© Günter Hack, Invaders

Mailbox: Die digitale Buschtrommel

ARCHÄOLOGIE
19.06.2010

Chicago, 1978. Auf einen heulenden Schneesturm folgt der vielstimmige Gesang der Modems. Die Mailbox, der Netztreffpunkt der Mikrocomputer-Ära, war geboren. Der Einfluss dieser Systeme wirkt bis heute im Internet nach. Reboot der futurezone.ORF.at-Serie "Digitale Trichtergrammophone" von Peter Glaser.

Zur Person:

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Der Bachmann-Preisträger lebt als Schreibprogramm und Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs in Berlin. In seiner Futurezone-Serie "Digitale Trichtergrammophone" erinnert er an obsolete Gerätschaften und Technologien.

Als am 25. August 1993 im Broadmoor Hotel in Colorado Springs die Creme der US-amerikanischen Computer-Hobbyisten zur "ONE BBSCON" zusammentraf, bat der Begrüßungsredner alle Anwesenden aufzustehen; wer keinen eigenen Computer am Netz betrieb, sollte sich wieder hinsetzen. Danach sollten diejenigen sich setzen, die 1992 noch keinen Rechner am Netz hatten, dann 1991. Als er bei 1978 ankam, stand nur noch ein Mann. "Leute", sagte der Redner, "das ist Ward Christensen."

Mitte Jänner 1978 war ein Jahrhundert-Blizzard über den Osten der USA gefegt und hatte auch Christensen in seinem Haus in einer der Suburbs von Chicago eingeschneit. In seiner Wohnung stand das Infotelefon des CACHE-Computerclubs (Chicago Area Computer Hobbyist Exchange). Er rief seinen Kumpel Randy Suess an und schlug einen alternativen Zugang zu den Clubnachrichten vor. Wenn er seinen zweiten Rechner ans Telefon hängen würde, könnten die Leute sich den Newsletter elektronisch nach Hause holen. Das wäre einmal ganz was Neues.

Die digitale Pinnwand

Christensen wollte so etwas wie die Korkpinnwand im Club in digitaler Form und schrieb dafür ein bisschen Software. Das Ganze erhielt die Bezeichnung "Computerized Bulletin Board System" (CBBS). Am 16. Februar 1978 war das Ding online. Das Modem übertrug Daten mit atemberaubenden 110 Bits pro Sekunde. Neben den einzelnen Buchstaben, die über den Bildschirm flimmerten, konnte man bequem zu Fuß hergehen.

Die BBS-Pioniere hatten die Anlage nicht draußen bei Christensen, sondern in der Wohnung von Suess in der Innenstadt von Chicago aufgestellt, um die Telefonkosten niedrig zu halten - in der Annahme, es würden nur User aus Chicago anrufen. "Aber die Anrufe kamen aus dem ganzen Land", erzählt Suess. Im November 1978 veröffentlichte das Computermagazin "Byte" eine Beschreibung von Christensen und Suess, wie man eine solche virtuelle Pinnwand zusammenbastelt. Das ARPAnet, Vorläufer des Internets, war zu dieser Zeit einem exklusiven Kreis von Wissenschaftlern vorbehalten. Mit den Bulletin Board Systems, die nun wie Pilze aus dem Boden schossen, begannen die ersten unabhängigen Online-Experimente.

Ein Schwarm von Mikrocomputern

Die 80er Jahre wurden zur Ära der Computermailboxen, wie die Bulletin Board Systems im deutschsprachigen Raum genannt wurden. (Heute hat der Begriff eine andere Bedeutung angenommen und steht für den Anrufspeicher von Mobiltelefonen oder den Posteingang eines E-Mail-Accounts.) 1983 hatte Tom Jennings in San Francisco "Fidonet" geschrieben, das erste Programm zur Vernetzung allein stehender Mailboxen. Nachdem die PC-Revolution mit der Erkundung der neuartigen Mikrocomputer ihren Anfang genommen hatte, begannen sie nun, sich miteinander zu verbinden.

Hartmut "Hacko" Schröder vom Hamburger Chaos Computer Club (CCC) programmierte das erste Mailbox-Programm in der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Informationsdesaster anlässlich der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl - als tagelang unklar war, was eigentlich passiert war, und Wissenschaftler ihre Messwerte nicht publik machen durften - ging daraus das deutsche "Z-Netz" hervor. Die Software war so geschrieben, dass Zensur keinen Erfolg haben sollte. Einmal veröffentlichte Nachrichten konnten nicht mehr zurückgeholt werden.

Maus und Fido

Ein Jahrzehnt lang machte eine lebendige, experimentierfreudige und rasch anwachsende Szene erste Erfahrungen mit dem Austausch, der Arbeit, dem Leben im Netz. Die "Tiernetze" prosperierten - das "MausNet" und die nach Hunden benannten Netze "Zerberus" (Z-Netz) und "Fido". Während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien verlief eine der wenigen verbliebenen Kommunikationsverbindungen zwischen den verfeindeten Ländern über die legendäre Z-Netz-Mailbox Bionic. Im CL-Netz ("ComLink") fanden Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen erstmals eine eigene digitale Öffentlichkeit. Mehr als ein Jahrzehnt bevor Blogs populär wurden, veröffentlichte der niederländische Friedensaktivist Wam Kat im CL-Netz sein tägliches "Zagreb Diary".

Mitte 1993, als die Tagung im Broadmoor Hotel stattfand, bestand das World Wide Web aus etwa 50 Rechnern. Fünf Monate später waren erstmals eineinhalb Seiten über das Web im Wirtschaftsteil der "New York Times" zu lesen. Die erste WWW-Konferenz im Frühjahr 1994 in Genf war komplett überbucht. Im Juni gab es bereits mehr als 1.500 Web-Server. Der Rest ist Geschichte.

(Peter Glaser)