Google scannt Österreichs Kulturerbe
Mitte Juni hat die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) bekanntgegeben, mit Hilfe von Google 400.000 gemeinfreie Bücher digitalisieren zu wollen. ÖNB-Direktorin Johanna Rachinger sprach im ORF.at-Interview darüber, wie sich Google von einer Kooperation überzeugen ließ, warum der Internet-Konzern damit Geld verdienen darf und wie die digitale Zukunft der Bibliothek aussieht.
ORF.at: Wie kam die Kooperation mit Google zustande? Wer machte den ersten Schritt?
Johanna Rachinger: Ich konnte mir von Anfang an vorstellen, dass das auch ein Weg für die ÖNB sein kann. Ich war gleich in der Anfangsphase in den USA und habe Termine mit einigen Bibliotheken gemacht, um mich zu informieren. Wir sind bald an Google herangetreten und haben unser Interesse deponiert. Wir haben drei Jahre lang verhandelt. Das hat deshalb relativ lange gedauert, weil wir auch einen Vertrag verhandeln wollten, in dem sichergestellt ist, dass die Qualität der Daten stimmt. Das heißt, dass die Bücher auch mit Verfahren digitalisiert werden, die unseren Qualitätsstandards entsprechen.
ORF.at: Hatten Sie das Gefühl, Google empfängt Sie mit offenen Armen?
Rachinger: Ich glaube, dass unsere Argumente sehr beeindruckend waren und zwar insofern, als der Altbestand der ÖNB zu den fünf wertvollsten weltweit gehört. Außerdem sind an die 20 Prozent fremdsprachig, das heißt, wir haben Bücher etwa in Tschechisch, Slowakisch und Ungarisch. Wir decken also den ganzen süd- und südosteuropäischen Raum ab, und dort hat Google noch nichts digitalisiert.
ORF.at: Das wirkt jetzt so, als hätten Sie sich sehr stark darum bemühen müssen.
Rachinger: Man musste sich nicht bewerben, aber man musste Google überzeugen, warum gerade diese Bände für ein breites Publikum interessant sind.
ORF.at: Die ÖNB spart sich mit der Kooperation die Digitalisierungskosten, die sie auf 30 Millionen Euro schätzt. Die Aufgabe von Bibliotheken ist es, Bildung und Wissen für die Allgemeinheit zu konservieren und zugänglich zu halten, während Firmen dazu da sind, Geld zu verdienen. Google ist eindeutig ein Konzern, der Geld verdienen möchte. Inwieweit finden Sie diese Gewinnorientierung bzw. die Zusammenarbeit mit diesem gewinnorientierten Unternehmen bedenklich?
Rachinger: Das finde ich überhaupt nicht bedenklich, denn die Zielorientierung eines wirtschaftlichen Unternehmens ist es, Geld zu verdienen, alles andere wäre abwegig. Unser Auftrag besteht darin, die Inhalte, die wir haben, einer möglichst breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen und dass wir das mit den modernen Technologien tun. Mit Google haben wir eine Chance ergriffen. Für die ÖNB wäre es – zumindest in den nächsten Jahren – undenkbar gewesen, diese Geldsumme (die für diese Digitalisierung notwendig wäre, Anm.) aufzustellen. Zweitens befinden sich unter diesen Beständen teilweise unglaublich wertvolle Unikate, die durch die Benützung in den Lesesälen Beschädigungen ausgesetzt sind. Durch die Digitalisierung schonen wir sie und können das Kulturerbe bewahren. Und drittens, und das war für mich ganz wesentlich, wir haben damit auch eine Vorsorge für einen hoffentlich nie eintretenden Katastrophenfall geschaffen. Durch diese Digitalisierung haben wir Kopien der Inhalte, die ganz woanders gelagert werden.
ORF.at: In den FAQ auf Ihrer Website heißt es, dass diese gemeinfreien Bücher bei Google Books "vorerst nicht mit Werbung" angeboten werden.
Rachinger: Google finanziert die Digitalisierung, Google zieht daraus einen Nutzen, es kann die Inhalte in seiner Suchmaschine zur Verfügung stellen. Das, was wir verhandelt haben, ist, dass diese Inhalte kostenfrei zur Verfügung gestellt werden müssen. Google darf nie von den Benutzern dieser Inhalte Geld verlangen.
ORF.at: Aber Google darf Geld damit verdienen?
