China Mieville: Mord in der Parallelkultur
Mit "The City and the City" hat China Mieville einen in jeder Hinsicht fantastischen Roman über zwei Städte vorgelegt, die sich räumlich überlagern und doch streng getrennt sind. Nur das Verbrechen bringt die Behörden in dieser Welt dazu, einmal genauer hinzusehen.
Der britische Fantastik-Autor Mieville hat in der Vergangenheit schon einige Antworten auf die Frage gegeben, wie die Stadt als solche in der Science-Fantasy zum Hauptakteur einer Erzählung gemacht werden kann. New Crobuzon (aus "Perdido Street Station", 2000), die schwimmende Piratenstadt Armada ("The Scar", 2002) und London selbst, dem in "Reports of Certain Events in London" (2004) ein ganz entzückendes Eigenleben und in "Un Lun Dun" (2007) ein kompletter fantastischer Widerpart zuwächst, bleiben dem Leser noch lange in bester Erinnerung.
In der großen Stadt, immer auf Knochen und Katakomben gebaut, durch sie und für sie lebt Mievilles Prosa - außer Jeff Vandermeer macht ihm da derzeit keiner etwas vor. Mit seinem neuen Buch "The City and the City" geht er einen Schritt weiter und lässt in zwei Städten leben und sterben, die am gleichen Ort stattfinden. Beszel und Ul Quoma, irgendwo an den südslawischen Rändern Europas gelegen, machen einander denselben Platz streitig und bekriegen, umarmen, durchdringen einander von Stadtteil zu Stadtteil, Straße zu Straße, ja in manchen Fällen von Hausetage zu Hausetage. In dem einen Haus ist man noch in Beszel, der Nachbarbau gehört schon ganz oder teilweise zu Ul Quoma.
Zur Person:
Marcus Hammerschmitt, geboren 1967, ist Schriftsteller und Journalist. Einmal im Monat verfasst er für futurezone.ORF.at einen Bericht zum Zustand der Zukunft. Veröffentlichungen (Auswahl): Target (Suhrkamp 1998), Instant Nirwana (Aufbau 1999), Polyplay (Argument 2002), zuletzt: Der Fürst der Skorpione (Sauerländer 2007).
Verfeindete Systeme
Hält man sich in der einen Stadt auf, sieht man die Bauten der anderen nur vage und undeutlich, als fänden sie in einer anderen Phase der Realität statt. Jahrhundertelange Feindschaft und politische Regime, die daraus ihren Nutzen ziehen, haben die Bewohner beider Städte gelehrt, die jeweils "anderen" so gut wie möglich nicht wahrzunehmen - zudem zieht eine unheimliche Agentur namens "Breach" ("Verstoß") Grenzverletzer hüben wie drüben aus dem Verkehr, nach eigenem Gusto, ohne mit der Wimper zu zucken.
Was ein bisschen nach Italo Calvinos Stadtfantasien klingen könnte, ist in Wirklichkeit alles andere als drollig - der Stand der Dinge übt auf alle Einwohner beider Städte einen dauernden Stress aus, wie auch auf den Erzähler, der nicht nur diesen Stand der Dinge glaubhaft machen muss, sondern auch das Verhalten seiner Figuren. Teilweise bedarf es dazu einer eigenen Terminologie. Aufgrund der geltenden Tabus beherrschen alle Erwachsenen in Beszel und Ul Quoma das "Unsehen": Man sieht die Gebäude, Menschen und Dinge der jeweils anderen Stadt nicht, sondern "unsieht" sie. Ein wenig erinnert das an die Anleitung von Douglas Adams zum Fliegenlernen ohne Flugapparat: Man solle sich doch zu Boden fallen lassen, aber daneben.
Das ausgeblendete Fremde
Die Geografie des Doppelorts ist mit normalen Begriffen nicht zu fassen, es gibt Gegenden, die "hiesig" ("total"), überlagert ("crosshatched") und "fremd" ("other") sind. Naturgemäß sind die überlagerten Gegenden am interessantesten, denn dort existieren die Dinge und Menschen der jeweils anderen Stadt in einer geisterhaften, nur durch viel "Unsehen" zu meisternden Form. Farben, Kleidungsstücke und verschiedene andere kulturelle Inhalte sind typisch für je eine der Städte und in der anderen verboten oder zumindest risque.
Aus der Sicht des Polizisten Borlu erzählt, wirken all diese Verhaltensrituale wie eine eingeschliffene, zwischen Gewohnheit und Folter schwankende Neurose. Die Konstruktion, die ein ontologisches Axiom verletzt - dass zwei Dinge nicht am selben Platz stattfinden können -, fordert aber nicht nur hinsichtlich der Terminologie ihren Preis, sondern veranlasst den Autor zu einer Form von Hyperrealismus, die für ihn relativ neu ist.
