
Filter für die Bilderflut
Noch nie waren für den Konsumenten so viele Filme so einfach und schnell zu erreichen wie heute. Diese Bilderflut kann nur mit neuen Strategien der Ordnung bewältigt werden. Die besten Chancen dabei haben zwei radikal entgegengesetzte Ansätze: die automatische Ordnung durch die Algorithmen der Suchmaschinen und die Idiosynkrasie, das liebevolle Kuratieren durch kenntnisreiche Individuen. Teil drei der futurezone.ORF.at-Serie "Konfiguration Kino".
Die universale Verfügbarkeit ihrer Gegenstände ist die radikalste Veränderung, die das digitale Zeitalter für die Kultur im engeren wie im weitesten Sinn mit sich bringt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts hat Walter Benjamin angesichts der neuen Reproduzierbarkeit der Kunstgegenstände einen Verlust von deren "Aura" konstatiert - und schwankte wie noch jeder große Diagnostiker zwischen Trauer ums Verschwindende und Faszination für das Neue.
Mit der Möglichkeit der digitalen - und das heißt: datenverlustfreien - Kopie, aber auch der unter Inkaufnahme vertretbarer Qualitätsverluste machbaren Verkleinerung der Datenmengen durch Kompression hat dann seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderst eine weitere, nicht nur quantitative Revolution stattgefunden.
Zur Person:
Der Kulturwissenschaftler Ekkehard Knörer ist Filmkritiker und Redakteur der Filmzeitschrift "Cargo". Im Rahmen der futurezone.ORF.at-Serie "Konfiguration Kino" erkundet er die Möglichkeiten des Bewegtbilds im Netz.
Die Serie "Konfiguration Kino" wird unter folgender URL gesammelt:
Strukturierung der Aufmerksamkeit
Seitdem und erst recht fortan besteht die eigentliche soziale Herausforderung im Umgang mit der geradezu unendlichen Menge kultureller Produktion in der Strukturierung von Aufmerksamkeiten. Also: in der Auswahl, in der Filterung, in der Zumessung von Wichtigkeit. Ordnungsmechanismen, Instanzen und Institutionen, Strukturen, Formen, Kanäle und Medien einer solchen Zumessung gab es stets. Die Vielfalt und Flexibilität und Reaktionsschnelligkeit und Differenzierung und Verarbeitungskapazität dieser Medien der Aufmerksamkeitsstrukturierung hat heute jedoch Ausmaße erreicht, von denen noch vor 30 Jahren keiner zu träumen gewagt hätte.
Raffinierte Verknappungsmechanismen des Marktes (vor allem in der bildenden Kunst) gehören ebenso dazu wie die mathematisch ausgefeilten Such- und Empfehlungsalgorithmen von Google bis Amazon - aber auch soziale Aufmerksamkeitsattraktoren wie Moden und Hypes, und zwar mit Marktmacht platzierte ebenso wie virale (nicht dass die Unterscheidung da immer einfach ist).
Geschwächte Gatekeeper
Globale Aufmerksamkeiten stehen neben lokalen, Foren für Totalexpertise neben Foren für Totalahnungslosigkeit. Die Flaschenhälse der Printmedienverbreitung (Aufwand für Druck, Vertrieb) lösen sich auf, im Netz geht, fast aufwandslos, mehr oder weniger alles. Es gibt punktgenau fokussierte Aufmerksamkeiten ebenso wie breit gestreute. Was sich so auflöst, ist weniger - wie etwa von Jürgen Habermas befürchtet - eine gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit; vielmehr wird immer sichtbarer, dass eine solche zu einem großen Teil die Illusion jener war, die als Türhüter und Torwächter den Zugang zu dieser vermeintlich gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit kontrollierten.
Wie in jeder Situation eines revolutionären Wandels geht derzeit alles, mit teils heftigen Debatten und Streitereien, versteht sich, durcheinander: Die alten Herren (für die Kultur: des bürgerlichen Feuilletons) sind noch nicht tot, die Emporkömmlinge, die absehbar die Zukunft bestimmen werden (Blogger, Aggregatoren, neue Virtuosen der Aufmerksamkeitsverarbeitung aller Art), noch auf dem Sprung.
