© Günter Hack, Invader mit Brief

E-Mail: Information Superheimweh

ARCHÄOLOGIE
03.07.2010

Als die Briefe digital wurden: vier Freunde aus Österreich, verstreut über drei Kontinente - und wie ihre Freundschaft mit der Einführung von E-Mail wieder auflebte und eine ganz neue Qualität annehmen konnte. Teil acht der futurezone.ORF.at-Serie "Digitale Trichtergrammophone" von Peter Glaser.

Zur Person:

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Der Bachmann-Preisträger lebt als Schreibprogramm und Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs in Berlin. In seiner futurezone-Serie "Digitale Trichtergrammophone" erinnert er an obsolete Gerätschaften und Technologien.

Als es Anfang der 90er Jahre mit dem E-Mailen losging, lebte mein alter Freund Reinhard, mit dem ich bei den Pfadfindern gewesen war, inzwischen auf einer Insel auf den Philippinen. Ich war in Hamburg gelandet. Und da waren noch zwei alte Freunde, Xao in Düsseldorf und Carl in Las Vegas.

Anfangs schickte Carl manchmal Briefe auf Tonbandkassetten aus Amerika. Er komponierte kleine Lieder dafür und erzählte Geschichten voller Heimweh und Abenteuerlust. Von Reinhard kam jedes Jahr ein Fax zu Weihnachten. Wir hatten gerade noch so eben Kontakt miteinander. Aber wenn die Liebe eine Kunst der Nähe ist, dann ist Freundschaft eine Kunst der Entfernung. Und E-Mail hat uns damals die Möglichkeit wiedergegeben, den Alltag miteinander zu teilen. Über Kleinigkeiten zu berichten etwa, derentwegen man keinen Papierbrief geschrieben, in einen Umschlag gesteckt, frankiert und zum Briefkasten getragen hätte.

Gespräche unter Automaten

1972 war der Watergate-Skandal ins Rollen gekommen, Deep Purple brachten ihre LP "Machine Head" heraus, und zum ersten Mal unterhielten sich zwei Computerprogramme miteinander: ELIZA, die virtuelle Psychotherapeutin, und PARRY, die digitale Nachbildung eines Paranoiden. Ihr Dialog ähnelte zahllosen nachfolgenden, von Menschen geführten Dialogen in elektronischer Form: Es wurde fast nur banales Zeug geredet. In diesem Jahr verschickte Ray Tomlinson, ein stiller Ingenieur bei der Firma Bolt Beranek & Newman (BBN) in Cambridge, Massachusetts, die erste E-Mail überhaupt.

BBN hatte vom US-Verteidigungsministerium einen Entwicklungsauftrag für die künftige Netztechnik erhalten, und Tomlinson hatte ein kleines Programm geschrieben, um Nachrichten zu verschicken und zu lesen. Als er nach einem Zeichen suchte, mit dem in der E-Mail-Adresse der Name des Users von dem der Maschine getrennt werden sollte, entschied er sich für das @. Tomlinson hatte keine Vorstellung davon, dass er das Symbol des digitalen Zeitalters gefunden hatte. Bereits 1973 machte E-Mail drei Viertel allen Netzverkehrs aus. Der gewaltige Anstieg der Netzlast durch E-Mails wurde zur Triebfeder für die Entwicklung und das Wachstum des Internet-Vorläufers ARPAnet. E-Mail war ein Renner.

Virtuelle Kaffeekultur

Freundschaft hat viel mit Zeit zu tun - wenn auch nach einer langen Zeit, in der man nichts voneinander gehört hat, klar ist: Alles ist noch da. Und: Es hält. Unser Kumpel-Korrespondentennetz, das sich nun dank E-Mail rasch herausbildete, erlaubte uns beispielsweise übergreifende völkerkundliche Beobachtungen. Mir war irgendwann aufgefallen, dass ich keine Kaffeebecher mehr mag. Seither trinke ich meinen Kaffee, zumindest zu Hause, wieder aus Tassen mit Untertasse.

Keine eingetrockneten Kaffeekreise mehr auf dem Tisch von der Unterseite der bloßen Becher. Kein kalter Kaffee mehr. Kaffeebecher, befand auch Xao aus der Düsseldorfer Kaffeekultur-Diaspora, sind ein Stück kultureller Niedergang aus den 70ern. Es gibt einen natürlichen Rhythmus, wann man einen Schluck Kaffee nimmt und wie lange man dann etwas anderes macht, etwa eine E-Mail schreiben. Seinen Kaffee zu schnell zu trinken ist unösterreichisch, darin ging auch Carl konform. Das ist eine Frage der Lebensqualität. In einem Kaffeehaus aus dem Fenster zu schauen, Zeitung zu lesen und ab und zu einen Schluck Kaffee zu trinken ist wohlgetaner Müßiggang.

