© ORF.at, Social Networks

"Awareness" oder die Freunde im Hintergrund

SOZIALES NETZ
22.05.2010

Mit zunehmender Verbreitung von Social Networks fragmentieren nicht mehr nur Handyanrufe und SMS unseren Alltag, sondern auch Statusmeldungen und im Chat lauernde Kollegen. Auch im Hinblick auf verfeinerte Möglichkeiten zur Analyse des Verhaltens von Mobilnutzern erfordert der sichere Umgang mit Social Networks das Herausbilden einer neuen Kommunikationskultur. Teil sechs der futurezone.ORF.at-Serie über das Soziale Netz.

Social-Web-Tools erlauben es, die Situation anderer Nutzer wahrzunehmen. Diese "Awareness" kann sich darauf beziehen, ob jemand ansprechbar ist, über welche Tools jemand erreichbar ist, wie lange jemand einen Dienst nutzt oder wo sich jemand befindet. Diese gegenseitige Wahrnehmung erleichtert nicht nur die Koordination untereinander, sondern auch die Zusammenarbeit.

Der Gebrauch bestimmter Medien für Kommunikation und Koordination erfolgt zunehmend ohne eine bewusste Unterscheidung von Online und Offline, Ort und Zeit verlieren an unmittelbarer Bedeutung für Kommunikations- und Koordinierungsprozesse.

Zur Person:

Christiane Schulzki-Haddouti ist freie IT- und Medien-Journalistin. Sie war von 2007 bis 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hochschule Darmstadt, um die Innovations- und Technikanalyse "Kooperative Technologien in Arbeit, Ausbildung und Zivilgesellschaft (kooptech)" zu erstellen.

Die futurezone.ORF.at-Serie "Soziales Web" wird unter dieser Adresse gesammelt.

Kommunikation als Störung

Direkte Gespräche unter Menschen werden etwa vornehmlich im öffentlichen Raum von Städten durch kommunikationstechnologische Hilfsmittel unterbrochen: Treffen, in denen das Gespräch vom Schnarren einer SMS oder dem Klingeln des Handys gestört werden, oder Veranstaltungen, in denen sich Teilnehmer parallel über Informationsströme aus dem Netz informieren bzw. mit virtuellen Teilnehmern kommunizieren. Das erfordert von Fall zu Fall ein Aushandeln der sozialen Konstellationen.

"Präsenz"- und "Awareness"-Funktionen bzw. die Wahrnehmung des Kommunikationsstatus und -orts anderer Personen ermöglicht und unterstützt dieses Verhalten ganz wesentlich. Kommunikationspartner können feststellen, über welches Medium jemand am günstigsten zu erreichen ist, ob jemand gerade beschäftigt ist, an welchem Ort sich jemand befindet und ob es gemeinsame Interessen bzw. Kontakte gibt.

Wissensmanagement in Firmen

Für die organisations- oder unternehmensinterne Kommunikation können solche "Awareness"-Funktionen hilfreich sein: Wissensträger müssen identifizier-, auffindbar und kontaktierbar sein. Hierbei müssen sich die Mitarbeiter selbst beschreiben können, Profile müssen aber auch von anderen Mitarbeitern, von anderen nicht einsehbar und annotierbar sein. Das unterstützen Anwendungen wie Soziale-Netzwerk-Dienste. Sie erleichtern das Suchen und Finden wissender Mitarbeiter etwa über Tagging. Auf diese Weise wird auch der Austausch zwischen Mitarbeitern mit nur schwachen Netzwerkbindungen ("weak ties") ermöglicht.

Außerdem erlauben sie, den Kommunikationskontext und die "Awareness" des Anderen wahrzunehmen: Wie und über wen ist jemand ansprechbar? Ist derjenige auch online? Während Kollegen in der Kaffeeecke physisch anwesend sein müssen, per Telefon auch mal nicht erreicht werden können und E-Mails nur asynchron beantworten, ermöglichen Instant-Messaging-Werkzeuge, auf einen Blick zu erkennen, wer gerade erreichbar ist. Wichtig hierbei ist, dass jeder selbst kontrollieren kann, welche Informationen er preisgeben will. Diese "volle Kontrolle" ist, so sagt der IBM-Wissensexperte Peter Schütt, "ein sehr bedeutender Faktor, insbesondere bezogen auf die Motivation, sich für das Unternehmen zu engagieren".

