"Ihre Zukunft ist grau und alt"
Der Science-Fiction-Autor Bruce Sterling gilt als Mitbegründer des Genres Cyberpunk. Mit seinem Eintreten für "grünes" Design auf Hightech-Basis machte der in Italien lebende Texaner auch in der Designwelt auf sich aufmerksam. ORF.at hat mit Sterling über "grünes" Design, "intelligente" Objekte und die Rolle der Zukunft in der Science-Fiction gesprochen.
ORF.at: Sie haben einmal gesagt, dass die Science-Fiction ganz gut ohne Zukunft auskommen könnte. Sie selbst schreiben und reden jedoch sehr viel über die Zukunft. Wie definieren Sie die Rolle der Science-Fiction-Literatur in der futuristischen Spekulation?
Sterling: Die Science-Fiction-Literatur ist mehr als hundert Jahre alt und blickt auf eine Reihe von Entwicklungen zurück, in denen verschiedene Gebiete und Zeiträume von Interesse waren. Es gab von Beginn an unterschiedliche Schulen und nationale Traditionen. Nehmen Sie etwa die von Jules Verne ausgehende Tradition der romantischen, imaginären Reiseliteratur und im Gegensatz dazu die von H. G. Wells begründete linke wissenschaftliche Romantik - beides sind Artefakte ihrer Zeiten und waren wohl zumindest ein bisschen futuristisch. Es gibt Zeiten, in denen sich die Science-Fiction-Literatur sehr intensiv mit der Zukunft befasst und es gibt Perioden, in denen sich die Science-Fiction fantastisch und sehr abgehoben gibt. Science-Fiction ist wohl eine Möglichkeit, um mit Ideen zu spielen.
Der 1954 in Brownsville (US-Bundesstaat Texas) geborene Science-Fiction-Autor, Journalist und Blogger Bruce Sterling ist vielseitig aktiv. Die von ihm herausgegebene Kurzgeschichtensammlung "Mirrorshades" (1986) begründete das Science-Fiction-Subgenre des Cyberpunk. Sein Buch "The Hackercrackdown" (1992) kann als historisches Dokument über den Cyberspace der frühen 1990er Jahre gelten.
Mit dem Viridian Design Movement machte sich Sterling für grünes Design stark. In seinem vielzitierten Essay "Shaping Things" prägte er den Begriff "Spime" und untersuchte das Potenzial vernetzter, "intelligenter" Objekte. Zuletzt war Sterling als Redner unterwegs. Anfang Februar sprach er auf dem Berliner Festival für Kunst und digitale Kultur, transmediale, über Atemporalität.
ORF.at: In Ihrem Buch "Tomorrow Now" (2002) beschäftigen Sie sich mit Futurismus. Lässt sich die Zukunft vorhersagen?
Sterling: Die Leute mögen Vorhersagen. Prophezeiungen sind eine theatralische Kunstform. Wenn Sie die Zukunft vorherhersagen wollen, können Sie das aber niemals absolut tun. Sie müssen den Standpunkt der Leute verstehen, denen Sie die Zukunft vorhersagen. Je weniger Leute das sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie recht haben. Es gibt bestimmte Standards für Futuristen. Sie können den Leuten erzählen, was gerade passiert, was sich aber noch nicht wirklich herumgesprochen hat. Das ist der William-Gibson-Standard der Futuristen, und der ist sehr verbreitet. Sie können den Leuten auch über Dinge erzählen, die langsam außerhalb der bewussten Wahrnehmung passieren. Das sind Dinge wie der Treibhauseffekt. Es ist extrem einfach vorherzusagen, dass es Klimaturbulenzen geben wird. Ich mache das seit 30 Jahren, ich kann Ihnen das praktisch garantieren. Aber es passiert eben sehr langsam. Und schließlich können Sie auf Basis der Demografie Voraussagungen tätigen. Demografische Daten eignen sich hervorragend für Prognosen. Jeder der in zehn Jahren 40 Jahre alt sein wird, lebt heute schon und ist 30 Jahre alt. Sie können also voraussagen, dass in zehn Jahren so und so viele Leute dieses Alters an diesem oder jenem Ort leben werden, wie viel sie verdienen und über welchen Bildungsgrad sie verfügen. Wenn Sie mich als Europäer fragen, wie Ihre Zukunft aussehen wird, dann kann ich Ihnen antworten, Ihre Zukunft ist grau und alt.
ORF.at: Zuletzt haben Sie den Begriff Atemporalität thematisiert. Was kann man sich darunter vorstellen?
Sterling: Atemporalität ist für mich ein Work in progress. Ich wurde immer wieder gefragt, wie man beides sein kann. Ein Cyberpunk, der über Computer und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft schreibt, und ein Steampunk, der sich aus historischer Perspektive für die Technologie des 19. Jahrhunderts interessiert. Ich beschäftige mich auch sehr viel mit aussterbenden Technologien. Mit der Atemporalität will ich die Vergangenheit von der Ehrfurcht und die Zukunft vom Staunen, vom Oooh, befreien. Ich glaube, sie stehen unserem Verständnis im Weg. Ich will, dass wir multitemporal werden, auf dieselbe Art wie wir gelernt haben, multikulturell zu sein.
