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BlueBrain: Ein Modell des Gehirns

RECHNER
07.03.2010

Fragen nach "künstlichen Gehirnen" gehen Henry Markram auf die Nerven. Der Wissenschaftler von der ETH Lausanne will erst einmal wissen, wie einzelne Neuronen ticken. Dazu misst er sie exakt aus und prüft sorgsam ihre Reaktionen. Denn er weiß, dass sein Modell eines Gehirns nur dann funktionieren kann, wenn es sehr nah an der Natur ist.

Am Sonntag in "matrix"

Mehr zu diesem Beitrag hören Sie am Sonntag, dem 7. März 2010, um 2230 Uhr im Ö1-Netzkulturmagazin "matrix".

Science-Fiction-Autoren und Futurologen des 20. Jahrhunderts haben einen schlechten Ruf. Kaum eine ihrer Vorhersagen traf ein: Die Menschheit ist noch nicht auf den Mars ausgewandert und die Damen besitzen immer noch keinen Geigerzähler für die Handtasche, um damit die Emissionen ihres atomgetriebenen Cabrios messen zu können. Auch die Ankündigung, dass 2013 eine Simulation eines menschlichen Gehirns zum Preis von 1.000 US-Dollar auf dem Markt zu haben sein wird, ist heute schon ein Flop.

Trotzdem tritt eine neue Generation von Wissenschaftlern an, sich dem Rätsel Gehirn aufs Neue zu nähern. In den letzten Jahren brach weltweit in den Labors darüber wieder eine Art Wettstreit aus - trotz vieler mahnender Stimmen, dass das teure Zeitverschwendung sei. Aber der Reiz eines derartigen Unterfangens ist nicht von der Hand zu weisen. Das Labor von Henry Markram in der Schweiz zählt derzeit zu den Favoriten. Dem gebürtigen Südafrikaner steht in Lausanne seit 2005 ein eigenes Team aus 32 Wissenschaftlern zur Verfügung, um seinen Traum "BlueBrain" zu verwirklichen.

Die Vorgabe

Henry Markram, Gründer des Brain Mind Institute an der ETH Lausanne, ist eigentlich sehr zurückhaltend, was Voraussagen anbelangt. Aber in diesem Wettstreit um Forschungsgelder lässt auch er sich zu einer Vision hinreißen: Er und sein Team treten an, 2018 ein 3-D-Modell des menschlichen Gehirns präsenten zu wollen.

Markram nennt sein Projekt nicht BlueBrain, um der Computerfirma IBM, die einst auf den Spitznamen Big Blue hörte, einen Gefallen zu tun und auch nicht deswegen, weil in seinem Labor ein IBM-Supercomputer steht. Ganz im Gegenteil: Mit IBM will er seit 2007 nur noch wenig zu tun haben. BlueBrain, so betont er, war nie ein IBM-Projekt, und die Kooperation mit diesem Unternehmen habe er endgültig beendet, als er eine ihrer Verlautbarungen unter dem Titel "Neuronale Netzwerke bilden das Gehirn nach" lesen musste.

Woher also der Name BlueBrain? Für die Farbe Blau entschied sich Markram, als er nach einer Möglichkeit suchte, zu beschreiben, dass es sich bei seinem Modell zwar um ein Gehirn handle, aber eben nicht um ein organisches. BlueBrain sei wie ein blaues Müsli. Niemanden würde einfallen, Letzteres mit dem Original zu verwechseln.

Henry Markram über die Bedeutung der Farbe Blau:

Kein Neuron gleicht dem anderen

15 Jahre und 50.000 Experimente später erarbeiteten sich Markram und sein Team eine Datenbank, in der jedes einzelne Datum akribisch genau gemessen, getestet und wieder überprüft wurde. Und eine Erkenntnis aus dieser mühseligen Arbeit lautet: Kein Neuron gleicht dem anderen. Aber auch, dass die heutige Computertechnik nicht ausreicht, um eine Simulation des menschlichen Gehirns zu erstellen.

Manche Wissenschaftler, die von den frühen Erfahrungswerten der Forschung über Künstliche Intelligenz geprägt sind, würden sagen: Die Erstellung eines exakten Modells sei nicht möglich. Generell sei das unsinnig und nur teuer. Aber Markram setzt nicht auf die Methoden und Hypothesen, die in der künstlichen Intelligenz, für neuronale Netze und in der Robotik aufgestellt wurden. Er setzt auf Akribie und die Exaktheit seines Datenmaterials. Er ist überzeugt, dass, wenn man in der Lage sei, ein funktionierendes Modell zu erstellen, man auch darangehen könne, das Muster dahinter zu verstehen.

