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Konstruktivismus und Kreativität

20.04.2008

Ernst von Glasersfeld ist Mitbegründer der Denkrichtung des Radikalen Konstruktivismus, die untersucht, wie wir uns unsere Vorstellung von der Welt bilden. ORF.at sprach mit ihm darüber, wie Ideen entstehen und wie frei diese sein können.

Ernst von Glasersfeld ist einer der Begründer der Denkrichtung des Radikalen Konstruktivismus. Vertreter des Radikalen Konstruktivismus nehmen an, dass alles Wissen nur in den Köpfen der Menschen [und anderer Lebewesen] existiert. Sie geht daher von den Erfahrungen der Individuen aus, die wiederum Grundlage dafür sind, wie Menschen ihre Begriffe und Erlebniswelten mental herstellen, stabilisieren und weiterentwickeln.

Als von Glasersfeld im April Wien besuchte und sich die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem 91-jährigen Wissenschaftler ergab, lag es nahe, ihn zu fragen, wie sich Kreativität aus Sicht des Radikalen Konstruktivismus darstellt. Schließlich hat Ernst von Glasersfeld als exzellenter Selbstbeobachter in seinen Publikationen oft sehr anschaulich geschildert, unter welchen Umständen er bestimmte Ideen entwickelt hat.

Zur Person:

Von Glasersfeld wurde 1917 in München geboren. Sein Vater war österreichisch-ungarischer Diplomat aus Prag. Nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs wuchs Von Glasersfeld in Südtirol und in der Schweiz auf, studierte Mathematik in Zürich und Wien, um dann 1938 angesichts der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nach Australien zu gehen, wo dem erstklassigen Skirennläufer eine Stelle als Skilehrer angeboten worden war.

Den Zweiten Weltkrieg überlebte von Glasersfeld in Irland, wo er gemeinsam mit seiner ersten Frau Isabel eine Farm im County Wicklow südlich von Dublin betrieb. Nach dem Krieg kehrte er mit seiner Frau zurück nach Italien, wo er zunächst als Journalist arbeitete, sich dann aber einer Gruppe italienischer Kybernetiker um den Philosophen und Musiker Silvio Ceccato anschloss.

In den 1950er und 1960er Jahren arbeitete Von Glasersfeld in Projekten der US-Armee zur maschinellen Übersetzung von Texten mit. 1969 wurden diese Projekte, bei denen es sich um Grundlagenforschung handelte, von der Regierung Richard Nixons beendet. Von Glasersfeld übertrug in den 1970er Jahren seine Erkenntnisse auf die Forschung mit Primaten. So entwarf er am Yerkes Center in Atlanta die Symbolsprache "Yerkish", mit deren Hilfe sich die Schimpansin Lana schnell mit den Wissenschaftlern verständigen konnte.

Angestoßen von den Schriften des Genfer Psychologen Jean Piaget zur Entwicklung der Realitätsauffassung bei Kindern entwickelte Von Glasersfeld in den 1970er Jahren den Radikalen Konstruktivismus weiter. Seine erste formale akademische Stellung bezog er 1970 als Professor für kognitive Psychologie an der University of Georgia in Atlanta. Im österreichischen Physiker Heinz von Foerster, den chilenischen Biologen Francisco Varela und Humberto Maturana sowie dem österreichischen Kommunikationsforscher Paul Watzlawick und vielen anderen fand er wichtige Mitdenker.

Von Glasersfeld erwarb 1974 die Staatsbürgerschaft der USA und lebt in Amherst im US-Bundesstaat Massachusetts.

ORF.at: Herr von Glasersfeld, wie sehen Sie den kreativen Prozess? Sie haben in Ihren Büchern des öfteren die Umstände beschrieben, unter denen Sie auf Ideen kommen, beispielsweise beim Lesen von James Joyce oder Jean Piaget.

EvG: Das ist sehr schwer zu beantworten, wenn Sie mir nicht eine spezifische Idee nennen. Piaget hat ja sehr viel in dieser Richtung gemacht, aber dabei untersuchte er immer ganz bestimmte Ideen, wie etwa jene der Objektpermanenz und der Kausalität. Da hat er versucht nachzufühlen, wie ein Kind diese Begriffe aufbaut.

