Beziehungsanalysen im Onlinegame
Nur selten haben Wissenschaftler Zugang zu Daten aus Onlinespielen, um daraus etwa Erkenntnisse über das Verhalten der Nutzer zu gewinnen. Ein Team der Medizinischen Universität Wien löste das Problem, indem es ein selbst geschriebenes Browser-Game einsetzte.
Das Forscherteam besteht aus Michael Szell, Dissertant am Institut für Wissenschaft komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien, Renaud Lambiotte, Post-Doktorand am Londoner Imperial College, und Stefan Thurner, Professor am Institut für die Wissenschaft komplexer Systeme.
Soziales Verhalten von Menschen lässt sich im großen Maßstab vermessen, glaubt der Mathematiker Michael Szell. Gemeinsam mit seinen Kollegen von der Complex Systems Research Group der Medizinischen Universität Wien arbeitet er mit Datenmaterial, das im Onlinespiel Pardus anfällt. Die Wissenschaftler wollen mittels Netzwerkanalysen der Spielerbewegungen in Pardus soziologische Hypothesen überprüfen.
Pardus ist ein Massive Multiplayer Online Browser Game (MMOBG), das Szell ab 2003 gemeinsam mit einem Freund in seiner Freizeit programmiert hat. Im Herbst 2003 ging das Game ans Netz, im September 2006 befanden die Entwickler das Spiel als "ausgereift genug", um neben den Gratis-Accounts auch kostenpflichtige Premium-Accounts einzuführen. Zu diesem Zeitpunkt zählte Szell bereits 5.000 aktive Spieler.
300.000 registrierte User
Mittlerweile gibt es laut Szell 300.000 registrierte User, 17.000 davon würden das Spiel derzeit auch aktiv nutzen. Nach seinem Abschluss in Technischer Mathematik an der Technischen Universität Wien traf Szell 2008 auf den Physiker Stefan Thurner. Thurner habe das Potenzial der zur Verfügung stehenden Daten gesehen, nämlich "die Entwicklung einer menschlichen Gesellschaft über Jahre hinweg aufgezeichnet, und das mit sekundengenauen Daten".
"Wissenschaftler haben sich in den vergangenen Jahren viel darum bemüht, an die anonymisierten Datenaufzeichnungen von Spieleherstellern zu gelangen", erläutert Szell. Wegen rechtlicher Bedenken seien diese oft von den Konzernen abgewiesen worden, zudem stecke auch ein sehr hoher Zeitaufwand dahinter. Szell: "Wir haben viele Monate damit verbracht, allein die vorhandenen Daten zusammenzustellen und in ein Format zu bringen, das man untersuchen kann."
"Naturgesetze" finden
Gemeinsam mit seinem Doktoratsbetreuer Thurner, der das im Jänner neu gegründete Institut für die Wissenschaft komplexer Systeme leitet, arbeitet Szell jetzt an der Auswertung der Daten, die bis in das Jahr 2006 zurückreichen. "Ultimatives Ziel ist, die Entwicklung von sozialen Netzwerken zu erforschen und daraus so etwas wie 'Naturgesetze' von menschlichem Verhalten zu finden", meint Szell.
Die größten Katastrophen weltweit seien großteils von Menschhand gemacht, so der Mathematiker: "Wenn wir das menschliche Verhalten besser verstehen, dann können wir versuchen, diese vielleicht auch besser zu vermeiden." Natürlich sei auch Vorsicht geboten. "Noch sagen wir überhaupt nicht, dass unsere Erkenntnisse, die wir aus den Spielen ziehen, auch für die Wirklichkeit gelten", sagt Szell.
Die ersten gewonnenen Erkenntnisse über das "sozialwissenschaftliche Experiment" sind in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" ("PNAS") erschienen. Untersucht wurden verschiedene "Beziehungen" (Freundschaft, Feindschaft, Handel, Aggression und Kommunikation) mit netzwerktheoretischen Methoden. Die Forscher sehen diese "Beziehungen" als "Fundamente der Gesellschaft". In Pardus seien diese Komponenten ebenso zu finden.
Mit dem Raumschiff ins virtuelle Universum
Pardus ist ein Weltraumspiel. Der User tritt nach der Registrierung – wofür einzig eine gültige E-Mail-Adresse notwendig ist – in eines der virtuellen Universen ein. Ein Universum mit etwa 1.000 Usern ist den Abonnenten eines Premium-Accounts vorbehalten, weitere zwei Universen mit jeweils etwa 7.000 bis 8.000 Usern können gratis betreten werden.