Kaputt in der Büroküche

Wer seinen Kaffee zu langsam trinkt, ist wahrscheinlich Programmierer oder Konzertveranstalter, das heißt, er codiert oder telefoniert zu viel, Folge: kalter Kaffee. In den Bechern bleibt IMMER kalter Kaffee übrig. Sie sind prinzipiell zu groß. Sie haben nicht das richtige Maß.

In einer Reihe von E-Mails erforschten wir, wie sich der Kaffeebecher genauso über die ganze Erde ausgebreitet hat wie das Internet. Der "Mug", wie er in der englischen Bürosprache heißt, gehört inzwischen zur Basisausstattung der Offices in aller Welt; überall diese kleinen, dreckigen Küchen, und jeder darf immer nur seinen eigenen Mug benutzen. Unsere zusammengetragenen Reiseberichte ergaben, dass sich Tassen nur in Ländern mit ausgeprägter Heißgetränkekultur (Österreich: Kaffee; England und China: Tee) einigermaßen retten konnten. Weltweit jedoch hat der Mug gesiegt.

Sendmail, verwurmt

In der stillen Welt der Netzwerkspezialisten vollzog sich Anfang der 80er Jahre eine lautlose Revolution. 1982 wurde das European Unix Network (EUNet) gegründet, um E-Mail an europäischen Universitäten zu ermöglichen. Zugleich wurde für das ARPAnet ein External Gateway Protocol festgelegt, das den Austausch von Mails mit beliebigen anderen Netzen regelte. Wie die vielen kleinen Fettaugen auf einer Suppe, die in einem einzigen großen Fettauge aufgehen, begannen sich nun Tausende abgeschlossener Netze miteinander zu einem weltweiten Internet zu verbinden.

Wir hinterher. Reinhard und ich wurden frühe Computerenthusiasten. Xao kaufte sich 1988 einen Rechner und ein Modem, nachdem er sich ein Bein gebrochen hatte und anfing, sich zu langweilen. Es war das Jahr, in dem der Student Robert Morris jr. ein Wurm-Programm ins Internet schickte, das etwa ein Zehntel der damals 100.000 Rechner im Netz lahmlegte und den Nationalen Sicherheitsrat der USA auf den Plan rief. Der Morris-Wurm nützte einen Fehler in dem Programm Sendmail, mit dem E-Mails im Netz von Rechner zu Rechner weitergeleitet werden.

Mitteilungen an Unterhosen

E-Mail wurde zu einem Massenphänomen. Anfang der 90er Jahre wurde die E-Mail-Adresse auf der Visitenkarte hip. In den USA säumen Billboards mit Online-Adressen die Highways und kündeten am Straßenrand von der Existenz des Internets. Die US-Wäschefirma Joe Boxer druckte ihre Netzadresse auf die Unterhosenpackungen. Ein paar Tage lang wurden auf einem der gigantischen Bildschirme am New Yorker Times Square in Laufschrift die Texte der E-Mails angezeigt, die Leute an ihre Unterhosen schrieben.

Der Vergleich zwischen E-Mail und Papierpost fällt aber nicht immer zugunsten der Bit-Briefe aus. So gab es lange in jedem Postamt Spezialisten, die es schafften - unter Aufbietung der gesamten Erfahrung, die sich seit 1490 angesammelt hat, als die heutigen Thurn und Taxis mit dem Aufbau des Postdienstes begannen -, einen Brief aus Hongkong an "Alexoufer Seffc. Mr. Homwer Sweet Germany" korrekt an Herrn Alexander Seffcheque, Hammer Straße, Düsseldorf zuzustellen (sein chinesischer Schneider aus Hongkong hatte Xao eine Rechnung geschickt). Das soll mal jemand mit einer E-Mail versuchen.

Kastanien und Zahnstocher

Einmal fragte mich meine Schwester, die damals noch in Graz lebte, ob ich mich erinnern könne, wie wir als Kinder aus Kastanien und Zahnstochern Tiere zusammengesteckt haben. Sie hatte es nach Jahren wieder einmal probiert, aber die Zahnstocher gingen nicht in die Kastanien. Ich mailte meine Freunde an: Hatten sich die Kastanien nach Tschernobyl verhärtet? Waren die Zahnstocher früher weniger weich gewesen?

Umgehende Antwort von Xao, der sich erinnerte, dass man statt Zahnstochern Streichhölzer verwendet hatte, vor allem: dass die Löcher in den Kastanien vorgebohrt werden mußten. Von Reinhard kam der Hinweis, dass man statt Kastanien auch Tannenzapfen ("Schurl") als Bauelement verwendet hatte. Ich faxte das meiner Schwester, die sofort anrief und von einer Freundin berichtete, die eine umgangssprachliche Bezeichnung für Tannenzapfen verwendete, von der wir noch nie gehört hatten: "Tschurtscherl"; die nächste Runde Mails ergab aus Manila, Las Vegas und Düsseldorf fünf weitere mundartliche Tannenzapfen-Variationen. Was für ein Reichtum. Und was für ein schnelles Vergnügen, dank E-Mail.

(Peter Glaser)