Rachinger: Es sind ja keine Heiligen, das ist klar. Wobei nicht vorgesehen ist, dass hier Werbung gemacht wird, aber sie könnten es machen. Ich habe kein Problem damit, auch deshalb, weil die ÖNB diese Inhalte auch zur Verfügung stellen darf. Das war ein wesentlicher Punkt in den Verhandlungen, dass wir frei sind und diese Inhalte auch einem anderen Partner, zum Beispiel der Europeana, zur Verfügung stellen dürfen. Ein mündiger Bürger kann dann selbst entscheiden: Gehe ich zu Google und werde möglicherweise mit Werbung konfrontiert, was laut Karl Pall (Google-Österreich-Chef, Anm.) nicht vorgesehen ist. Oder ich schaue mir die Inhalte über die ÖNB oder die Europeana an.
ORF.at: Welche Auflagen gab es Ihrerseits beziehungsweise seitens Google für den Deal?
Rachinger: Wir sprechen nicht über die Details der Verträge, es gibt eine Vertraulichkeitsvereinbarung. Aber der Vertrag wurde zu unserer großen Zufriedenheit abgeschlossen. Wir waren sehr streng, vor allem was die Sicherheit der Bestände betrifft. Derzeit wird ein Kriterienkatalog erarbeitet. Zum Beispiel werden Bücher ab einem bestimmten Beschädigungsgrad nicht digitalisiert.
ORF.at: Sobald das Buch das Haus verlässt, übernimmt Google die Kosten. Welche Kosten entstehen Ihnen durch die Digitalisierung?
Rachinger: Google übernimmt die Transportkosten und die ganzen Digitalisierungskosten. Die Kosten, die uns entstehen, sind die Logistikkosten innerhalb des Hauses, die Bücher aus den Magazinen nehmen, mit einem Barcode versehen, verpacken - dann werden sie von unserem Partner abgeholt. Weitere Kosten sind die Speicherkosten. Heute kostet ein Terabyte circa 5.000 Euro. Man sagt, das wird weniger, bis jetzt habe ich noch nichts gespürt. Wir rechnen mit etwa 175.000 Euro im Jahr, wenn wir den gesamten Bestand zur Verfügung stellen.
ORF.at: Wo sehen Sie Verdienstmöglichkeiten, die diese Mehrkosten kompensieren?
Rachinger: Wir haben durch die Digitalisierung insgesamt echte Profitcenters geschaffen. Wir haben das Bildarchiv Austria aufgebaut, womit wir 300.000 historische und zeitgenössische Bilder im Netz haben. Jährlich kommen mehr als 10.000 im On-Demand-Verfahren dazu. Das Bildarchiv führen wir wie einen Agenturbetrieb. Wir haben etwa Kooperationen mit italienischen und deutschen Agenturen, die für uns auch in diesen Ländern unsere Bilder lizenzieren, und wir bekommen 50 Prozent der Einnahmen. Wir digitalisieren jetzt auch unseren gesamten Plakatbestand, das sind 100.000. Ich nenne deshalb die visuellen Medien, weil die sehr stark nachgefragt sind. Wenn eine Zeitung ein historisches Plakat aus unserem Archiv abdruckt, verlangen wir eine Gebühr für die Abdruckgenehmigung. Klar ist auch, dass die ÖNB Aufgaben hat, die im Interesse eines ganzen Landes sind. Die neuen Aufgaben wie die Web-Archivierung müssen auch mitfinanziert werden, zum einen über die Basisabgeltung, aber auch über zusätzliche Einnahmen.
ORF.at: Wie sieht der Zeitplan aus? Wann wird die Digitalisierung gestartet?
Rachinger: Wir sind jetzt dabei, den Projektplan bis Ende des Jahres gemeinsam mit Google zu erarbeiten. Mit der Digitalisierung beginnen wir 2011. Das wird schrittweise passieren, die Bücher werden maximal zehn Wochen außer Haus sein. Die Digitalisierung selbst erfolgt in Südbayern.
ORF.at: Mit welcher Methode wird digitalisiert?
Rachinger: Darüber haben wir Stillschweigen vereinbart, das ist Teil der Vertraulichkeit.
ORF.at: Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für diese strenge Geheimhaltung?
Rachinger: Das kann ich nicht beurteilen, das ist ein Geschäftsprinzip von Google.
ORF.at: Haben Sie das Zentrum gesehen?
Rachinger: Das unterliegt der Vertraulichkeit, tut mir leid, da kann ich nichts dazu sagen.
