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Das Social Web und seine Gegner

SOZIALES NETZ
03.04.2010

Was verbindet öffentliche Polsterschlachten mit dem Social Web? Wie kann die Kraft von Flashmobs für gesellschaftliche und politische Anliegen genutzt werden? Das Social Web ist das Internet, so wie es heute ist. Es unterstützt die Kommunikation der Menschen untereinander - und gepaart mit verschiedenen Werkzeugen können diese sich auf ganz neue Weise organisieren, um ihre jeweiligen Ziele zu verfolgen. Auftakt zur futurezone.ORF.at-Serie "Soziales Netz".

Flashmobs schlagen mehr oder weniger unerwartet zu: Polsterschlachten vor dem Kölner Dom, Seifenblasenregen in Bielefeld oder für mehrere Minuten eingefrorene Passanten in Wien: Diese Spaßaktionen gehen der Wikipedia-Legende nach auf einen Redakteur des US-Magazins "Harper's" namens Bill Wasik zurück. Am 3. Juni 2003 hatte er den angeblich ersten Flashmob im Macy's Department Store in New York organisiert. Mehr als hundert Menschen hatten sich im neunten Stock in der Teppichabteilung um einen bestimmten, sehr teuren Teppich versammelt.

Wasik hatte auch schon eine absurde Botschaft vorbereitet: Jeder, der von einem Verkäufer angesprochen wurde, sollte sagen, dass die Versammelten in einem Kaufhaus am Stadtrand von New York gemeinsam lebten. Sie würden nach einem Liebesteppich Ausschau halten und ihre Kaufentscheidung gemeinsam als Gruppe treffen.

Flashmobs tauchen plötzlich aus der Menge auf, um eine mehr oder weniger sinnfreie Aktion durchzuführen, und lösen sich nach einer vereinbarten Zeit wieder in der Menge auf. Flashmobs sind zwar ein Phänomen der Jugendkultur, aber sie entstammen der Internet-Kultur: Während solche Aktionen anfangs über Weblogs, E-Mails und SMS koordiniert wurden, geschieht das mittlerweile auch über das Social Web, so etwa über spezielle Gruppen in Sozialen Netzwerken wie Facebook und über Twitter.

Zur Person:

Christiane Schulzki-Haddouti ist freie IT- und Medien-Journalistin. Sie war von 2007 bis 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hochschule Darmstadt, um die Innovations- und Technikanalyse "Kooperative Technologien in Arbeit, Ausbildung und Zivilgesellschaft (kooptech)" zu erstellen. Sie arbeitet an Projekten aus den Bereichen Foresight, Innovationsmanagement und Medienentwicklung.

Die futurezone.ORF.at-Serie "Soziales Web" wird unter dieser Adresse gesammelt.

Mythos Selbstorganisation

Zum Mythos der Flashmobs gehört die Behauptung, dass diese auf reiner Selbstorganisation beruhten. Doch die Initiative ging immer auf eine Person zurück. Furore machten die Flashmobs vor allem deshalb, weil sie in dreifacher Weise auf Ausprägungen mobiler Kommunikation zurückgriffen: das Verschicken mobiler Nachrichten, das gezielte Zusammenrotten von Menschen an einem definierten Zeitpunkt und Ort sowie die öffentliche Darstellung einer Aufgabe. Mit dem Social Web können Gruppen sich noch effektiver organisieren. Anders als die SMS ermöglicht Twitter das Versenden an Tausende, ja Millionen von Nutzern. Über Soziale Netzwerke wie Facebook können ebenfalls rasch Unterstützer gefunden werden.

Gesellschaftlich und politisch relevant ist das Phänomen der Flashmobs, da sie nicht nur sinnbefreite Aktionen durchführen können, sondern auch ganz andere Aktionen im Sinne von "Smart Mobs", die "intelligente" Ziele verfolgen, wie der der US-Journalist Howard Rheingold beobachtete. Sie können sich in großer Anzahl koordinieren, um etwa eine Meinung auszudrücken, Proteste, Kampagnen oder sogar gewalttätige Aktionen zu organisieren.

Smart Mobs

Nachdem Rheingold beobachtet hatte, wie sich im Jahr 2001 in Manila über 20.000 Menschen innerhalb von 75 Minuten per SMS koordinierten, um auf einem Boulevard gegen den philippinischen Präsidenten Joseph Estrada zu protestieren und im Laufe von weiteren vier Tagen rund eine Million Mensch mobilisierten, die letztlich den Sturz von Estrada erzwangen, hielt er in seinem Buch "Smart Mobs" fest: Smart Mobs tauchen zunehmend auf als Folge dessen, "dass immer mehr Leute das Handy nutzen, dass immer mehr Chips miteinander kommunizieren, dass immer mehr Computer wissen, wo sie verortet sind, dass immer mehr Technologie tragbar wird". Einige Jahre später befasste sich Rheingold in einer Studie mit den Technologien der Kooperation ("Technologies of Cooperation"). Darunter verstand er eine große Bandbreite digitaler Systeme und Werkzeuge, die Menschen so unterstützen, dass sie besser kommunizieren und arbeiten können.

