Schreiben in der Hyper-DDR
Kurz vor seinem Tod ist der deutsche Schriftsteller Ronald M. Schernikau in einen sterbenden Staat ausgewandert. In der untergehenden DDR vollendete er seinen phantastischen Roman "legende", ein europäisches Alptraumprotokoll, in dem sich merkwürdige Götter an der Realität Berlins abarbeiten.
Auf dem letzten Kongress des DDR-Schriftstellerverbandes durften sich die Genossen Erstaunliches anhören. Einer ihrer Kollegen erzählte ihnen, dass die Wende als Konterrevolution zu begreifen sei, und dass man ohne diese Erkenntnis in Zukunft keine Bücher schreiben könne.
Es wäre leicht, das für die Äußerungen eines verbohrten Altstalinisten zu halten, der den Schuss nicht gehört hatte. Nichts wäre der Wahrheit ferner. Der Redner hieß Ronald M. Schernikau, war noch keine dreißig, stammte aus der DDR, war von seiner Mutter als Kind in den Westen mitgenommen worden und nun allen Ernstes wieder in die DDR übergesiedelt - genau zu dem Zeitpunkt, als sie sich träge auflöste, wie verschmähtes Hundefutter, das im Regen stand.
Zur Person:
Marcus Hammerschmitt, geboren 1967, ist Schriftsteller und Journalist. Einmal im Monat verfasst er für futurezone.ORF.at einen Bericht zum Zustand der Zukunft. Veröffentlichungen (Auswahl): "Target" (Suhrkamp 1998), "Instant Nirwana" (Aufbau 1999), "Polyplay" (Argument 2002), zuletzt: "Der Fürst der Skorpione" (Sauerländer 2007) und "Yardang" (Sauerländer 2010).
Ausgewandert in die DDR
"Sehr komisch", mag man denken, aber obwohl Schernikau dadaistischen Späßen zugeneigt war, meinte er es gerade mit seiner Übersiedelung in die waidwunde DDR und mit seiner Rede von der Konterrevolution bitterernst. Abgesehen davon war Schernikau schwul, und zwar so reflektiert und offensiv (MP3), wie man das heute gar nicht mehr hat. Und er arbeitete zum Zeitpunkt seines Appells an die Krankheitseinsicht der DDR-Intellektuellen seit sieben Jahren an einem Buch, das in der deutschen Literatur nicht viele Sparringspartner hat: "legende".
Als Grund für seine Übersiedlung in die DDR gab er an:
Es ist wirklich ein ganz egoistischer Grund: In der DDR werden die besseren Bücher geschrieben. Und natürlich mache ich den idealistischen Umkehrschluss: Wenn man in der DDR lebt, schreibt man die besseren Bücher. Das ist logisch nicht haltbar.
Niemand im Westen wollte "legende" drucken. Es erschien dann in Dresden, als der Osten schon der Westen, und Schernikau schon tot war.
Seltsame Götter
Und warum sollte "legende" den Phantastikleser interessieren? Nun, es handelt von vier Göttern, die auf die Erde kommen, um nachzuschauen, warum bei ihnen der Nachwuchs ausbleibt. Es ist nämlich so: Die Götter entstehen aus Halbgöttern, die als Menschen geboren wurden, aber mit ihrem Tod in den Olymp aufsteigen. Die vier aktuellen Götter heißen Stino, Kafau, Fifi und Tete. Früher waren diese Götter vier Kommunisten und Kommunistinnen, denen der Autor auf seine komische, bisweilen schwärmerische Art zugetan war: Max Reimann, Therese Giehse, Ulrike Meinhof und Klaus Mann.
Gerade kommt kein Nachwuchs mehr oben an, den Göttern fehlt Gesellschaft, und zur Klärung des Sachverhalts gehen sie auf die Insel. Die repräsentiert die Vergangenheit, mitten in einem Land, das für die Zukunft steht. Das Buch hat seine Struktur von der Bibel, und es ist auch genau so dick. Es ist in jeder Hinsicht phantastisch.
Nutzlose Superkräfte
Die Story, die Story, der Stil, der Stil. Was wird wohl dabei herauskommen, wenn vier kommunistische Götter Berlin unsicher machen, in der Vor-Wendezeit? Ein buntes Chaos der schönsten Sorte. Die Götter bemühen sich, sie legen sich ins Zeug mit ihren Superkräften, aber sie scheitern. Das ist schon der ganze Plot, und er ist beinahe nebensächlich.
Analog zur Rede John Lennons vom Leben, das passiert, wenn man gerade andere Dinge plant, sind bei "legende" die Abschweifungen viel wichtiger als der "Kern" der Sache. Interviews, Träume, Kurzbiografien, Sottisen, Remisen und Markisen, jede Menge herumliegende Leichen, Mockumentaries, Collagen von Collagen von Collagen. Stellen Sie sich vor, Bertolt Brecht, Christian Geissler, Ze do Rock, Gisela Elsner, Elfriede Jelinek, Hans Erich Nossack und Dario Fo hätten ein Kind gemacht. Dieses quäkende, entnervend intelligente, bisweilen schizoide und zum Anbeißen charmante Kind wäre "legende".
