

ORF.at: In einem aktuellen Essay beschäftigen Sie sich mit den Wechselwirkungen von Filesharing und Urheberrecht. Das Urheberrecht in seiner jetzigen Form gehört abgeschafft, sind Sie überzeugt. Wie kommen Sie zu so einem radikalen Schluss?

Oberholzer-Gee: Das Urheberrecht gehört zum Eigentumsrecht. Als man es vor etwa 200 Jahren in den USA und den europäischen Ländern einführte, lautete die Ursprungsidee, dass man die Produktion von kulturellen Gütern nicht einfach dem Markt überlassen wollte. Dahinter stand der Wille der Gesellschaft, die größtmögliche Vielfalt an kulturellen Erzeugnissen zu gewährleisten. Die Prämisse lautet also, dass man künstlerische Erzeugnisse schützen muss, um den Menschen Anreize zu geben, künstlerisch tätig zu sein und dass zu wenig produziert würde, wenn Kulturgut gratis verfügbar wäre. Im Zusammenhang mit Filesharing hat sich allerdings herausgestellt: Wenn der Schutz, den das Urheberrecht bietet, wesentlich schwächer wird, wenn da plötzlich Milliarden von nicht lizenzierten Musikdateien ausgetauscht werden, dann ergeben sich komplementäre Märkte, die den Einkommensverlust der Künstler beschränken oder sogar wettmachen. Darüber hinaus kommen in den USA heute pro Jahr mehr als doppelt so viele neue Alben auf den Markt als zu Beginn der Tauschbörsenära vor zehn Jahren. Das heißt: Der Ursprungsgedanke, dass wir ein starkes Urheberrecht bräuchten, um die Vielfalt auf dem Markt zu fördern, stellt sich als vollkommen falsch heraus. Natürlich gibt es da Einschränkungen: Vielleicht müssen wir bestimmte Musikformen durchaus schützen. Vielleicht brauchen wir ein Urheberrecht für Oper oder für neue ernste Musik. Es sollte abhängig davon gemacht werden, ob die Musik im Wettbewerb überleben kann.

ORF.at: Das Urheberrecht ist in Europa und den USA traditionell ein sehr starkes. Was lässt sich denn über Länder wie China und Indien sagen, die historisch bedingt über ein schwächeres Urheberrecht verfügen?

Oberholzer-Gee: In China haben die großen Musikunternehmen vor kurzem mit Google einen Deal abgeschlossen. Er erlaubt es, Google Musik auf legale Weise zur Verfügung zu stellen. Das heißt: 1,3 Milliarden Konsumenten auf dem Planeten bekommen alle Arten von Musik gratis und legal zur Verfügung gestellt. Das ist ein interessantes Beispiel dafür, wie man den Zugang zu Musik anders monetarisieren kann, als wir das traditionell gewohnt sind. Der Hintergrund ist natürlich der, dass Google sich mit diesem Deal einen Vorsprung gegenüber seinem größten chinesischen Konkurrenten der Suchmaschine Baidu verschaffen wollte.

ORF.at: Welche Rolle sollte die Musikindustrie Ihrer Meinung nach übernehmen?

Oberholzer-Gee: Das größte Problem für die Konsumenten besteht heutzutage nicht darin, an Musik heranzukommen, sondern in dem Überangebot eine Auswahl zu treffen. Auf MySpace präsentieren sich Abertausende Bands. Es gibt meistens einen guten Grund, warum die meisten Bands nicht populär sind. Sie machen Musik, die dem Geschmack der wenigsten Menschen entspricht. Durch das Überangebot, das wir heute haben, ist die Fähigkeit, zu verstehen, was die Leute hören wollen und dann ihre Aufmerksamkeit zu lenken, viel wichtiger geworden. Das ist ein Bereich, der traditionell in der Hand der Musikindustrie liegt. Wenn ich mit meinen Studenten über die Zukunft der Musikindustrie diskutiere, höre ich oft den Satz: Die Musikindustrie wird total verschwinden. Das glaube ich überhaupt nicht. Wenn die sich Musikindustrie als Aufmerksamkeitsmaschinerie begreift, steht ihr eine tolle Zukunft bevor. Allerdings: Wenn man Filesharing-Dienste verbietet und kriminalisiert, wenn man die Menschen in immer dunklere Bereiche des Internets drängt, wird es zunehmend schwieriger, zu beobachten, was Konsumenten wollen und tun.

ORF.at: Zum Abschluss noch ein Blick in die Kristallkugel: Wohin wird sich die Musikindustrie in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln?

Oberholzer-Gee: Rückblickend wird es in ein paar Jahren interessant sein festzustellen, ob die Flut an neuen Bands und neuer Musik angehalten haben wird. Möglicherweise verhält es sich ähnlich wie mit der frühen Internet-Euphorie. Als in den späten 1990ern jeder dachte, er könne online einfach und ohne Kapital ein Unternehmen starten, kam die Ernüchterung vergleichsweise schnell. Die Blase platzte. Es könnte sein, dass es sich mit der Musikproduktion und dem Internet ähnlich verhält. Momentan sind alle begeistert, weil man Songs schnell und einfach ins Internet stellen kann und dann stellt sich heraus, dass sich vielleicht anderthalb User für die Lieder interessieren. Technologisch gesehen werden in den nächsten Jahren die Such- und Empfehlungsmaschinen für Musik besser werden. Da sind wir noch ganz am Anfang, wie man Informationen suchen kann.

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(Anna Masoner)