Mit dem eigenen Raumschiff erforschen die Spieler die fremden Galaxien, handeln mit anderen Spielern, schließen Freundschaften (setzen User auf die eigene Freundschaftsliste) und kommunizieren miteinander. Oder sie attackieren einander und setzen unliebsame Mitspieler auf die Feindschaftsliste. "Es gibt kein konkretes Ziel im Spiel", erläutert Szell. So gebe es seines Erachtens mehrere Gründe, Zeit in Pardus zu verbringen. "Eine Motivation könnte sein, dass ich reich werden möchte, eine andere, dass ich beliebt werden will." Auch das reine Erforschen des Spieluniversums sei für einige Mitglieder Motivation genug.
Datenschutz wird eingehalten
Vor Projektbeginn sei seitens der universitären Rechtsabteilung geprüft worden, ob die Nutzung der Daten auch den Datenschutzbestimmungen entspreche. Bei den Analysen werde nur mit Daten ohne Personenbezug gearbeitet. Ein Hinweis auf die Nutzung dieser Daten für wissenschaftliche Zwecke finde sich in der Datenschutzerklärung.
Szell sieht die eigene Arbeit als Grundlagenforschung. "Es gibt jahrzehntealte soziologische Hypothesen, die wir anhand dieser Daten jetzt überprüfen wollen", erklärt der Wissenschaftler. Eine Hypothese über Freundschaften und Feindschaften sei etwa, dass wenn eine Person (A) mit zwei Personen (B und C) befreundet sei, die sich noch nicht kennen, dann die Wahrscheinlichkeit sehr hoch sei, dass die beiden letzteren Personen auch Freunde werden.
Freund oder Feind?
"Man wusste allerdings bisher nicht genau, was in der Regel aus dem Feind (C) meines Feindes (B) wird. Wird der eher zu meinem Freund oder zu meinem Feind?" fragt Szell. In den Analysen des Pardus-Materials habe sich gezeigt, dass das eher irrelevant sei. Die Chance, dass die Person (B) zum Freund oder Feind wird, stehe in letzterem Szenario bei 50:50. "Das ist interessant, weil man sich eher denkt, man ist dem Feind meines Feindes eher wohlgesinnt, weil man ein gemeinsames Ziel hat, nämlich den gemeinsamen Feind."
Um zu diesem Schluss zu kommen, werteten Szell und seine Kollegen die Beziehungen im Spiel über einen längeren Zeitraum aus. "Also am Tag T habe ich etwa 20.000-mal eine Bewertung nach dem Muster: A und B sind Feinde, B und C sind Feinde. Am nächsten Tag sehe ich mir die Tabelle wieder an und kann eventuell Veränderungen feststellen." Die Datenmenge sei groß genug, um statistisch signifikante Aussagen treffen zu können, meint Szell.
Probleme der Soziologie
Ein großes Problem der Soziologie bestehe darin, dass die Befragung von 300.000 Personen zu kostenaufwendig sei. Zudem gebe es den Interviewer-Effekt: "Ich werde nicht preisgeben, wen ich in der Firma nicht mag, auch wenn der Interviewer mir versichert, dass ich komplett anonym bleibe." Die Spieler von Pardus seien sich nicht ständig bewusst, dass die Bewegungen in einer Studie ausgewertet werden. Das sei bei den anfallenden Daten der Vorteil.
Eine weitere grundlegende Erkenntnis aus den Daten von sechs Netzwerkbeziehungsformen (Freundschaft, Kommunikation, Handel sowie Feindschaft, Angriff und das Aussetzen von Kopfgeld) ergab: "Wenn ich jemanden als Freund markiere, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass mich der auch als Freund markiert". Der Schluss: Freundschaften sind in einem höheren Maß gegenseitig als Feindschaften. "Wir sehen das bei allen positiven Beziehungen, bei negativen Beziehungen ist die Reziprozität viel niedriger", so Szell.