Aber wenn Sie fragen, wie man überhaupt Ideen aufbaut, dann ist die einzige Antwort darauf - meiner Ansicht nach – dass man gewisse Stücke der Erfahrung aus unterschiedlichen Gelegenheiten verbinden möchte, weil man etwas damit tun will. Und mit diesen Verbindungen stellt man Versuche an. Die eine Verbindung funktioniert und die andere funktioniert nicht. Und so baut man sich Begriffsgerüste auf. Das wichtigste dabei sind wahrscheinlich die Beziehungen.

Und es ist sehr schwer, zu sagen, wie man die herstellt; denn die Beziehungen haben kaum mit dem Sensomotorischen zu tun. Die Beziehungen sind rein abstrakte Konstrukte, die meiner Ansicht nach – aber das ist nur eine Ansicht, ich kann das nicht beweisen – dadurch entstehen, dass die Aufmerksamkeit sich von einem Begriff zum anderen bewegt und diese Bewegung auf eine bestimmte Art und Weise macht.

Es gibt Momente der Erkenntnis. Beispielsweise, wenn man es schafft, eine komplizierte Gleichung zu lösen...

[Sehr amüsiert] Haha!

...Wenn man es schafft, zwei Enden von etwas zusammenzubringen. Dabei entsteht eine bestimmte Befriedigung, die Sie als Wissenschaftler sicher kennen.

Das stimmt genau. Die Mathematiker haben diese momentanen Erleuchtungen. Ich würde sagen, diese Erleuchtungen kommen dadurch zustande, dass Mathematiker in erster Linie alles bildlich sehen. Sie haben bildliche Vorstellungen von mathematischen Größen und haben auch Vorstellungen von mathematischen Operationen.

Zu den Erleuchtungen kommt es, wenn sie plötzlich eine Möglichkeit sehen, zwei von diesen Operationen zu verbinden, sodass etwas Neues herauskommt. Viele Innovationen in der Mathematik sind ja zustande gekommen, ohne dass es zunächst eine Möglichkeit zu geben schien, sie praktisch zu verwenden. Die haben den Mathematiker nur dadurch überzeugt, dass sie ein schönes Muster ergeben. Das hat ihn befriedigt.

Die Katastrophentheorie des französischen Mathematikers René Thom ist wie in einem Spiel entstanden. Viele Jahre später ist man darauf gekommen, dass sie sehr brauchbar ist. Man kann sie in der Ökonomie anwenden und in der Psychologie.

Die Idee der Aufmerksamkeitsbewegungen habe ich fast direkt von meinem Freund, dem italienischen Linguisten und Philosophen Silvio Ceccato übernommen. Ceccato war der erste, der sich gefragt hat, wie die Aufmerksamkeit tatsächlich funktioniert. Vorher hat man sich die Aufmerksamkeit vorgestellt wie einen Scheinwerfer, der die Landschaft beleuchtet. Nun ist es aber ganz klar, dass es im Gehirn keine Landschaft gibt. Es gibt dort nichts, was man auf diese Weise beobachten könnte. So ist er auf die Idee gekommen, unabhängig von den neurophysiologischen Experimenten, die damals gemacht wurden, dass die Aufmerksamkeit nicht ein Scheinwerfer ist, sondern ein Puls, eine pulsierende Angelegenheit.

Er hat noch nichts vom Alpharhythmus gewusst, er hat das als Idee aber brauchbar gefunden und sich dann jahrelang damit beschäftigt, herauszufinden, wie aus Aufmerksamkeitspulsen Begriffe zusammengestellt werden können. Er hat da eine sehr hübsche binarische Theorie aufgestellt. Wenn man ihn gut gekannt und mit ihm gearbeitet hat, dann hat man die Bewegungen in seiner Aufmerksamkeit selber fühlen können.

Aber wenn man das nur liest, dann ist es unmöglich für jemanden, das gleich zu verstehen. Man muss sich lange Zeit damit befassen und auch dann weiß man nicht, ob das der Fall ist, ob man das wirklich vertreten kann. Ich weiß das heute noch nicht. Aber die Bewegung der Aufmerksamkeit von einem Begriff zum anderen, die scheint mir viel konkreter zu sein.

Wie würden Sie selbst den Vorgang beschreiben, in dem Sie sich an ein Thema heranbewegen? Wenn man ihre Bücher liest, sind Ihre Ideen immer sehr eng mit den Lebenssituationen verbunden, in denen sie entstanden sind. So sind Sie bei der Lektüre von Joyces Buch "Finnegans Wake" durch einen versteckten Hinweis auf das Werk des italienischen Philosophen Giambattista Vico gekommen, dessen Ideen sie dann stark beeinflusst haben.