Zentralkomitee vs. Weltbank
All der kluge Klamauk muss abgeglichen werden mit Schernikaus messerscharf zugeschliffenen Sentenzen, bei denen Schluss mit lustig ist. Im Internet steht geschrieben:
Kommunisten begreifen sich als Antagonisten in einer jahrhundertealten Auseinandersetzung, die vielleicht noch Jahrhunderte andauert. Das macht sie im Verein mit der Tatsache, dass sie recht haben, manchmal ein wenig schwierig im Umgang. Jahrhundertelange Kämpfe führen, das weiß man, zu schrecklicher Verbitterung, und Marxisten, die ihre Sache ernst nehmen, können daher beängstigend humorlos sein.
Weil der anonyme Autor das ins Netz gestellt hat, muss es wahr sein, und Schernikau kommt diesem Bild vom Kommunisten am nächsten in Sätzen wie:
Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen.
Oder:
Der Kapitalismus ist ungeheuer stark, welthistorisch gesehen sehr viel stärker, als unsere Klassiker dachten, und die Grünen und alles im Umfeld, die Kulturtheorie, die Schwulen, die Subkulturen, der Großteil der Künste und große Teile der Phantasie, sie alle tragen nur dazu bei, dass der Kapitalismus immer noch besser wird.
Beziehungsweise:
Gerade diese verschissene Wiedervereinigung zeigt, wie blöd das Volk ist.
Wie anachronistisch wirkt ein Zentralkomitee gegen die Weltbank, wie einzig sinnvoll aber auch.
Wir werden uns wieder mit den ganz uninteressanten Fragen auseinanderzusetzen haben, etwa: Wie kommt die Scheiße in die Köpfe?
Geist statt Opulenz
Es gereicht ihm zur Ehre, dass der Kuchen, in den er Glasscherben wie diese eingebacken hat, nicht zum Schmatzen anregt. All die Feuilletonschwätzer, die von einem Roman immer bloß "Opulenz" fordern, oder, noch dümmer, seit zwanzig Jahren auf den "endgültigen Wenderoman" warten, würden sich an "legende" den Magen verderben. Würden sie, werden sie aber nicht, weil sie's nicht lesen, genauso wenig wie "kamalatta" von Christian Geissler, "Heilig Blut" von Gisela Elsner oder "Der Fall d'Arthez" von Hans Erich Nossack.
Sie lesen nicht, sie schwätzen lieber. Im Vergleich zu dieser Form von Geschwätz ist "legende" kein Karnevalsumzug, sondern ein unerbittlicher Totentanz - bis in das irritierende, massenweise Auftreten von Leichen in diesem Buch, an Orten, an denen man sie gewiss nicht erwartet. Ja, Schernikau hat den Text zu "Amerika" von Marianne Rosenberg geschrieben. Aber der Weg Rio Reisers von der Ultraradikalität zur handhabbaren Altersmilde war nicht seiner.
Nicht unsterblich genug
Er war verliebt, in sich selbst, die Revolution; in das, was Geissler den "Bruch" genannt hätte; in seine Partner, die "Klassiker", die DDR, die nichts weniger wollte, als von ihm geliebt zu werden. Er wollte ewig leben, d. h. ein Gott in seinem Sinn werden. Das war ihm nun nicht vergönnt. Aber obwohl er bereits 1991 gestorben ist, hat er eine Website.
Das ist zwar zu wenig der Unsterblichkeit für ihn, aber besser als nichts. Besuchen Sie ihn dort. Lachen Sie mit ihm. Lassen Sie sich Andy Warhol von ihm erklären.
Und dann, wenn sie mögen: Pfeifen Sie ein gutes Lied.
Rückschau:
Passend zum Thema präsentiert sich Edward Bellamys "Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887" als amerikanische Variante eines gelungenen Sozialismus.
Nun ja, so etwas Ähnliches wie Sozialismus.
Ernst Bloch mochte das Buch nicht, aber es scheint dann doch interessanter, dass die Klotzköpfe, die Ahnungslosen mit dem gesunden Volksempfinden es noch viel weniger mochten. Und der heutigen "Zinskritik" ist der Text sowieso haushoch überlegen:
Gesetzgeber und Philanthropen bemühten sich von den frühesten Zeiten an, die Zinsen abzuschaffen, oder doch auf möglichst geringes Maß zu beschränken. All diese Bemühungen sind jedoch misslungen und mussten notwendigerweise misslingen, solange die alte soziale Organisation herrschte.
1887 - dunkle Zeiten waren das damals.
Vorschau:
Apropos dunkle Zeiten: Dunkle Materie, dunkle Energie. Kommt das Ihnen auch Ihnen ein bisschen komisch vor? Wie etwa die Phlogistontheorie?
Man hat das Gefühl, die Wissenschaft beißt sich da an etwas fest, was durch einen völlig überraschenden Perspektivenwechsel erklärt werden wird. Überraschend als in "Sie bewegt sich doch" und "spezielle Relativitätstheorie". Und Sie können ja bei der Klärung helfen. BOINC wiederum hilft Ihnen dabei.
Die futurezone.ORF.at-Serie "Zukunft heute"
(Marcus Hammerschmitt)