Der Ausverkauf des Web 2.0
Die Zeit der kostspieligen Übernahmen von Start-ups ist vorbei. Stattdessen werden Web-2.0-Plattformen jetzt zum Sonderpreis verkauft - und nach Abschluss des Geschäfts umgehend stillgelegt. Auf der Strecke bleiben die Nutzer der Dienste - und ihre Daten.
Die Einkaufsliste, der wichtige Telefonanruf, die Lieblingssendung im Fernsehen: Die digitale Assistentin Sandy von Iwantsandy.com hat in den vergangenen zwölf Monaten zahllose Termine und Erinnerungen an ihre Nutzer geschickt.
Besonders beliebt unter Sandys Nutzern war die Möglichkeit, den Dienst direkt über das Microblogging-Angebot Twitter mit neuen Terminen und Notizen zu füttern. Sandy meldete sich anschließend bei ihren Nutzern regelmäßig per E-Mail, SMS oder elektronischen Kalender, um sie an die wichtigen Dinge des Lebens zu erinnern.
Sandys Nutzer müssen sich jedoch ab sofort wieder selbst an ihre Termine erinnern. Der Dienst wurde am vergangenen Freitag ersatzlos abgeschaltet.
Sandys Reste im Netz
Aufgekauft von Twitter
Grund für die Stilllegung ist die Übernahme der Sandy-Betreiberfirma Values of N durch Twitter. Values-of-N-Gründer Rael Dornfest erklärte dazu, Twitter habe keine unmittelbaren Pläne, Sandys Features in seine Microblogging-Plattform zu integrieren. Sandy-Nutzer sollten sich jedoch nicht darüber wundern, wenn ihnen in Zukunft das eine oder andere Twitter-Feature bekannt vorkomme.
Dornfest gründete Values of N, nachdem er mehrere Jahre beim bekannten Technologieverlag O'Reilly gearbeitet hatte. Sein Start-up betrieb zusätzlich zu Sandy noch einen Dienst für digitale Notizzettel namens Stikkit, der ebenfalls am Freitag dichtgemacht wurde.
Microblogger ausgesiebt
Stikkit und Sandy sind nicht die einzigen Web-2.0-Dienste, die in den letzten Tage das Zeitliche segnete. Ebenfalls betroffen war Pownce - eine Microblogging-Plattform, die Twitter mit der Möglichkeit zum Medientausch Konkurrenz machen wollte. So konnten sich Pownce-Nutzer gegenseitig MP3s zukommen lassen sowie Fotos und kurze Videos an ihre Freunde und Kontakte schicken.
Pownce setzte zudem auf Web-2.0-Prominenz, um sich von Twitter abzusetzen. Zu den Gründern gehört Kevin Rose, bekannt als Erfinder der extrem erfolgreichen sozialen Nachrichtenplattform Digg.com. Doch trotz Rose war Pownce nie sonderlich erfolgreich. Anfang Dezember gab das Pownce-Team bekannt, dass man vom Blog-Anbieter Six Apart aufgekauft worden sei. Der Dienst wurde am vergangenen Montag ersatzlos eingestellt.
Feste Jobs statt großem Zahltag
Das Aufkaufen einer Firma ohne die Absicht, ihre Produkte weiter zu unterstützen, bezeichnet man in der Sprache der Risikokapitalgeber als Übernahme der Vermögenswerte. Six Apart sicherte sich dabei beispielsweise die Rechte am Namen und an der Technologie von Pownce.
Während beim Aufkauf kompletter Start-ups oftmals Millionen gezahlt werden, fließt bei derartigen Ausverkaufsübernahmen deutlich weniger Geld. Die Haupbelohnung für die Gründer eines derart todgeweihten Start-ups liegt darin, dass sie nach dem Übernahme einen festen Job haben.
So kündigten die beiden Pownce-Entwickler Leah Culver und Mike Malone an, dass sie in Zukunft für Six Apart arbeiten werden. Sandy- und Stikkit-Erfinder Rael Dornfest bekam durch die Übernahme seiner Firma einen Job als Entwickler bei Twitter.
Ein würdevolles Ende
Die Übernahme der Vermögenswerte ist damit eine Art würdevolles Ende für Start-ups ohne finanzielle Überlebenschancen. Dabei ist die Zukunft dieser Firmen nicht immer vorgezeichnet. Dornfests Gründung Values of N schien beispielsweise unter einem guten Stern zu stehen. Einer der ersten Investoren in die Firma war Ram Shriram, der auch den Google-Gründern einen ihrer ersten Schecks gegeben hatte. Dornfest selbst war vor der Firmengründung in der Branche allseits bekannt.
Eine zweite Finanzierungsrunde kam dennoch nicht zustande, und Dornfest ging nach einer Weile ganz einfach das Geld aus. Anfangs beschäftigte die Firma knapp ein Dutzend Mitarbeiter. Seit mehr als einem halben Jahr lief die Firma jedoch als Einmannbetrieb. "Rael ist ein genialer Programmierer", erklärte ein Silicon-Valley-Insider, der nicht genannt werden will, dazu gegenüber Futurezone, "Doch praktisch niemand nutzte seine Technologie."
Tatsächlich fristeten Dornfests Dienste in der Welt des Web 2.0 ein Schattendasein. Beide Plattformen beeindruckten durch clevere Fähigkeiten zur Interpretation natürlicher Spracheingabe. Ihre Funktionsweise ließ sich jedoch nur schwer erklären. Bis zu Einstellung des Angebots konnten sich deshalb gerade mal 11.000 Twitter-Nutzer dazu durchringen, die digitale Assistentin Sandy auszuprobieren. Öffentlich zugängliche Statistiken lassen erahnen, dass Stikkit noch deutlich weniger Nutzer für sich begeistern konnte.
Kein Geld mehr für Millionenübernahmen
Fehlender Erfolg war nicht immer ein Grund für eine Übernahme mit Todeskuss. Branchenriesen gaben zu den Hochzeiten des Web-2.0-Booms viel Geld für Start-Ups aus, deren Nutzerzahlen alles andere als beeindruckend waren. So ließ sich Yahoo das soziale Widget Mybloglog zehn Millionen Dollar kosten, obwohl der Dienst zum Übernahmezeitpunkt Anfang des letzten Jahres gerade mal 45.000 registrierte Nutzer verzeichnete.
In Zeiten massiver Einsparungen ist für derartigen Kaufrausch offenbar nur noch wenig Geld vorhanden. Gleichzeitig wird es für immer mehr Start-ups finanziell eng. So warnte die Venture-Kapital-Firma Sequoia Capital kürzlich, dass es auf absehbare Zeit nur noch wenig Geld für neue Finanzierungsrunden geben werde.
Auch die Zahl der Firmenübernahmen wird nach Auffassung der Sequoia-Manager deutlich sinken, und profitable Start-ups werden dabei deutlich bessere Karten haben. Nutzer von Web-2.0-Anwendungen müssen sich deshalb darauf gefasst machen, dass die ein oder andere ihrer Lieblingsplattformen in naher Zukunft ganz einfach verramscht und dichtgemacht wird.
(Janko Röttgers)