Das ist auf meine Erziehung zurückzuführen. Die war völlig zufällig, da war kein Plan dahinter. Zu Joyce habe ich ein enges Verhältnis bekommen. Die Familie meiner ersten Frau hat lange in Paris gelebt und ihre Mutter war mit Sylvia Beach bekannt, die "Ulysses" herausgegeben hat. Ich hatte den "Ulysses" gerade gelesen, als ich meine Frau traf. Das wurde eine Basis unseres Zusammenseins.

Als "Finnegans Wake" 1939 erschienen ist, da haben wir uns in Irland zusammengesetzt, wir waren so fünfzehn oder sechzehn Leute, die mehrere Sprachen beherrschten – zusammen konnten wir 25 verschiedene Sprachen – um "Finnegans Wake" zu lesen. In dem Buch sollen ja hundert verschiedene Sprachen verwendet worden sein. Wir haben das nicht lange gemacht, weil das Austüfteln von Wortspielen schnell langweilig wird, aber schon am ersten Abend in der ersten Zeile von "Finnegans Wake" kommt das Wort "vicus" vor. [Zitiert aus dem Gedächnis] Riverrun past past Eve and Adam's, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to... nevermind... [lacht]

Ich hatte etwas Latein gelernt und sagte: "Vicus, das heißt doch 'Dorf'. Wie kommt das da hinein?" Und da hat jemand gesagt: "Ja, das muss eine Anspielung sein auf einen italienischen Philosophen namens Vico." Ich habe dann in "Finnegans Wake" weiter gelesen. Vico kommt dort immer wieder vor, in verschiedenen Versionen. Da habe ich mir gedacht, wenn der für Joyce wichtig war, dann muss da was dahinter sein. Und da gab es wieder einen Glücksfall. In der städtischen Bibliothek in Dublin gab es eine alte italienische Ausgabe von Vicos "Scienza nouva".

Wenn es auf der Farm, auf der ich arbeitete, zu stark geregnet hat, konnte ich nichts machen. Ich war ja nur für die Feldarbeit verantwortlich. Dann bin ich mit dem Pferdewagen nach Dublin gefahren und bin in die Bibliothek gegangen und habe Vico gelesen. Schön! In Irland habe ich außerdem zwei Leute kennen gelernt, die mir den Philosophen George Berkeley erklärt haben, auf eine Weise, wie er in keinem Buch interpretiert worden ist. Sie konnte ich Verbindungen zwischen den Werken von Vico und Berkeley herstellen. Das sind meine philosophischen Anfänge.

Sie haben eindrücklich beschrieben, wie Sie auf der Farm beim Arbeiten gedacht haben.

Wir hatten keine Elektrizität und Benzin war knapp, also haben wir mit Pferden gearbeitet. Ich war vorher nie Bauer gewesen, aber mein Freund, der mich auf die Farm gelockt hatte, meinte, ich sei körperlich ziemlich fit und daher in der Lage, die Arbeit schnell zu lernen.

Wenn man Ski gefahren ist, dann ist das Pflügen mit Pferden nicht schwer zu lernen. Es ist körperlich anstrengend, aber es verlangt fast keine Aufmerksamkeit, denn die Pferde wissen ohnedies, wohin sie gehen müssen und so ist das Bewusstsein den ganzen Tag frei und man kann nachdenken. Wenn man dann auch noch ab und zu in die Bibliothek gehen kann, dann kann man viel nachdenken.

Das heißt, man braucht auch Leerlaufphasen, um kreativ sein zu können.

Wenn Sie mit dem Auto eine lange Strecke fahren, dann kommen Sie auch in eine Art Trance. Wenn Sie dann jemand fragt, was Sie in der letzten halben Stunde gemacht haben, dann werden Sie keine Ahnung haben. Aber das Autofahren verlangt viel mehr Aufmerksamkeit als das Pflügen. Beim Autofahren sind Sie nie ganz so frei zu denken.

Kommen die Ideen dann, wenn man eigentlich nicht denkt?

Das kommt vor. Aber nicht immer. Manchmal lesen Sie einen Satz in einem Buch, der Ihnen plötzlich eine Tür aufmacht, die der Schriftsteller selbst gar nicht gesehen haben muss.

Sie haben im Vorwort zu der Taschenbuchausgabe Ihres Buchs "Radikaler Konstruktivismus" geschrieben: "Ideen sollten niemals Privatbesitz sein."