Permanente Anwesenheit

Der Vorteil besteht darin, dass teure Telefonate eingespart und die E-Mail-Flut begrenzt werden kann. Außerdem ermöglichen neuere Instant-Messaging-Werkzeuge wie etwa bei IBM rasche Community-Umfragen. "Awareness" kann sich aber auch bei der Zusammenarbeit in Wikis ergeben: Jede Textänderung wird protokolliert und kann per RSS-Feed beobachtet werden. Auf diese Weise kann jeder Mitschreiber feststellen, mit welchen Themen oder Problemen sich der Kollege gerade befasst. Er kann auf Fehler reagieren oder auch sich um andere Themen kümmern, die noch nicht bearbeitet werden.

Ein weiterer Aspekt der "Awareness" ist die "Liveness", eine mediale Eigenschaft des Fernsehens. Sie ist zunehmend auch über Netzmedien zu erleben. Der britische Medienforscher Nick Couldry sieht hier "ein dynamisches Wechselspiel zwischen verschiedenen Arten der Liveness und den unterschiedlich organisierten Netzwerken, für die diese Arten stehen" entstehen: zum einen die "soziale Kopräsenz" in sehr kleinen Gruppen in Chatrooms bis hin zu internationalen Publika für aktuelle Nachrichten auf zentralen Websites, zum anderen die "Gruppen-Liveness" etwa einer Gruppe von Freunden, die über Handys ständig miteinander in Kontakt stehen.

Neue kulturelle Räume

Eine Folge dessen ist, dass sich Kommunikation zunehmend von räumlichen Beschränkungen löst. "Enträumlichte Kommunikationsräume" können das Entstehen "diasporischer Kommunikationsformen" begünstigen, meint der französische Mediensoziologe Daniel Dayan. Die kulturellen Räume von Migrationsgemeinschaften etwa decken sich nicht mit den territorialen Grenzen von Staaten. Aber auch in weniger mobilen Bevölkerungsgruppen werden lokale Welten mit Hilfe von Medien und IT- und Kommunikationstechnologien beeinflusst.

Der Begriff der Translokalität gewinnt bei der Beschreibung des Kommunikationswandels an Bedeutung. Kooperative Technologien unterstützen aber nicht nur die translokale Kommunikation und Koordination, sondern auch Kollaboration. Zeit- und ortsunabhängig können Gruppen gemeinsam ein Ziel verfolgen, sie können miteinander arbeiten.

Ein weiterer Aspekt "enträumlichter Kommunikationsräume" ist die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte, wenn die Kommunikationspartner physisch mobil sind. Damit überwinden sie nicht nur Beschränkungen der Lokalität, sondern, so der britische Medienforscher John Tomlinson, eröffnen sich auch Möglichkeiten, kulturelle Horizonte zu erweitern.

Soziales Kapital

Die in Netzwerk-Sozialitäten begründeten sozialen Beziehungen werden außerdem auch als "soziales Kapital" wahrgenommen, das es zu verwalten gilt. Der deutsche Soziologe Andreas Wittel zeigte am Beispiel von Visitenkarten und Kontaktdatenbanken, wie Menschen versuchen, ihre Beziehungen zu ordnen und zu kategorisieren. Soziale Netzwerke wie Xing und Facebook lassen über virtuelle Visitenkarten ein vielfältigeres und umfangreicheres Identitäts-, Reputations- und Beziehungsmanagement zu.

Ein wichtiger "Awareness"-Trend besteht in der Auswertung ortsbezogener Daten. So erfassen Telekommunikationsverbindungsdaten längst nicht nur das Kommunikationsverhalten, sie zeigen auch, wo sich jemand aufhält und wie sich jemand bewegt. Sie ermöglichen somit eine Kommunikation über raumbezogene Daten. Mit den Daten lassen sich mit Hilfe von digitalen Geoinformationssystemen Standortbewusstsein (Location Awareness) erzeugen, Bewegungskarten aufzeichnen und entsprechende Dienste (Location Based Services) generieren. Eine großflächige Orientierung über georeferenzierte Nutzerdaten bieten Dienste, die Netzwerke auf eine räumliche Ebene projizieren und die so entstehenden Daten etwa nach Bewertungs- und Empfehlungskriterien auswerten. Sie basieren in der Regel auf der freiwilligen Preisgabe der Daten durch ihre Nutzer.

