Usenet: Das flammende Herz des Cyberspace
Egalitäre Meinungsfreiheit einerseits, Spam und kleinliche Off-Topic-Streitereien andererseits: Die Online-Streitkultur hat ihren Ursprung im Usenet. Über Debatten zu Haushaltsroboter-Fakes, obskuren "alt"-Gruppen und dem Pentium-Bug fand das Netz dort zu seiner vieltönenden Stimme. Teil sieben der futurezone.ORF.at-Serie "Digitale Trichtergrammophone" von Peter Glaser.
Zur Person:
Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Der Bachmann-Preisträger lebt als Schreibprogramm und Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs in Berlin. In seiner futurezone-Serie "Digitale Trichtergrammophone" erinnert er an obsolete Gerätschaften und Technologien.
Ende der 60er Jahre begann die Advanced Research Projects Agency (ARPA) des US-Verteidigungsministeriums, Computer miteinander zu verbinden, um die teure Rechenleistung gemeinsam nutzen zu können. Das Experiment hieß ARPAnet.
Am 7. Juni 1975 gab ARPA-Programmanager Steve Walker die Bildung einer ersten elektronischen Diskussionsgruppe bekannt, der Message Services Group, kurz MsgGroup. Die Netzgemeinschaft, so schrieb er, müsse "ein Gefühl dafür entwickeln, was bei elektronischen Kommunikationsdiensten selbstverständlich, was angenehm und was unerwünscht ist". Mehr als zehn Jahre lang tauschten die Teilnehmer der MsgGroup Tausende von Nachrichten aus. Gegen Ende des Jahrzehnts hatte sich der anfangs scharfe Ton in eine lebhafte, aufgeschlossene Diskussion verwandelt.
Kein Thema verboten
Im Frühjahr 1977 tauchte die Firma Quasar Industries im ARPAnet auf und löste die erste Kontroverse über freie Meinungsäußerung aus. Sie entzündete sich an einem angeblich superintelligenten Haushaltsroboter, den Quasar Industries produzierte. Jeder im ARPAnet wusste, dass es ein Schwindel war, denn der Roboter wurde heimlich ferngesteuert. Die Presse schrieb jedoch, man würde nun sehen, dass die Computerfachleute an den Universitäten nichts Praxistaugliches zustande brächten.
Strittig war, ob das aus Steuermitteln finanzierte ARPAnet als Forum benutzt werden dürfe, um sich kritisch über ein Privatunternehmen zu äußern. Die Moderatoren legten ihren Kollegen Selbstzensur nahe. Brian Reis von der Abteilung für Künstliche Intelligenz an der Carnegie-Mellon-Universität war einer derjenigen, die sich für liberale Meinungsfreiheit einsetzten: "Ich finde, dass kein sensibles Thema verboten werden darf - bis hin zu dem Vorschlag, die Regierung zu stürzen."
Sprache und Identität
Die Debatte machte deutlich, dass die Online-Gemeinde auf ihr Recht pochte, über die Zukunft des Netzes selbst zu bestimmen. In einer Welt, in der die Identität einer Person ganz durch ihre Worte bestimmt wird, kommt der Meinungsfreiheit eine noch größere Bedeutung zu als in der körperlichen Welt.
Tom Truscott hatte einen Traum. Als Kind hatte er das Buch "Danny Dunn und die Hausaufgabenmaschine" gelesen. Seit damals wollte er eine solche Hausaufgabenmaschine haben. 1979 verbrachte er den Sommer in den AT&T Bell Laboratories in Murray Hill in New Jersey, bei den Leuten, die das Telefon erfunden haben - und das Betriebssystem Unix. Die neue Unix-Version 7, die gerade verbreitet wurde, enthielt eine Reihe von nützlichen Zusatzprogrammen, eines davon hieß uucp (unix to unix copy).
Brillante Merkwürdigkeiten
Im Herbst kehrte Truscott an seine Heimatuni zurück und begann mit seinem Studienkollege Jim Ellis, ein eigenes Online-Netzwerk auf die Beine zu stellen, um sich mit den Mitgliedern der Unix-Gemeinde austauschen zu können. Kooperation war beim Umgang mit Unix unumgänglich, da es keine offizielle Hilfestellung von AT&T gab. Das neue Netz entwickelte sich zur digitalen Hausaufgabenmaschine.