Ja. Man darf eine Idee nicht behandeln wie ein Grundstück. Wenn man sie veröffentlicht hat, ist sie frei benutzbar für jeden. Der französische Dichter Paul Valéry, meiner Ansicht nach einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts, hat einmal sehr schön gesagt: Wenn man etwas veröffentlicht hat, dann ist es wie ein Gebrauchsgegenstand, den jeder benützen kann, wie er will, und das ist sehr schön.

Denn oft führen einen die Ideen von anderen Leuten auf ganz andere Wege, die diese Leute selbst nie gegangen sind. Ich habe auch von Philosophen Sätze benutzt, die diese selbst sicher anders interpretiert haben.

Wir diskutieren ja heute viel über "geistiges Eigentum".

Weil die Leute Geld damit verdienen wollen. Vor zweihundert Jahren hat wohl kaum ein Philosoph daran gedacht, mit dem, was er schreibt, Geld verdienen zu können. Aber heute, sobald Sie ein Buch schreiben, müssen Sie ja Geld verdienen.

Sie haben in Italien schon recht früh mit Computern gearbeitet. Wie denken Sie über die Konstruktion von Wirklichkeiten im Computer?

Die Frage ist: Für wen ist das eine Wirklichkeit? Das ist ja der Haken an der Künstlichen Intelligenz. Die KI-Experten schreiben ja immer recht hochtrabende Sachen, aber der Computer ist noch nicht imstande, eine eigene Wirklichkeit zu schaffen.

Der Computer kann nur dann eine Wirklichkeit generieren, wenn der Programmierer sie hineinlegt und der Benutzer sie herausliest. Der Computer selbst hat nicht die Möglichkeit, über das, was er macht, zu reflektieren.

Solange das nicht modelliert werden kann, ist von Künstlicher Intelligenz eigentlich nicht viel zu erwarten. Sie können wohl Programme schreiben für technische Probleme, die formal zu lösen sind. Aber mit dem eigentlichen Leben hat das sehr wenig zu tun.

Wie stehen Sie zu Computern?

Ich bin nie ein Programmierer gewesen. Ich hatte einen lieben Freund, Piero Pisani, der war ein Zauberer mit Computern, der hat die Programme geschrieben. Ich habe nur das geschrieben, was man auf Englisch Procedure nennt, also das logische Programm entwickelt.

Er hat das dann in den Computer programmiert. Das wird heute niemand glauben. Er hat das direkt Bit für Bit in den Rechner geschrieben. Eine Riesenarbeit. Dadurch war es möglich, die Programme mit Reißnägel auf Pinwänden mit Millimeterpapier darzustellen. Der Speicher war in Spalten und Kolonnen dargestellt. Jedes Teilstück war ein Bit im Computer. Die Computer hatten so wenig Speicher, dass man diesen auf fünf Sperrholzplatten darstellen konnte.

Verwenden Sie selbst Computer?

Ich habe einen Laptop von Apple und noch einen anderen Computer. Aber ich bin kein Hacker. Ich verwende sie hauptsächlich zum Schreiben.

Computer können nicht reflektieren. Welche Vorstellung haben Sie vom menschlichen Bewusstsein?

Das ist für mich ein komplettes Mysterium. Ich glaube auch nicht, dass es rational modellierbar ist. Die ganzen Bücher über Bewusstsein – und ich habe einige gelesen – haben ein Problem.

Die Autoren schreiben um das Problem herum, aber keiner hat eine Idee, wie das funktionieren könnte, dass eine Schicht des Bewusstseins auf die andere herunterschaut.

Den Philosophen ist diese Vorstellung unangenehm, denn es klingt stark nach einem Homunculus, der da in uns sitzt und uns beobachtet. Es ist sicher kein Homunculus, sondern ein Vorgang, dessen Ergebnisse so sind, als beobachte ein Organ das andere.

Sie glauben nicht, dass wir das Bewusstsein erklären können.

Ich glaube nicht, dass es rational erfassbar ist. Intuitiv sicher. Ich habe ja die größte Verehrung für die Mystiker. Aber sobald die versuchen, mir ihre Ideen rational zu erklären, reden sie Unsinn.

Weiterführende Literatur

Als Einführung in das Denken Ernst von Glasersfelds empfiehlt sich das von ihm verfasste Buch "Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme" [Suhrkamp, 1997, 375 Seiten].

Sehr viel persönlicher gehalten, aber nicht weniger interessant ist von Glasersfelds im Februar 2008 erschienene Autobiographie "Unverbindliche Erinnerungen" [Folio, 2008, 208 Seiten].

(futurezone | Günter Hack)