ORF.at: Zur Qualitätssicherung: Sie sagten, gesichtet wird von Ihnen und gleichzeitig auch von Google. Wie sieht das aus?
Rachinger: Es werden natürlich Stichprobenkontrollen gemacht. Bei sehr wertvollen Werken wird stärker kontrolliert. Soviel wir wissen, sind die amerikanischen Bibliotheken sehr zufrieden. Wir haben genau vereinbart, wie wir das machen, und das wird von uns kontrolliert werden.
ORF.at: Ein ORF.at-Leser meinte, dass Google sehr "oberflächlich" scannen würde. Er habe bereits Probleme damit gehabt, weil alte Physikbücher oft Figuren auf Seiten enthalten, die extra aufgefaltet werden müssen. So etwas kann bei einer Massendigitalisierung nicht berücksichtigt werden, weshalb oft wesentliche Teile fehlen.
Rachinger: Davon gehe ich nicht aus, weil wir bei unseren Verhandlungen diese Themen besprochen haben und wir mit dem Ergebnis der Verhandlungen sehr zufrieden sind. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
ORF.at: Das heißt, solche Seiten werden berücksichtigt?
Rachinger: Wir gehen davon aus, dass die Bücher vollständig digitalisiert werden, so haben wir es verhandelt.
ORF.at: In den FAQ zum Projekt steht: "Digitalisate werden ohne Einschränkung nutzbar sein, allerdings werden wir technische Maßnahmen setzen, um einen unlimitierten Massendownload und einen automatisierten Zugriff auf die Daten z. B. durch Suchmaschinen zu verhindern." Wozu diese Regelung?
Rachinger: Es könnte sein, das jemand 100.000 Bände auf einmal runterlädt.
ORF.at: Das dürfte er theoretisch.
Rachinger: Aber das wollen wir nicht!
ORF.at: Wo liegt das Limit?
Rachinger: Das werden wir im Zuge der Projektplanung festlegen. Aber wir wollen das nicht, dass eine Person 100.000 Bücher runterlädt. Wir fragen uns auch, wozu?
ORF.at: Nachdem es gemeinfreie Werke sind: Darf ich das Buch runterladen und es auf meinen Server stellen und selbst anbieten? Oder wird es hier von Ihrer Seite Konsequenzen oder Einschränkungen geben?
Rachinger: Das sind alles Fragen, die wir im Zuge unserer Projektplanung bis Ende des Jahres erarbeiten. An sich spricht aber nichts dagegen. Wenn Sie heute in einem Antiquariat ein urheberrechtsfreies Buch kaufen, es kopieren, binden und zum Geburtstag verschenken, dann dürfen Sie das. Sie dürfen es also auch im Netz anbieten.
ORF.at: Warum dann das Downloadlimit? Sie wollen also aus einem Prinzip heraus keinen Massendownload gestatten?
Rachinger: Ja genau, aus einem Prinzip heraus.
ORF.at: Gibt es Pläne, auch aktuelle Literatur, also welche, die noch unter Urheberechtsschutz steht, zu digitalisieren?
Rachinger: Jetzt versuchen wir, dass wir dieses große Projekt bewältigen. Aber natürlich, strategisches Ziel der ÖNB ist der Aufbau einer virtuellen Bibliothek. Mit der Google-Kooperation haben wir in sechs Jahren ungefähr zwölf Prozent unseres Bestandes digitalisiert und 88 Prozent nicht. Das wird sich sicher in den nächsten Jahrzehnten ändern, aber bis wir bei 50 Prozent sind, wird es noch dauern. Digitale Bücher, die nicht gemeinfrei sind, dürfen bei uns nur hausintern angesehen werden. Da haben wir die gleiche Lösung, wie für physische Bücher. Da bin ich voll bei den Autoren. Eine externe Verleihung via Internet haben wir nicht vor.
ORF.at: Was sagen Sie zum Verhältnis der österreichischen Verlage und Autoren zu Google beziehungsweise zu deren Stellungnahme zu Ihrer Kooperation mit Google?
Rachinger: Die österreichen Verlegen und Autoren machen sich Sorgen um den Schutz des Urheberrechts. Diese Sorgen verstehe ich. Das Urheberrecht darf nicht missbraucht werden. Die ÖNB lässt durch Google aber ausschließlich urheberrechtsfreie Werke digitalisieren. Das ist ein anderes Thema.
(futurezone/Claudia Glechner)