Tanz auf dem Twitter
Alles ist Realtime. Das ist ja der Wahnsinn, und das lieben wir auch so am Internet, dass es ausgerechnet das auch noch nachmachen muss.
Die Aussage, dass das Leben in Realtime abläuft, ist jetzt zum Beispiel ziemlich deppert. Natürlich. Eine andere als die reale Welt haben wir ja gar nicht, es sei denn, irgendein grünes Männchen würde uns zu einem Trip durch die Milchstraße in die Lichtgeschwindigkeit einladen. Dann wäre die Zeit gedehnt. Aber danke, eine einfache Fahrt durch Wien am Ring entlang dehnt die Zeit schon genug.
Nun hat aber der Inhalt im Internet auch beschlossen, Realtime zu werden. Alles passiert sofort und wird auch sofort getwittert und in Facebook verewigt. Das heißt, ein wenig braucht es schon noch, bis es seinen Weg in die Datenbanken findet. Getippt muss es ja immer noch werden. Aber wenn es erst einmal Reality-to-Text-Converter für Twitter gibt ... huch, gibt es ja irgendwie schon. Einfach wird es dann aber nicht, wenn sich diese Tools durchsetzen. Denn dann geht es allen wie mir heute Morgen auf einem dieser Events, bei denen Kaffee und Beamer das Frühstück ersetzen, ein Sprecher über Facebook redet und alle wie die Wahnsinnigen twittern. Und wie die Verrückten lesen, was die anderen gerade twittern, die auch neben einem sitzen. Und wie die Blöden das auch wieder retwittern, damit die anderen, die das geschrieben haben, auch lesen, dass man das bereits gelesen und weitergetwittert hat. Der Sprecher da vorne vereinsamt währenddessen.
Eine derartige Zeitdehnung kriegen kleine, grüne Männchen gar nicht hin, wie man das mit Tweets über Tweets über Tweets erreichen kann.
Ähnlich lange kommt einem die Zeit auch vor, bis man vielleicht endlich sein mühevoll aus den Staaten importiertes iPad ausgepackt hat, und dann connectet es nicht mit dem Internet, und wenn, dann lassen sich dank Zehnfingersystems noch mehr Tweets in Events schreiben und das Realtime-Internet bekommt noch einen Haufen mehr Content. Schon heute braucht vermutlich ein Mensch bis zu 80 Jahre Zeit, um die anfallenden Einträge seines ersten Schuljahres zu lesen. Das kommt davon, wenn man den Kindern immer noch Schreiben und Lesen ohne Löschen beibringt.
Aber halt. Immer mal halblang, so schlimm ist es dann doch wieder nicht, sagen die Facebook-Statistiken zum Beispiel in den USA. Laut denen gibt es gar keine Facebook-User unter 13 Jahren. Also: Die Erstklässler sind schon mal raus aus dem Realtime-Dilemma und könnnen noch beruhigt die Zwerge vor dem Einschlafen zählen.
Die sieben Jahre mit lustigen Einträgen und Anträgen für Freundschaften müssen sie halt dann kurz vor der Matura aufarbeiten: "Willkommen bei Facebook. Du hast 1.355 Freundschaftsanfragen, und folgende drei Millionen Tiere wollen auf den digitalen Farmen Deiner Freunde vorgestellt werden."
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(Harald Taglinger)