ORF.at: Sie haben sich in den vergangenen Jahren intensiv mit Design beschäftigt und das Viridian Design Movement gegründet, das sich für grünes Design auf Hightech-Basis einsetzte. Was waren Ihre Beweggründe, sich mit Design auseinanderzusetzen?
Sterling: Ich lerne viel vom Design und stehle auch viele Ideen von Designern, weil ich sie für sehr nützlich halte. Als ich das Viridian Design Movement gründete, wollte ich die Designer dazu bringen, sich mit dem Treibhauseffekt zu auseinanderzusetzen. Meine erster Science-Fiction-Roman ("Involution Ocean", Anm.) hatte den Treibhauseffekt zum Thema. Seither ist es immer schlimmer geworden. Ich wollte mich nicht dafür verachten müssen, dass ich lediglich Science-Fiction-Geschichten über ein solch wichtiges zivilisatorisches Problem schreibe. Ich dachte, ich könnte meine Freunde in der Designwelt motivieren, an nachhaltigen Lösungen zu arbeiten. Ich glaube aber, dass Designbewegungen temporär sein sollten, wie Pop- und Rockbands. Ich habe das Viridian Design Movement neun Jahre lang betrieben und dann damit aufgehört.
ORF.at: Mit welchem Ergebnis?
Sterling: Das ist schwer zu sagen. Ich habe jedenfalls sehr viel über Design gelernt. Ich bin einer der wenigen Science-Fiction-Autoren, der auch Designkritiker ist und auf Designschulen unterrichtet. Ich bin in der Designwelt heimisch geworden und habe seither auch versucht, Designideen in die Science-Fiction einfließen zu lassen. Im Londoner Designmagazin "Icon" habe ich vor kurzem auch über das Konzept der "Design-Fiction" diskutiert. Ich glaube, dass es eine große gegenseitige Befruchtung zwischen diesen beiden Bereichen gibt.
ORF.at: Ist Ihr 2005 erschienenes Buch "Shaping Things" in dem sie über "Spimes" - "intelligente", vernetzte Objekte der Zukunft - schreiben, ein Beispiel dafür?
Sterling: Ich wurde gebeten, dieses Buch zu schreiben, als ich "Visionary in Residence" an einem Designcollege war. Das war Teil des Arrangements. Der Auftrag lautete, eine "visonäre" Designtheorie zu verfassen. Ich kenne einige Bücher, die sich mit Designtheorie befassen und sich selbst "visionär" nennen. Verglichen mit Science-Fiction-Standards sind sie aber eher harmlos. Ich habe also ein Buch geschrieben, das Methoden aus der Science-Fiction im Designkontext anwendet. Ich wollte damit einen Beitrag zum lebhaften Diskurs über das Internet der Dinge und industriellem Design leisten. Leute, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen, scheinen das Buch zu mögen. Es haben sich sogar Start-ups aus diesem Bereich nach dem Wort "Spime" benannt.
ORF.at: Wie weit sind "Spimes" von der Realität entfernt?
Sterling: Die Schwierigkeit mit meiner Theorie ist nicht, dass sie nicht korrekt wäre, sondern dass sie zu vage ist. Sie lässt sich nicht falsifizieren. Um wirklich nützlich zu sein, müsste eine Theorie mehr sein als bloß ein poetisches Absondern von Allgemeinplätzen. Aber die Leute wollen diese Terminologie offenbar verwenden. Nichtsdestotrotz: Damit die "Spime"-Theorie funktioniert, müssten sich mindestens fünf technologische Trends durchsetzen und ineinander übergehen. Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Möglicherweise passiert es in Teilen. Ich glaube aber nicht, dass die aufregendsten Dinge, die heute passieren, identifizierbare Objekte sind, sondern Systeme in der Größenordnung einer Stadt. Die Leute verwenden heute mobile Geräte, um sich durch urbane Strukturen zu navigieren, das bringt ihnen auch viel mehr Nutzen, als Objekte in ihrer unmittelbaren Umgebung mit Informationen zu versehen.
ORF.at: Wie finden Sie eigentlich Ihre Themen?
Sterling: Es gibt Themen, mit denen ich mich beschäftige, weil ich sie erfunden habe. Und es gibt Themen, die wichtig und interessant sind. Das ist nicht dasselbe. Üblicherweise sind die wirklich wichtigen Themen eher langweilig. Als kreativer Künstler erfinde ich Dinge und erzähle darüber. Als Journalist und Blogger vermittle ich Ideen anderer. Je älter ich werde, desto mehr verlege ich mich darauf, das Wissen anderer zu referieren. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal als Lehrer ende. Aber das ist eben der Lauf der Dinge.
(futurezone/Patrick Dax)