Wie können zivilgesellschaftliche Organisationen all diese Werkzeuge für sich nutzen? Um das beantworten zu können, hilft es, sich ihre zentralen Aufgaben vor Augen zu führen: Sie müssen Ideen entwickeln und Ideen verbreiten. Sie müssen für ihre Ideen eine Öffentlichkeit aufbauen - und möglicherweise Betroffene mobilisieren. Zu den zentralen Erfolgsfaktoren zählen hier die Ressourcen Geld und Zeit sowie die Fähigkeit, Teilhabe bzw. Partizipation zu organisieren. Wie können NGOs Ideen weiterentwickeln? Indem sie alle Beteiligten miteinander ins Gespräch bringen. Traditionellerweise werden dafür Arbeitsgruppen eingerichtet, die aus Menschen bestehen, die sich dazu verpflichten, ihre freie Zeit für die gemeinsame Sache tatkräftig zur Verfügung zu stellen. Um online unterschiedliche Akteure einzubinden, sind verschiedene Kommunikations- und Kollaborationsmöglichkeiten wichtig und möglich, wie die folgenden drei Beispiele von Greenpeace, dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und Campact zeigen.

Social Web für Geenpeace

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hat für ihre rund 3.400 ehrenamtlichen Mitarbeiter Ende 2007 ein Ehrenamtsportal eingerichtet, das das interne soziale Netzwerk abbildet. Damit ist die Kampagnenkommunikation schneller und direkter geworden. Jeder ist mit einem eigenen Profil in dem Portal vertreten. Auf diese Weise können die Menschen einander leichter kennenlernen - und auch nach Seminaren etwa wiederfinden. Sie geben in ihrem Profil an, welche Interessen sie verfolgen und welche Fähigkeiten sie einbringen. Auf diese Weise kann zum Beispiel ein Mitglied einer Aktion schnell herausfinden, wer im Umkreis von 30 Kilometern fotografieren kann. Jedes Mitglied kann ein eigenes internes Blog einrichten, worüber Informationen festgehalten, aber auch so etwas wie Rundbriefe organisiert werden können. Ein gemeinsamer Kalender sowie Wikis sollen die weitere Zusammenarbeit unterstützen.

Vor kurzem hat Greenpeace eine Mobilisierungsplattform namens "Greenaction" ins Netz gebracht. Mit der öffentlichen Plattform will die Umweltorganisation mehr Unterstützer erreichen und damit eine neue, offene Community aufbauen. Über die Website kann jeder eine Kampagne starten und Unterstützer suchen. Für Greenpeace ist das Netz inzwischen Teil der Kampagnenplanung. Dabei versucht die NGO in Kampagnen wie die gegen das Greenwashing des Energiekonzerns Vattenfall, Web-Aktionen wie die "Klimaunterschrift Vattenfall" mit Aktionen auf der Straße strategisch zu verzahnen.

Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung

Anders als Greenpeace ist der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) keine gewachsene Institution, sondern ein loser Zusammenschluss von Bürgerrechtlern, Datenschützern und Internet-Nutzern, der sich Ende 2005 auf dem Kongress des Chaos Computer Clubs gründete. Der AK Vorrat richtete sich gegen die gesetzliche Vorgabe, Telekommunikationsverbindungsdaten mindestens sechs Monate zu speichern. Jeder kann dem Arbeitskreis formlos beitreten. Der Kern besteht aus 15 Koordinatoren und etwa 40 sehr engagierten Personen. Zu Beginn wurde primär über Mailinglisten kommuniziert. Dabei konnte jede Ortsgruppe eigene Mailinglisten aufbauen. Später wurde ein öffentliches Wiki installiert, um dort gemeinsam Dokumentationen zu erstellen, Argumentationshilfen zu erarbeiten und Pressemitteilungen zu schreiben.

Während Demonstrationen werden im Wiki kleine Statusberichte veröffentlicht. Das Wiki ist inzwischen ein wichtiger Kommunikations- und Koordinationsknoten des Arbeitskreises. Der größte Erfolg des AK Vorrat ist das Anfang März ergangene Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das die Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärte. Derzeit überlegen sich die Aktivisten, gegen die entsprechende EU-Richtlinie vorzugehen.

Campact

Das 2005 gegründete Verein Campact wiederum ist ein Beispiel für eine Metaorganisation, die nach dem Vorbild der amerikanischen Mobilisierungsplattform Move on zivilgesellschaftliche Gruppen bei der Organisation von Protestaktionen unterstützt. Binnen zwei Tagen will Campact eine Kampagne entwerfen und starten können. Von Online-Appellen und Massenmail-Aktionen bis hin zu Demonstrationen vor Ort nutzt Campact eine Reihe von Online-offline-Methoden im virtuellen und öffentlichen Raum.

Je aktueller, je skandalisierbarer ein politisches Thema ist und je besser die Aussichten, die Forderungen umzusetzen, desto größer stehen die Chancen, dass Campact das Thema adoptiert. Finanziert wird der Verein durch Spenden sowie 500 Fördermitglieder. Dabei treibt Campact online auch Spenden für die jeweilige Aktion ein. Dennoch ist das Geld knapp. Das ist ein Grund, weshalb Campact sich dafür entschieden hat, die Software der Plattform als Open Source anzubieten - in der Hoffnung, dass viele interessierte Personen und Gruppen ihren Beitrag zur Weiterentwicklung der Plattform leisten, von der grundsätzlich alle profitieren können.

