Überwachung im Kopf
Der Kulturwissenschaftler Dietmar Kammerer untersucht in seinem Buch "Bilder der Überwachung" die kulturellen Vorstellungen von Videoüberwachung. ORF.at hat mit ihm über die "Mythen der Videoüberwachung" und die Faszination der Überwachungsbilder gesprochen.
ORF.at: In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass Videoüberwachung mehr ist als ihre technischen Bestandteile. Auch die Vorstellungen der Überwachungsapparate, die in unseren Köpfen entstehen, tragen nicht unwesentlich zur Wirkung der Videoüberwachung bei. Welche Rolle schreiben Sie diesen kulturellen Vorstellungen von Videoüberwachung zu?
Kammerer: Ich wollte Videoüberwachung nicht auf Videokameras reduzieren und ausschließlich als Technik ansehen. Ich bin von der simplen Idee ausgegangen, dass eine Videokamera, die an der Wand hängt, im technischen Sinn nicht funktionieren muss, um zu "funktionieren". Sie kann kaputt oder eine Attrappe sein, wir nehmen dennoch an, dass wir überwacht werden. Videoüberwachung ist im Gegensatz zum Lauschangriff oder zur Überwachung von Datenströmen im Internet etwas, das von der Idee her auch im Kopf abläuft. Es gibt die Überwachungsbilder, die tatsächlich in den Videokameras generiert werden. Sie sind mit bestimmten Verfahren verbunden und unterliegen rechtlichen Normen. Und es gibt die Bilder der Überwachung, die Repräsentationen von Videüberwachung, die uns in der Werbung, im Kino und in der Popkultur begegnen. Sie beeinflussen unser Verhalten den Überwachungsapparaten gegenüber. In Anlehnung an den französischen Philosophen und Semiotiker Roland Barthes könnte man diese Bilder auch "Mythen der Videoüberwachung" nennen. Sie vermitteln uns bestimmte Vorstellungen von Videoüberwachung, die mit dem, was die Technik tatsächlich leisten kann, nichts zu tun haben.
Zur Person:
Der Kulturwissenschaftler und Journalist Dietmar Kammerer lebt in Berlin und schreibt unter anderem für die Berliner "tageszeitung" ["taz"], die österreichische Zeitung "Der Standard" und das deutsche Popkulturmagazin "Intro".
Seine Studie "Bilder der Überwachung", die sich aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive umfassend mit Videoüberwachung auseinandersetzt, ist vor kurzem in der edition suhrkamp erschienen.
ORF.at: Was wären Beispiele für diese "Mythen der Videoüberwachung"?
Kammerer: Wir nehmen zum Beispiel an, dass Überwachungskameras alles sehen können. Das ist falsch. Kameras haben tote Winkel. Es wäre aus Sicht der Überwacher aber auch gar nicht wünschenswert. Denn das eigentliche Problem, an dem die Videoüberwacher heute leiden, ist die Bilderflut. Sie haben zu viele Bilder und können damit nicht mehr umgehen. Ein weiterer Mythos ist der Zoom. Der kommt in so gut wie jedem Zeitungsartikel über Videoüberwachung vor. Reporter sehen sich Überwachungszentralen an und berichten darüber, wie ihnen von Beamten der Zoom vorgeführt wurde und wie sie aus mehreren hundert Metern Entfernung eine Zeitung lesen konnten. Wer jedoch zoomt, sieht nicht, was darum herum passiert. Es fehlt die Übersicht. Im Grunde genommen ist ein Zoom genau das, was eine Überwachungskamera nicht haben sollte. Beim Zoom gehen sehr viele Informationen verloren. Der größte Mythos ist natürlich, dass Videoüberwachung Verbrechen verhindern kann. Das wurde mehrfach empirisch widerlegt. In England, dem Land mit der höchsten Videoüberwachungsdichte, hat eine staatliche Studie ergeben, dass Kriminalität durch Videoüberwachung kaum gesenkt werden konnte. Seit 1993 wurden jedoch mehr als 800 Millionen Pfund in die Videoüberwachung investiert. Bei Gewalt gegen Personen versagt die Videoüberwachung völlig. Lediglich bei der Verhinderung von Autoeinbrüchen hat Videoüberwachung demnach geholfen. Dass Videokameras auch weiterhin im großen Stil auf der ganzen Welt aufgehängt werden, liegt eben an diesen Mythen der Videoüberwachung.
