Die spielbare Stadt
Die Zürcher Gruppe And-OR entwickelt Game-Hacks für die tragbare Konsole Nintendo DS, mit denen die Großstadt zum Spielfeld wird. Zeitgenossen, die sich schon immer von WLAN-Strahlungen verfolgt fühlten, können mit dem Spiel "Wardive" endlich Hotspots bekämpfen gehen.
Eine Zeit, in der Paranoia erste Bürgerpflicht ist, braucht neue Formen des Spiels. Die Zürcher Künstlergruppe And-OR hat sich dieser Aufgabe angenommen, indem sie Games für die mobile Spielekonsole Nintendo DS programmiert, die Bezug auf die unsichtbaren Zeichen nehmen, mit denen uns die vernetzte Informationsgesellschaft bei jedem Gang durch die Stadt umgibt.
Diese Spiele verarbeiten die von WLAN-Hotspots empfangenen Signale entweder zu Musik oder verwandeln sie zu Agenten in einem digitalen Kleinkrieg.
Kampfmaschine aus der Westentasche
Das Spiel "Wardive" liest über die WLAN-Funktion der DS die Namen der Hotspots in der Umgebung ein und verwandelt diese Access-Points sofort in Feinde, die dem Spieler auf den Pelz rücken wollen. Während der Spieler durch die Stadt geht, verändert sich das Game.
Die zivile Umsetzung dieser Idee hört auf den Namen "Sniff_JazzBox". Sie sucht sich aus den Kennungen der Hotspots einfach jene Buchstaben heraus, die mit Notenwerten korrespondieren, und arrangiert diesen lautlosen Gesang der Stadt zu aleatorischen Musikstücken.
Zum Download
"Sniff_JazzBox" wurde von Rene Bauer zusammen mit Beat Suter und Johannes Auer geschaffen.
"Wardive" ==Wider die Herrschaft des Flow==
"Ein Game-Designer möchte mit seinem Computerspiel den Flow und die Umgebung total beherrschen", sagt der Zürcher Spielegestalter Rene Bauer, der "Wardive" und "Sniff_JazzBox" mit entwickelt hat. "Der Spieler soll 'drin' bleiben im Game, im Sound, in der Grafik. Dieser magische Kreis der Spiele ist bei 'Wardive' aufgehoben, damit man durch die Gegend geht und dabei die Umgebung des Spiels beeinflusst. Letztlich generiert der Spieler mit der Welt den Level."
Rene Bauer steht mit seinen Spielen, die ihre Benutzer zum Wandern auffordern, in der Tradition avantgardistischer Künstlergruppen der klassischen Moderne. Schon die Pariser Dadaisten benutzten den Spaziergang als kreative Strategie, Walter Benjamin suchte die Essenz der modernen Metropole in ihren Passagen, und für die Situationisten war das ziellose Driften durch die Stadt eine ihrer zentralen künstlerischen Techniken.
Original Wiener Schmerz
"Nun lässt man sich durch das digitale 'Hier und Jetzt' treiben", sagt Bauer und weist auf das "Pain"-Projekt des Wiener Künstlers Gordan Savicic hin. Vom Treibenlassen bis zum Getriebensein ist es bekanntlich niemals weit. Bei "Pain" trägt der Spieler ein Korsett, das von Servos immer enger geschnürt wird, je mehr durch Verschlüsselung verrammelte Hotspots sich in der durchquerten Gegend befinden.
Auch bei Savicics Projekt dient eine DS dazu, die Signale von WLAN-Hotspots aufzufangen. Verhinderung von Kommunikation erzeugt körperlichen Schmerz. Masochisten haben's verdammt gut im 21. Jahrhundert.
Autodestruktion im WehLAN
Nintendo DS plus drehfreudige Elektromotoren = leidvolle Erfahrung
Billigelektronik und Freeware
Die Spiele von Rene Bauer geben den Gamern die Stadt zurück, indem sie die Vorgabe knacken, dass Spiele immer unabhängig von Zeit, Raum und Kultur sein müssen, um erfolgreich zu sein.
Gerade durch die Abstraktion der unsichtbaren Umgebung lassen die lokativen Spiele den urbanen Raum neu erleben. "Das Spiel legt einen neuen spielbaren Informationslayer über die Welt", sagt Bauer. "Eine Welt kann entdeckt werden, die man eigentlich schon hundertmal gesehen hat, in der man aber auf einmal gegen symbolische Orte spielt, die 'Sigmund Freud', 'Pirates', 'Petra' oder 'WireLAN' heißen."
Die Spiele können kostenlos von der Website der Gruppe And-OR heruntergeladen werden. Um sie verwenden zu können, braucht der Interessent eine Konsole vom Typ Nintendo DS oder DS Lite sowie eine Zusatzhardware wie die Supercard oder R4, die der DS den Zugriff auf SD-Speicherkarten erlaubt.
"Als Entwicklungsoberfläche dient devKitPro", sagt Bauer, "mit PALib, einer Library zum einfachen Umgang mit Grafik und Sounds. Beide Tools sind frei verfügbar. Das Ganze wird in C++ entwickelt, im Emulator iDEAS getestet und danach mittels einer Speicherkarte auf eine spezielle Cartridge fürs DS gespielt."
Kurze Entwicklungszeit
Für die Entwicklung von "Wardive" hat Bauer drei bis vier Wochen gebraucht. "Das Spezielle an 'Wardive' ist, dass man ja nicht genau weiß, wo und wie die Leute es spielen." Ein Problem, das Gestalter herkömmlicher Computerspiele nicht haben.
"Deswegen wurde ein Großteil der Entwicklungsarbeit darauf verwendet, auszubalancieren, wie das Spiel reagieren soll, wenn der Spieler herumläuft, die Straßenbahn oder den Zug verwendet", sagt der Entwickler, der an der Zürcher Hochschule der Künste Game-Design lehrt.
"Zusätzlich haben wir die Möglichkeit geschaffen, dass Personen ihre Levels selbst aufs Netz stellen und andere ihre Highscores schlagen können." Für "Jazz_SniffBox" griff Bauer auf die Idee des älteren And-OR-Projekts Searchsongs zurück.
"Sniff_JazzBox"
Die Welt als Rollenspiel
Bleibt die Frage, warum Bauer und sein Team sich ausgerechnet die DS als Hardware-Plattform ausgesucht haben, nicht etwa Sonys PSP oder Mobiltelefone. "Die DS ist eine reine Spielekonsole", sagt Bauer. "Wenige Steuerelemente und keine verwirrende Knopf-Orgie wie bei Handys. Viele Leute besitzen diese Hardware, der Anschaffungspreis ist gering. Die zwei Bildschirme des Geräts ermöglichen es auch, oben Zusatzinfos darzustellen und unten auf dem berührungssensitiven Schirm zu spielen."
Nach dem vielversprechenden Start mit "Wardive" und "Jazz_SniffBox" will Rene Bauer weitere umgebungssensitive Spiele gestalten: "Im Moment denken wir auch an ein Konzept, in dem die Stadt den Hintergrund zu einem Rollenspiel abgibt."
Neo-Warchalking-Spaß
Auch die Künstlergruppe Ludic Society hat mit "Nordlicht Blitz Play" ein lokatives WLAN-Game im Programm, das sich auf die Tradition des Warchalking bezieht und dessen Software-Komponente auch auf dem DS läuft.
(futurezone | Günter Hack)