Im "Harry Potter"-Kontinuum
"Harry Potter", das iPhone und Erinnerungen an das geteilte Berlin müssen dazu herhalten, die allzu geisterhafte Doppelstadt an die Jetztzeit, 2010 in Europa, zu binden - wie einen Ballon, der ansonsten auf und davon schweben würde. Die Dialoge sind von Wörtlichkeit und fein zurechtgeschliffener Psychologie geprägt, Mieville will keine Chance auslassen, das irre Szenario durch realistische Wiedererkennungseffekte zu verankern.
Und die Geschichte? Wir haben einen Krimi, denn ein Mord ist geschehen. Eine Tote, die eine Prostituierte gewesen sein könnte, erweist sich als etwas ganz anderes, in Wirklichkeit war sie eine Jungarchäologin auf Abwegen. Eigentlich stammte sie aus Ul Quoma, ermordet wurde sie aber in Beszel, und sie hat mit halb und ganz illegalen Gruppen von "Vereinigern" ("unificationists" oder "unifs") zu tun gehabt - Leute, die unstatthafterweise glauben, dass die beiden Städte in Wirklichkeit eine sind.
"The City and the City" ist bisher nur in englischer Sprache bei Panmacmillan erschienen. Richtpreis: 14,95 Euro, 400 Seiten.
Auf Deutsch wird der Roman unter dem Titel "Die Stadt und die Stadt", übersetzt von Eva Bauche-Eppers, laut Ankündigung des Verlags Bastei-Lübbe am 28. August 2010 erscheinen. Preis: 9,30 Euro.
Die dritte Stadt
Weil der ermittelnde Beamte, besagter Borlu, das schnell feststellt, will er den Fall an "Breach" abgeben, jene himmlische oder höllische Agentur, die sich um solche Fälle mit Fleiß kümmert. Aber Borlu merkt doch auf, vor allem wegen eines weiteren Interessengebiets des Mordopfers. Die junge Wissenschaftlerin war nämlich offenbar der Überzeugung, dass an bestimmten Gerüchten und Legenden etwas dran ist, wonach zwischen Beszel und Ul Quoma noch eine dritte Stadt namens "Orciny" existiert. Borlu wittert Lunte, und dieses genuine, tendenziell gegen die Machenschaften von "Breach" gerichtete Interesse bringt ihn in Konflikt mit so ziemlich allen um ihn herum. Das Abenteuer kann beginnen.
Mieville hat ein spannendes Buch geschrieben, das wie üblich mit sorgsam ins Erzählgewebe eingebettetem Recherchefleiß, authentischen Figuren und einem bizarren Szenario aufwarten kann. Obwohl das paradox klingt, ist es sein bisher realistischstes - seine eigene Erzählung hat das erzwungen. "The City and the City" ist nicht Mievilles bestes Buch bisher, aber es steht meilenweit über dem Mist, der sonst in dem Genre leider die Regel ist. So hat er es wieder einmal geschafft, Weltklassephantastik zu schreiben, die dem Massenpublikum zu schwierig sein wird. Das weiß er genau, und daher gebührt ihm für seine Kunst, seinen Mut und seine Beharrlichkeit Dank.
Rückschau
"La Jetee" (1962) von Chris Marker ist Kubricks "Dr. Strangelove" nicht nur in der Eingangsszene so verwandt, dass man ersteren Streifen als vorausgreifende Fortsetzung zu letzterem begreifen kann. Beide Filme spielen das Thema Atomkrieg in seinen bizarreren Aspekten durch (ja, beide stellen implizit die Behauptung auf, dass man dieses Thema nur als Bizarrerie diskutieren kann). Kubrick griff zur Komödie und zum Slapstick, Marker zur griechischen Tragödie in Standbildern inklusive Chor. Marker zeigt, was nach dem Ritt auf der Bombe passieren könnte. Und beide Filme ergänzen einander an einem Sonntagnachmittag, an dem man einmal wieder zwei gute Filme sehen will, ganz wunderbar.
Vorschau
Das kommende Apple-Tablet wird uns von der Langeweile erlösen. Das kommende Apple-Tablet wird die Printindustrie mit Hilfe des Internets vor dem Untergang am Internet retten (s. iPhone und Musikindustrie). Das kommende Apple-Tablet ist das Jesus-Gadget: So viel Erlösungspower war selten. Mich interessiert aber nicht so sehr, ob das Gerät diesen irrsinigen Erwartungen entsprechen kann, sondern eher, ob es ein Stück wahr gewordener Science-Fiction sein wird oder nicht - wie es sein ferner Vorverwandter, der Newton 2100, seinerzeit war. Steve Jobs weiß es schon, wir noch nicht. Abwarten.
(Marcus Hammerschmitt)