ORF.at: Umfragen zeigen, dass viele Leute Videoüberwachung befürworten.
Kammerer: Viele Zahlen, die in den Medien zitiert werden, sind viel zu hoch angesetzt und stammen häufig auch nicht aus seriösen wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Ergebnisse hängen auch von der jeweiligen Fragestellung ab. Fragt man etwa die Leute, ob sie mehr Polizisten oder mehr Videoüberwachung wollen, dann spricht sich die Mehrheit sicherlich für mehr Polizisten aus. Es gibt aber sicherlich eine allgemeine diffuse Zustimmung zur Videoüberwachung, die ist jedoch nicht so hoch, wie allgemein kolportiert wird.
ORF.at: Haben die Medien bei der Berichterstattung über Wirkungen und Gefahren der Videoüberwachung versagt?
Kammerer: Ja, die Medien haben im großen Stil versagt. Sie gehen oft unkritisch und ohne großes Vorwissen an die Thematik heran und bringen pauschale Aussagen, anstatt zu differenzieren. Es werden auch Falschinformationen verbreitet oder Aussagen unkritisch übernommen. Ich habe mir etwa die Medienberichterstattung über einen Feldversuch zur Gesichtserkennung in Mainz angesehen. Da wurde etwa ein Mitarbeiter von Bosch Security, einem Unternehmen, das konkrete finanzielle Interessen an dieser Art der Videoüberwachung hat, als unabhängiger Experte präsentiert. Das geht bei sauberem Journalismus natürlich nicht.
ORF.at: Die Überwachungsbilder selbst üben manchmal eine eigentümliche Faszination aus. Sie führen das am Beispiel von Überwachnungsaufnahmen von Lady Di und vom Attentäter Mohammed Atta aus.
Kammerer: Die meisten Überwachungsbilder sind langweilig. Aber die Bilder von Lady Di an der Drehtür des Pariser Ritz aus dem Jahr 1997 und von Mohammed Atta, wie er am 11. September 2001 die Sicherheitsschleuse des Flughafens von Portland passiert, sind Bilder, die es in den populären Diskurs geschafft haben. Sie sind zu Bildern der Überwachung geworden, weil sie repräsentativ dafür stehen, was Videoüberwachung ist. Sie haben eine Gemeinsamkeit. Man sieht Leute auf dem Weg zu ihrem Tod. Dabei übertreten sie eine räumliche Schwelle: Diana Spencer ein Drehkreuz, der Attentäter Mohammed Atta eine Sicherheitsschleuse. Sie bilden den Moment vor der Weggabelung ab. Links Leben, rechts Tod. Diese Kameras haben den Augenblick festgehalten, wo die Würfel noch nicht gefallen sind. Deshalb faszinieren sie uns so. Wir wollen in das Bild reinspringen und Atta sein Tapetenmesser wegnehmen, und wir wollen Diana zurufen: "Steig nicht in diesen Wagen!" Das ist völlig magischer Glaube. Aber wir wollen diesen irrealen Glauben, dass diese Ereignisse hätten verhindert werden können, nicht verlieren. Wenn das Leben ein Videorecorder wäre, würden wir auf Rewind und Erase drücken. Die Bilder zeigen jedoch, dass sie diese Ereignisse nicht verhindern konnten. Sie zeigen ihr eigenes Versagen. Wir lesen sie aber genau entgegengesetzt: "In diesem Augenblick hätte noch etwas getan werden können, deshalb ist es gut, Videoüberwachung zu haben."
ORF.at: In "Bilder der Überwachung" spannen Sie einen weiten Bogen in der Geschichte der Videoüberwachung, der bis zu den Straßenlaternen im Paris des 17. Jahrhunderts reicht.
