INDECT: Die verschwundenen Papiere
Das von der EU-Kommission mit rund elf Millionen Euro geförderte Überwachungsprojekt INDECT ist dabei, auf Befehl seines polizeilich dominierten "Ethikrats" auf Tauchstation zu gehen. Zwei vordem als "öffentlich" deklarierte INDECT-Dokumente sind bereits von der Website verschwunden. Anderswo sind sie wieder aufgetaucht.
"Dieses Dokument wurde von den Mitgliedern des Ethikrats mit einem starken Fokus auf ethische Aspekte und die Menschenrechte evaluiert und angenommen", so heißt es einleitend zum "Report über die Sammlung und Analyse der Benutzeranforderungen" (Deliverable 1.1.).
Die Richtigkeit dieser Angaben lässt sich freilich nur noch schwer überprüfen, denn das als "öffentlich" deklarierte Dokument aus dem mit EU-Geldern geförderten Überwachungsprojekt INDECT ist nicht mehr verfügbar.
Beinahe gleichzeitig mit der Ankündigung des INDECT-Ethikrats, "Themen, die sich negativ auf die Polizeiarbeit, die nationale und öffentliche Sicherheit oder das Ansehen der Beteiligten auswirken könnten", nicht mehr der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen zu wollen, sind die ersten Dokumente bereits von der Website verschwunden.
Das Pflichtenheft
Der besagte Bericht ist eine Art Pflichtenheft, auf dessen Basis dann technische "Lösungen" erarbeitet werden, mit "Benutzern" sind Polizeibeamte gemeint. Es ist im Wesentlichen dieselbe Vorgangsweise, wie sie in den Überwachungsarbeitsgruppen des European Telecom Standards Institute (ETSI) seit mehr als einem Jahrzehnt üblich ist. Polizei und - besonders im Fall Großbritannien - Nachrichtendienste geben vor, Techniker setzen um.
Das gesamte Dokument 1.1 dreht sich ausschließlich um das automatische Erkennen, Aufzeichnen, Analysieren und Speichern von Video- und Audiostreams, denn das "rasant wachsende Aufkommen der Feeds wird eine effektive Analyse in Bälde konterkarieren", heißt es zur Begründung im INDECT-Dokument 5.1, das zu Redaktionschluss dieses Artikels auf der Website noch vorhanden war.
Was "Deliverable 1.1" enthält
Das seitens der britischen Polizei in den Bericht eingeflossene Zahlenmaterial macht verständlich, warum die Behörden auf eine Automatisierung der Videoüberwachung drängen. Pro Monat und Kamera fallen in England 500 GB Speicherbedarf bei mittlerer Qualität an. Mit einer besseren Rate von 15 Frames pro Sekunde aufgenommene Videos machen das Terabyte in 23,6 Tagen voll.
Evaluation der Komponenten
Verschwunden ist hingegen Dokument 9.4, das die Komponenten des Gesamtsystems evaluiert. Die vernetzten Videoüberwachungssysteme sollen zusätzlich Videostreams von Polizeidrohnen verarbeiten können und mit Gesichtserkennungssystemen aufgerüstet werden, dazu kommen Daten aus dem Internet, die eine eigens für die Bedürfnisse der Polizei entwickelte INDECT-Suchmaschine liefern soll.
Oberstes Ziel ist die höchstmögliche Automatisierung der gesamten Abläufe, da die unzähligen, etwa in London installierten vernetzten Kameras einen stetig steigenden Personalaufwand seitens der Polizei verursachen.
Deliverable 9.4 gibt einen Überblick über das tatsächliche Ausmaß dieses von der EU-Kommission mit 10,9 Millionen Euro geförderten Projekts, wobei die Übersichtlichkeit des Dokuments getrost als Grund seines Verschwindens angenommen werden darf.
Urbane Gefechtsfeldzentrale
Der Gesamtverbund aus Backbone, Funkkommunikationsknoten, vernetzten statischen oder mobilen Sensoren und Kameras, GSM/GPS-Trackern, unbemannten Flugkörpern sowie Servern, Datenbanken und Client-Workstations unterscheidet sich praktisch nicht von militärischen Gefechtsfeldzentralen. Bei INDECT handelt es sich demnach schlicht um eine verkleinerte Ausgabe der in der vernetzten Kriegsführung seit mehr als einem Jahrzehnt eingesetzten und ständig weiterentwickelten militärischen Kommando- und Kontrollsysteme (C4).
Die Betreiber von INDECT, allen voran die "Polnische Plattform für Heimatschutz", betonen stereotyp, INDECT sei ein wissenschaftliches Projekt. Auf der Website heißt es denn auch "INDECT ist ein Forschungsprojekt. Die Liste der Projektziele enthält definitiv KEINE Form der globalen Überwachung IRGENDEINER Gesellschaft"
Direkt darunter sind die eigentlichen Ziele aufgezählt: "Eine Versuchsinstallation des Kontroll- und Überwachungssystems im urbanen Raum" ist ebenso dabei wie ein System zur mobilen Objektverfolgung" oder "kontinuierliches und automat?sches Monitoring öffentlicher Ressourcen wie Websites, Diskussionsgruppen, Usenet-Gruppen, Fileservern, P2P-Netzwerken wie auch privaten Computersystemen."
Über die Wissenschaftlichkeit
Was die Wissenschaftlichkeit des Projekts angeht, so bringt schon eine oberflächliche Suche nach Belegen für manche im Text aufgestellte Behauptungen zum Beispiel derlei zu Tage:
Die verschwundenen Dokumente sind mittlerweile auf einem Server der deutschen Piratenpartei wieder aufgetaucht.
Das rasante Anwachsen des Aufkommens an Videodaten "zeigt sich deutlich im Vereinigten Königreich, London wird als die Stadt mit der höchsten Dichte an Überwachungskameras weltweit angesehen. Zugleich ist die öffentliche Akzeptanz hoch, da die Einwohner darüber informiert sind und die erhöhte Sicherheit in den überwachten Gebieten schätzen." (Deliverable 5.1, S. 45)
Die Quelle für diese Behauptung ist ein technischer Bericht aus dem Police Department des britischen Innenministeriums aus dem Jahr 1992 (sic!). Die zugehörige Fußnote "[48]" befindet sich im Anhang des Dokuments.
Eine Anfrage von ORF.at bei der für die INDECT-Förderung zuständigen Instanz FP-7 der EU-Kommission läuft.
(futurezone \ Erich Moechel)