Im medialen Vakuum

In welchem Ausmaß Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlich engagierte Menschen diese Techniken einsetzen und welche Mobilisierungskraft die damit verbundenen Themen entwickeln können, hängt allerdings immer auch vom politischen System, den jeweiligen Gesellschaftsstrukturen und auch von den akut herrschenden Informationsbedürfnissen ab. So scheinen sie etwa als alternatives Informations-, Kommunikations- und Koordinationsmedium dann besonders genutzt zu werden, wenn Menschen die vorherrschende Medienberichterstattung bzw. Informationsversorgung als einseitig oder unvollständig empfinden.

Vor allem die SMS hatte sich zunächst als Mobilisierungsinstrument schlechthin erwiesen. Neben den bereits erwähnten Protesten in Manila aus dem Jahr 2001 sind hier die Demonstrationen 2004 in der Ukraine zu nennen. In Moldawien wurde der Protest gegen die Parlamentswahl 2009 mit Hilfe von SMS und dem Microblogging-Dienst Twitter, einer Art digitaler Gruppen-SMS, organisiert. Bürger dokumentierten selbst die Erstürmung von Parlament und Präsidentenpalast. Auf ihre Berichte griffen Nachrichtenagenturen wie Reuters sowie die britische BBC wiederum als Newsquellen zurück. Am 12. Juni 2009, dem Tag der Präsidentschaftswahl im Iran, blockierten die staatlichen Behörden sämtliche SMS-Dienste und untersagten es Journalisten, auf die Straße zu gehen. Die Oppositionellen wandten sich daraufhin Twitter und Flickr zu, die so zur Quelle schlechthin für die internationale Presse wurden.

Problem Internet-Zensur

Das Berkman Center for Internet and Society der Universität Harvard schätzt, dass weltweit rund 40 Staaten den Internet-Zugang beschränken - zu den bekanntesten Ländern zählen der Iran, China, Kuba und Usbekistan. Die iranische Zensur gilt dabei als am umfassendsten. Der Versuch, Bürgern nur maßgeschneiderte Informationen zukommen zu lassen, gleicht dem Wettlauf von Hase und Igel. Lange konnte die iranische Regierung das Twittern kaum unterbinden.

Die Twitterer können nämlich ihre Nachrichten entweder per Telefon an eine ausländische Nummer absetzen - oder über einen Internet-Zugang im Ausland, den zahlreiche Unterstützer für iranische Bürger unterhalten. Videos und Fotos können von einem Handy auf das nächste übertragen werden - irgendjemand hat dann die Möglichkeit, sie auf Multimedia-Plattformen wie YouTube und Flickr hochzuladen. Doch die iranischen Sicherheitsbehörden untersuchten gezielt Telefonanschlüsse, über die besonders viele Daten liefen. Sie sollen auch E-Mails festgenommener Journalisten und Oppositioneller gefälscht haben, um weitere Oppositionelle ausfindig zu machen. Twitterer, die Links zu angeblichen Hilfsangeboten verschickten, sollten die Nutzer auf die Websites locken, damit dort ihre Verbindungsdaten analysiert und sie selbst aufgespürt werden konnten.

Diktaturen lernen dazu

Der in Weißrussland geborene Wissenschaftler Jewgeni Morosow glaubt deshalb anders als Rheingold, dass das Social Web mindestens zweischneidig ist: Es unterstützt Menschen in autoritären Staaten dabei, sich zu organisieren und zu mobilisieren, andererseits ermöglicht es aber auch - gepaart mit entsprechender Überwachungstechnik - repressiven Regimes, gegen diese Menschen vorzugehen.

Im "Wall Street Journal" betonte Morosow kürzlich, dass die wachsenden Überwachungsmöglichkeiten moderner autoritärer Staaten von den Informationen in den sozialen Medien profitieren würden, da diese mit neuen und fortgeschrittenen Methoden des Dataminings analysiert werden könnten. Über den Zusammenbruch der iranischen Protestbewegung müsse man sich daher nicht wundern. Man dürfe deshalb nicht allzu große Hoffnungen in das Social Web als Werkzeug der Außenpolitik legen.

Diplomatie und Netz

Gemeinsame Reisen des US-Diplomatencorps mit der Social-Web-Elite des Silicon Valley seien eher schädlich: Sie vermittelten die Botschaft, dass Google, Facebook und Twitter lediglich Außenposten des US-Außenministeriums seien. Das könne das Leben derjenigen gefährden, die solche Dienste in autoritären Staaten nutzten.

Social-Web-Werkzeuge sind daher vor allem mächtige Instrumente, die die Kommunikation der Menschen untereinander unterstützen können. Ob diese Kommunikation ihr Ziel erreichen kann, hängt letztlich aber von den Menschen ab.

(Christiane Schulzki-Haddouti)