Kammerer: Die Videoüberwachung hat eine Vorgeschichte. 1667 hat Ludwig XIV. in Paris begonnen, die Straßenbeleuchtung staatlich zu organisieren. Es war den Leuten klar, dass es nicht der Zweck der Straßenbeleuchtung war, die Straßen sicherer zu machen. Vielmehr sollten die chaotischen, dunklen, umtriebigen und potenziell aufrührerischen revolutionären Straßen unter die Kontrolle des Staates gebracht werden. Bei Aufständen wurden deshalb zuerst die Laternen kaputt gemacht. Die Laterne war das Symbol des Königs. Während der Revolution hat man deshalb die Repräsentanten des Staates auch an den Laternen aufgehängt. Straßenbeleuchtung und Licht in der Nacht wurden erst später, im 19. Jahrhundert, als etwas Tolles angesehen. Da wollte man dann wirklich die Nacht zum Tag machen. Ich wollte mit diesem Beispiel zeigen, dass gewisse Diskussionen, die heute geführt werden, tatsächlich schon alt sind. Es geht mir aber nicht darum, zu sagen, damals hat es angefangen. Es gibt keine lineare Entwicklung bis heute. Das wäre zu pauschalisierend und völlig unhistorisch. Jede Zeit hat ihre eigenen Bedingungen. In der Geschichte der Videoüberwachung hat es viele Brüche gegeben.
ORF:at: Überwachungskameras werden zunehmend "intelligenter". Sie sprechen und verwarnen die Überwachten und filtern verdächtige Subjekte und Bewegungsabläufe heraus. Welche Implikationen hat das?
Kammerer: Was uns unter Modernisierung verkauft wird, ist tatsächlich eine Notwendigkeit. Die Überwacher ersticken an der Flut der Bilder. Sie brauchen eine automatische Vorauswahl. Etwa wenn eine Kamera nur aufzeichnet, wenn ein Bewegungssensor eine Bewegung warhnimmt, oder die automatische Gesichtserkennung durch die Kamera, die im Übrigen unter offenen Bedingungen im Straßenraum nicht funktioniert. Im Zugangsbereich von Banken funktionieren sie hingegen sehr gut, weil es dort völlig andere Licht-, Wetter- und Bewegungsverhältnisse gibt. Die Ingenieure der Überwachung müssen sich sehr gut überlegen, wo sie diese "intelligenten" Kameras einsetzen. Kameras können beispielsweise bestimmte Handlungen identifizieren. Selbstmörder stehen etwa im U-Bahn-Bereich relativ lange nahe an den Gleisen und lassen zwei, drei Züge durchfahren, bevor sie springen. Das ist ein psychologisch ermitteltes Normalverhalten eines Selbstmörders. Kameras können das erkennen und entsprechend Alarm geben. Das kann natürlich zur Folge haben, dass wir beginnen, unser Verhalten anzupassen, weil wir nicht auffallen wollen. Wenn es etwa verdächtig ist, vor einer Bank auf und ab zu gehen, werden wir es vermutlich unterlassen. Wir versuchen, unsere Verhaltensumrisse anzupassen.
ORF.at: Die Überwachung verlagert sich zu Datenströmen und wird zunehmend unsichtbar - Stichwort Funkchips. Kann so etwas überhaupt noch repräsentiert werden?
Kammerer: Die Überwachung wird zunehmend Datenüberwachung, die viel feinkörniger in den Alltag integriert ist. Sie entzieht sich dem Sinnlichen und greift weit mehr in die Bürgerrechte ein als die Videoüberwachung. Videoüberwachung ist im Grunde genommen eine aussterbende Spezies. Das wissen auch die Polizisten und Sicherheitstechniker. Dennoch wird daran festgehalten und sogar Geld in die Videoüberwachung investiert. Das liegt an dem Glauben an die Bilder, der aufrechterhalten werden muss. Man vertraut Bildern mehr.
(futurezone/Patrick Dax)