Totaler Zugriff
Das ist die Lage, in der wir sind. Und die kurze Skizze der Lage ist nötig, um zu begreifen, vor welchen Problemen und Chancen eben auch die zentrale reproduzierbare Kunst des 20. Jahrhunderts, das Kino, in dieser Situation des Umbruchs steht. Die Vision eines "imaginären Museums" (Andre Malraux) des Kinos, in dem jederzeit auf jedes (erhaltene) Werk der Geschichte sofortiger kostengünstiger (wenn nicht gar kostenfreier) Zugriff besteht, ist jedenfalls nicht mehr absurd. Der Einzelsammler als ikonische Figur - Henri Langlois von der Cinematheque Francaise oder Amos Vogel ("Film as Subversive Art") - hat ausgedient. Kommerzielle Streamer und über den Globus verstreute, in fröhlicher Illegalität tätige Uploader-Horden treten an seine Stelle.
Die Uploader als neue Figuren des Sammlers gehen im Mainstream-Bereich wahl- und unterschiedslos vor: Was ihnen vor die Flinte kommt, stellen sie ins Netz. In den neuen Stream-Archiven springen ihnen Meuten von Verlinkern zur Seite in wettkampfartiger Jagd nach dem frischesten Wild. Anders ist das im Kunstbereich. Das gilt für eine Seite wie The Auteurs ebenso wie für die in der letzten Woche erwähnte Cinephilen-Tauschbörse, in der es vielfältigste kuratorische und kritische Aktivität gibt. Es gilt aber auch für YouTube, das längst unüberschaubar gewordene Welt-Gesamtbildarchiv - einzelne Kanäle entwickeln sich da zu kleinen Kinematheken. Sie entziehen sich der Kontrolle durch Entstellung der Filmtitel und sind deshalb auch nicht über die Suche, sondern nur über den einmal gefundenen Kanal selbst abrufbar. Auch hier sind nicht unbeträchtliche Teile der Kinogeschichte schon ins Netz eingespeist.
Konkurrenz der Spielorte
Es ist kein Wunder, dass die Kuratoren der Kinematheken - wie James Quandt, siehe den ersten Teil dieser Reihe - jene sind, die am lautesten aufschreien. Nur in zweiter Linie geht es dabei um eine Konkurrenz der "Spielorte", um eine Liebe zur analogen Projektion von analogem Film und eine Nostalgie für das Kino als Gemeinschaftserfahrung unter Anwesenden. Der eigentliche Umbruch liegt in der Position des Kurators, die ähnlich unter Druck gerät wie die der Redakteurin im Massenmedium.
Beide filtern mit einem spezifischen Anspruch - nämlich dem, als Einzelperson nichtbeliebige Auswahlen zu treffen. Sie bestimmen qua Position, was in Umlauf kommt und in Umlauf bleibt. Kuratorinnen und Redakteure sind, zugespitzt gesagt, in ständiger Kanonisierungsarbeit begriffen. Das funktionierte gut, solange sie die Verfügbarkeit - von Informationen, Filmen etc. - selbst mitregulieren konnten. Filmhistorische Entdeckungen außerhalb der kanonisierenden Institutionen waren, zugespitzt gesagt, schwer möglich. VHS und DVD haben den Umbruch dann eingeleitet, dessen entscheidende Phase inzwischen erreicht ist.
Die neuen Ordnungen
Heute kann jeder, da die Verfügbarkeit sich gegen unendlich bewegt, seine Entdeckungen machen und darüber in seinem Blog oder im Online-Magazin seines Vertrauens schreiben. Und andersherum: Es ist viel schwieriger geworden, die Nichtbeliebigkeit der eigenen Auswahl zu behaupten. Die Situation ist dabei freilich beinahe paradox: Das Schaffen von Struktur, Übersicht, Ordnung ist nötiger denn je; die Glaubwürdigkeit hergebrachter Machtpositionen erodiert. Zwei grundsätzlich andere Wahlmechanismen, scheint mir, ergänzen - und ersetzen in Zukunft möglicherweise - die unflexiblen, institutionell gestützten kuratorischen und redaktionellen Praktiken.