Rückschlüsse für unbekannte Netzwerke
Das könne etwa bedeuten: Wenn ich ein starker Spieler bin und jemanden attackiere, dann wird der Gegner davor Angst haben, mich anzugreifen. "Das sind zwar alles sehr offensichtliche Dinge, aber man muss die auch einmal vermessen", sagt Szell. So wäre damit etwa auch die Analyse eines fremden Netzwerks möglich und "man kann allein aus dieser Eigenschaft vielleicht Rückschlüsse daraus ziehen, ob es in dem Netzwerk um positive oder negative Beziehungen geht".
Neu daran sei, dass es somit eine Methodik gebe, mit der Netzwerke miteinander verglichen werden könnten, auf einer Basis von riesigen Datenmengen. Für Szell ist vorstellbar, dass sich daraus künftig etwa auch Rückschlüsse auf die Verbreitung von Seuchen ziehen ließen: "Wir wissen etwa, wie sich die sozialen Netzwerke aufbauen und wie sich die Kontakte von Leuten in einem bestimmten Zeitraum entwickeln."
Migrationsströme und Wählerdynamiken
Theoretisch könne man in einer Simulation einen Menschen erkranken lassen und anschließend nachvollziehen, wie sich die Krankheit weiterverbreitet. "Das heißt, wenn A eine Verbindung zu B hat, dann wird der mit irgendeiner Wahrscheinlichkeit infiziert. Unter Berücksichtigung von Parametern wie Inkubationszeiten kann man messen, wie schnell sich die Seuche verbreitet und wie große Teile der Gesellschaft es trifft", so der Mathematiker.
Von großem Interesse für die Wissenschaftler sind auch die Bewegungen der User im Universum. Geplant sei, Gruppenbildungen im Spiel herauszufinden, um Fragen zu beantworten wie: Wie bilden sich Gruppen und wie lösen sie sich auf? Warum lösen sie sich auf und gibt es eine kritische Größe, für die Spaltung einer Gruppe? Die Möglichkeit, Allianzen zu bilden, gebe es bereits im Spiel. Szell: "Wir haben uns das noch nicht angesehen, aber möglich wäre, damit etwa Migrationsströmungen oder Wählerdynamiken nachzuvollziehen."
Homo oeconomicus
Auch die Ökonomie hat ihren Platz im Spiel. Zwar ließen sich jetzt noch keine Wirtschaftskrisen feststellen, aber "wir können die Bildung von Preisen genau untersuchen, und wie Menschen miteinander handeln". Interessant sei vor allem auch, zu welchen Preisen gehandelt werde, denn schon lange sei bekannt, dass die Theorie vom Homo oeconomicus, die Annahme also, dass der Mensch perfekt rational sei und nur zu seinem Vorteil handle, nicht stimmt.
Bereits beobachtet habe das Team eine Tendenz zu Kartellbildungen im Spiel. "Das heißt, Leute oder Gruppen von Usern sprechen sich ab, welche Preise sie für die Waren verlangen", so Szell. "Wir haben auch gesehen, dass manche Spieler bereits versucht haben, Banken zu bilden, indem sie Gebäude, die normalerweise etwas produzieren, verwenden und als Bank deklarieren, wo Geld eingelegt und ausgeborgt werden kann."
Derzeit legt die Gruppe den Fokus ihrer Untersuchungen auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Geschlechtern. Bei der Registrierung müssen sich die User für einen männlichen oder weiblichen Charakter entscheiden. Dass er sich hier nicht unbedingt auf die Richtigkeit der Angaben verlassen kann, ist Szell klar: "Wir müssen damit leben, was wir haben."
Spiel und Beobachtung
Am Spiel selbst will Szell nichts verändern. So sei etwa nicht geplant, in das Spiel aktiv einzugreifen, um kurzfristige Reaktionen auf neue Ereignisse untersuchen zu können. "Zum einen hätte das wirklich viel mehr den Charakter eines Experiments, zum anderen würden wir damit auch die Spieler abschrecken und diese würden in Scharen austreten", so Szell.
Reges Interesse findet der wissenschaftliche Beitrag hingegen auch in der Pardus-Community selbst. "Am Tag nach der Veröffentlichung begannen die Spieler bereits darüber zu diskutieren", so Szell. Haben die Nutzer ihr Verhalten nun geändert, weil sie sich von den Wissenschaftlern beobachtet fühlen? "Das ist leider eine Möglichkeit, aber ich hoffe, dass das nicht passiert", so Szell.
(futurezone/Claudia Glechner)