Zumindest könne man am Ende des Tages anhand seiner Kopie sehen, ob man das Gehirn eines Säugetieres oder das einer Amöbe nachgebaut habe. Oder – wie Markram es selbst ausdrückt: Ob man zwar die Eigenschaften von unzähligen Kiefern studiert hat, aber am Ende doch vor einer Eiche steht.

Testen, testen, testen

Beim Projekt BlueBrain wird gemessen, getestet und wieder gemessen. Alles, vom elementarsten Teil eines Moleküls bis hin zum Schaltkreis. Das Modell, an dem Markram derzeit arbeitet, ist eine exakte zellulare Kopie des Neokortex einer zwei Wochen alten Ratte. Nicht mehr und nicht weniger.

Dafür misst er das Verhalten jedes einzelnen Neurons. Ob sein Modell mit dem Original übereinstimmt, erkennt er in seinen Experimenten daran, ob sie auf einen bestimmten Reiz gleich reagieren. Auf eine bestimmte Stimulation, so Markram, reagiert das Neuron mit einer Schwingung von genau 20 Hertz. Dieses Signal wird ausgesendet und kann daher gemessen, wiederholt und in einem Modell nachgebildet werden. Stimmt die Testreihe, dann muss die Simulation auf dieselbe Stimulation ebenso mit 20 Hertz oszillieren. Ist das nicht der Fall, dann ist den Wissenschaftlern ein Fehler unterlaufen, was so viel bedeutet: zurück zum Original und zu den Daten.

Markram interessieren dabei keine Fragestellungen wie: Kannst Du denken? In seinen Experimenten geht es ihm darum, herauszufinden, wie ein einzelnes Neuron reagiert. Das klingt nicht gerade aufregend, sondern nach einer harten Geduldsprobe. Aber, so Markram, entscheidend für den Erfolg sei genau dieser Anspruch, einfache Fragen zu stellen.

Markram: "Man stellt niemandem eine komplizierte Frage, wenn man sich sicher ist, sie übersteige seinen Horizont. Wenn Sie eine einfache Struktur vor sich haben, dann stellen Sie einfache Fragen. Alles andere macht keinen Sinn. Genauso wenig können Sie an einer einfachen Struktur Testreihen durchführen, die in gänzlichen anderen Situationen und auf ganz anderem Niveau ansetzen.

Die Fakten

Heute geht man davon aus dass das menschliche Gehirn zehn bis 100 Milliarden Neuronen besitzt. Bei BlueBrain hält man jetzt bei rund 10.000. Um diese Anzahl von Neuronen mit zehn mal acht Synapsen zu verbinden, würde man - nach den Berechnungen des Labors - an die acht bis 12.000 Prozessoren benötigen. Eine Simulation selbst dieser Datenmenge bleibt bis auf weiteres eine Vision. Bezüglich der Software, so Markram, sei man bereits auf gutem Weg, aber was fehlt, sei die geeignete Hardware, eine Art "multidimensionale Computer", der Aufgaben sowohl parallel wie auch seriell abarbeiten kann. Eine Maschine, die sowohl ein Quantencomputer ist als auch die Eigenschaften von einer digitalen wie auch einer analogen Rechenmaschine in sich vereinen müsse.

Aber selbst, wenn das Team rund um Markram all diese Probleme bewältigen könnte, wäre der Bau einer derartigen Maschine mit heutigen Mitteln unsinnig, meint der Wissenschaftler: "Schon allein wegen der Größe der Prozessoren und der notwendigen Geschwindigkeit. Er wäre viel zu groß und zu teuer. Die Stromrechnung pro Jahr würde in die Milliarden Dollar gehen."

Auch Grid Computing würde ihm bei seinem Projekt nicht weiter helfen. Anders als beim SETI-Projekt, wo viele Private die Rechenleistung ihrer Computer über das Netz zur Verfügung stellen, um extraterrestrischen Signale einzufangen und zu analysieren, müsse er darauf vertrauen können, dass alle benötigten Prozessoren zuverlässig zur gleichen Zeit zur Verfügung stehen. Denn, so Markram: "Neuronen agieren sehr demokratisch. Erst wenn die Meinung des letzten Neurons gehört wurde, setzen sie den nächsten Schritt. Ein einziger Rechner, eine einzige langsame Datenverbindung, kann den ganzen Prozess aufhalten, weil alle anderen auf diese eine Meldung warten. Das Modell Grid Computing ist für unser Problem daher noch keine Lösung."

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(Mariann Unterluggauer)