Die beiden Pole, zwischen denen sich das bewegt, sind nicht für den Film, sondern für die revolutionäre Umbruchsituation spezifisch, in die auch das Kino mitsamt seiner ganzen Geschichte hineingeraten ist. Diese Pole sind, pointiert gesagt: der Algorithmus und die Idiosynkrasie. Das Allgemeinste (die mathematische Formel) und das am wenigsten Verallgemeinerbare. Das Unpersönliche und die Persönlichkeit. Die automatische Auswahl und die durch die komplexe Wunsch-, Willens- und Erfahrungskonfiguration namens Subjekt gegangene Wahl, Bewertung, Sicht der Dinge, die allerdings große Mühe hat, sich noch als nichtsubjektiv zu behaupten.
Algorithmus vs. Idiosynkrasie
Der Algorithmus findet, was einer sucht, und manchmal führt einen der Zufall auf einen spannenden Abweg; natürlich gibt es weiter die Kritikerin und den Kurator, jetzt aber zunehmend als Bloggerin und Experten: mit viel weniger Macht zur Verfügbarkeitsregulation, Aufmerksamkeitssteuerung und Kanonisierung. Die Experten rutschen von Schlüsselstellen der Aufmerksamkeitsregulierung in die Position des einen Experten neben anderen für stark ausdifferenzierte und spezialisierte Teilöffentlichkeiten.
Wichtiger für die Konstitution größerer Öffentlichkeiten werden Mittler anderer Art. Mittler, die das Verhältnis von Algorithmus und Idiosynkrasie grundsätzlich anders verschränken, Spezialisten, wenn man so will, für genau diese Verschränkung. Spezialisten, heißt das auch, für genau das, was jeder, der im Netz unterwegs ist, beherrschen muss: sich mit Hilfe von Filtermechanismen und -instrumenten zu orientieren. Ein großer Teil des Web 2.0 ist im Grunde nichts anderes als die neue Verschränkungsform von Algorithmus und Idiosynkrasie: Der persönliche Feedreader wie die eigenhändig zusammengestellte Twitter-Liste öffnen die Horizonte.
Zweit- und Drittsubjektivitäten
Ich wähle - sozusagen - als zusätzliche Sinnesorgane mir nahestehende Zweit- und Drittsubjektivitäten. In professionellen Filtern und Aggreggatoren konsolidiert sich das dann in aller Vorläufigkeit zu quasi-objektiven Überblicks-Momentaufnahmen von dem, was im jeweiligen Feld derzeit wichtig ist. Für den englischsprachigen Raum erfüllt diese Funktion David Hudson mit seiner täglichen Aggreggierungsarbeit in Perfektion - früher bei Greencine, kurz bei IFC, heute bei den Auteurs. Im deutschsprachigen Raum leistet für die Kultur insgesamt der Perlentaucher Ähnliches, im Filmbereich reicht bisher nichts annähernd an David Hudson heran.
Dabei "kuratiert" Hudson so wenig, wie das einzelne Blogger tun. Oder vielleicht doch? Was wäre "Kuratieren" anderes als sorgfältige Auswahl, die kenntnisreich plausibel gemachte, womöglich emphatische Erlösung des Einzelobjekts aus seiner Beliebigkeit? Die Kinemathek und das Programmkino bündeln Auswahl, Ort der Aufführung, Beschaffung der Kopie und die Vorführung selbst. Mit der Verfügbarkeit des Films im Netz löst sich die Notwendigkeit dieser Bündelung im Prinzip einfach auf. In einem Blog, das ein Aggregator verlinkt, weist einer auf einen Film, ein Werk, einen Kontext hin - und wer das liest und interessiert ist, kann sich selbst zu Hause (also: fast überall auf der Welt) sofort die Kopie beschaffen (als Download oder Stream) und den Ort der Vorführung einrichten (am Rechner, am Fernseher, am Rechner als Fernseher, am Fernseher als Rechner) - oder wird das in einer schon recht nahe herangerückten Zukunft jedenfalls können.
Hinterher oder sogar währenddessen kann er oder sie mit Expertinnen und seinen Freunden 2.0 über das Gesehene plaudern und tweeten. Der Effekt ist eine weitreichende Dezentralisierung, eine Absenkung der Zugangsschwellen, eine größere Offenheit fürs Einzelinteresse, um nur die wichtigsten Vorzüge dieser anderen Konfiguration des Kinos zu nennen. Frage an James Quandt: Was ist gegen diese schöne neue Kinowelt denn im Ernst einzuwenden?
Dazu dann nächste Woche mehr.
(Ekkehard Knörer)