Die Unix-Community wurde zur treibenden Kraft bei der Entstehung der neuen Netzgemeinschaft. Die Studenten gaben diesem Users Network den Namen Usenet. Regeln wurden vorgeschlagen und von allen im Netz diskutiert. Die meisten Usenet-User aber wollten einen unzensierten und ungehinderten Fluss von Informationen. Neben Bereichen für Programmierer, Kinofans und Science-Fiction-Freunde entstanden bald auch Newsgroups von brillanter Merkwürdigkeit, etwa "alt.look.at.me.i.am.a. fish", in der sich dann Mitteilungen fanden wie: "Ich bin zwar selber kein Fisch, aber ich kenne jemanden, der einer ist. Ich denke, was letztlich zählt, ist die Persönlichkeit."
Rasante Ausbreitung
Ab 1982 begann sich das Usenet explosionsartig auszubreiten und in Tausende von Themenbereichen aufzufächern. 1983 wurde die erste ständige Netzverbindung zwischen Nordamerika und Europa geschaltet, 1986 nahmen weltweit bereits 2.200 Sites am Usenet teil. Die ständig zunehmende Nachrichtenmenge drohte ins Chaos zu führen. Nach einer monatelangen, netzweiten Mordsaufregung - dem Great Renaming - wurde die bis heute bestehende Struktur eingeführt.
1995 gab es fast fünf Millionen Internet-Systeme, die pro Monat etwa 3,5 Millionen News-Artikel umschaufelten. Zum ersten Mal hatte eine breite Öffentlichkeit die Möglichkeit, selbst zu definieren, was sie wichtig findet. Das größte Problem war die Überinformation. Zehntausende neuer Artikel brandeten täglich an, und es war ziemlich schwierig, die Übersicht zu behalten.
Alternative Themen
1988 entstand aus einem Akt der Rebellion eine neue News-Hierarchie. Ein gewisser Richard Sexton hatte für die Freizeitabteilung ("recreation", kurz "rec") die Einrichtung der Newsgroup "rec.sex" angeregt. Kurz darauf schlug jemand noch "rec.drugs" vor. Als sich die Usenet-Gurus weigerten, erfand Brian Reid am 7. Mai 1987 bei einem Barbecue im kalifornischen Mountain View einfach eine neue Hierarchie namens "alt" (für "alternative").
In einer legendären Bekanntmachung schrieb er: "Das alt-Network transportiert jetzt alt.sex und alt.drugs. Aus ästhetischen Gründen war es noch notwendig, alt.rock-n-roll einzurichten. Keine Ahnung, was hier reinkommt. Wenn es zu viel wird, werde ich es löschen." Was Reid damals noch nicht klar war: Die "alt"-Newsgroups sind unsterblich. "Das", sagt er später, "ist der Witz an dem Ganzen. Die alt-Newsgroups können nur sterben, wenn niemand sie mehr liest."
Existenz dank Schreibfehler
Worunter die Hierarchie paradoxerweise litt, war ihre eigene Freiheit. Jeder konnte Newsgroups einrichten, wie er grade lustig war. Etliche Gruppen verdanken ihre Existenz Schreibfehlern, und es gab lustig-absurde Auswüchse an Gruppennamen, etwa "alt.barney.dinosaur.die.die.die" und "alt.sex.bondage.particle.physics".
Andererseits begannen die Nutzer die Macht zu spüren, die ihnen die offene Kommunikation verschaffte. Als im Dezember 1994 im Usenet eine Debatte über fehlerhafte Pentium-Prozessoren losging, geriet der Chiphersteller Intel unter massiven Druck. Das "Wall Street Journal" kommentierte: "Wäre die Pentium-Panne fünf Jahre früher passiert, noch ehe das Netz so populär wurde, wäre Intel vermutlich um die öffentlichen Prügel und die teure Rückrufaktion herumgekommen."
Heute ist das Usenet in Pension. In Archiven wie Deja News wurden zahllose historische Usenet-Beiträge gesammelt. 2001 wurden die Datenbestände von Google aufgekauft und in Google Groups umbenannt. Die Zugriffszahlen sinken und die Funktionen des Usenet wurden von neuen Web-Angeboten wie Foren, kommentierbaren Blogs und sozialen Medien wie Facebook und Twitter übernommen. Die Verdienste dieser frühen Gemeinschaftsform aber stehen außer Frage. Lange bevor das Internet 1993 in der Öffentlichkeit erschien, war das Usenet bereits Vorbote eines Wandels, der zur Entdeckung eines neuen Kontinents führte, der von allen Menschen auf diesem Planeten bewohnt werden kann: die digitale Welt.
(Peter Glaser)