Ausbau in mobilen Diensten

Insbesondere Handydienste bieten verschiedene Nutzungsvarianten: Das interaktive Adressbuch speichert Kontaktdaten einschließlich Telefonnummern und E-Mail-Adressen sowie die Präsenz- und Standortdaten für wichtige Kontakte. Ein personalisierter Standortdienst ermittelt auf Basis des digitalen Adressbuchs, welche Kontaktpersonen in der Nähe sind. Auch Web-basierte Dienste können anzeigen, wo sich jemand befindet. Hierfür muss auf irgendeine Weise mit einer anderen Person ein Kontakt hergestellt werden. Sei es über SMS oder über Bluetooth.

Mit Bluetooth lassen sich beispielsweise andere Nutzer mit ähnlichen Interessen orten und kontaktieren, die sich in unmittelbarer Nähe befinden. Das beinhaltet die Einsicht von Persönlichkeitsprofilen. Ein Stadtbummel kann rückblickend über einen Web-basierten Dienst nachvollzogen und es können Nachrichten darüber an interessierte Nutzer verschickt werden. Interessant könnte das etwa für Messebesucher sein, die so Verabredungen mit potenziell relevanten Gesprächs- und Geschäftspartnern vorbereiten könnten. Aber auch die Werbeindustrie kann so mobile Werbeanzeigen orts- und zielgruppengenau schalten.

Im Reich der "klebrigen Schatten"

Doch nicht nur der Aufbau persönlicher Netzwerke ist über den Austausch derartiger Daten möglich, sondern auch die Bewertung von Lokalitäten wie Restaurants und Dienstleistern. Prototypisch hierfür ist der Dienst Qype.com. Die Peer-to-Peer-Plattform Socialight.net hingegen stattet Handynutzer mit "klebrigen Schatten" (Sticky Shadows) aus, die sie an ihrem gegenwärtigen Ort platzieren können. Personen ihres Sozialen Netzwerks können sie sehen, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt in dieselbe Gegend kommen. Mögliche Botschaften reichen vom banalen "Ich war auch schon hier!" über "Dieses Restaurant bietet eine gute Küche!" bis hin zu "Achtung, verwanzte Betten in diesem Hotel".

Nach demselben Prinzip funktioniert auch der etwas später gestartete, aber ungleich erfolgreichere Smartphone-Dienst Foursquare. Sehr ambitioniert zeigt sich der bereits 2008 gestartete Dienst Citysense.com. Er aggregiert Millionen von Nutzerdaten, um eine lebendige Aktivitätskarte einer Stadt zu generieren. Bisher gibt es den Dienst jedoch nur für San Francisco.

Sekundäre Datenauswertung

Die Kehrseite besteht darin, dass sich diese Daten bestens für Überwachungsmaßnahmen eignen. Inzwischen gilt die Auswertung von Verkehrsdaten nicht nur als äußerst treffsicher, sondern auch als wesentlich wirtschaftlicher als herkömmliche Erhebungsverfahren wie etwa Zeugenvernehmungen. So verglich eine Studie von Wissenschaftlern am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Harvard University für eine Gruppe von 94 Personen über eine Auswertung von Handyverbindungsdaten sowie Interviewdaten, wie gut Freundschaften und Soziale Netzwerke aus den Verkehrsdaten erschlossen werden können.

Sie stellte fest, dass sich 95 Prozent der Freundschaftsbeziehungen über die Daten identifizieren ließen. Auch konnten sie feststellen, wie zufrieden einzelne Personen mit ihrer Arbeit waren. Die von den Wissenschaftlern erhobenen Daten entsprachen einem Aufwand von rund 330.000 Stunden, also fast 38 Jahren klassischer Feldbeobachtung.

Analyse von Bewegungsmustern

Dieselben Wissenschaftler rund um den Informatiker Alex Pentland erfassen inzwischen aber für ihre Firma Sensenetworks nicht nur die Mobilfunk-Logdaten, sondern auch Bluetooth-Kennungen, GPS-Koordination von Taxis und die Routenplanung von GPS-Geräten. Die Anwendung MacroSense verwendet Mobilfunkdaten in Echtzeit, um zielgruppenspezifisches Verbraucherverhalten zu analysieren. Angefüttert werden die Daten mit Kontextdaten. Dazu gehören demographische Zahlen, Wetterdaten, Verkaufszahlen und sehenswerte Örtlichkeiten.

Ein Derivat von MacroSense ist der für San Francisco entwickelte Smartphone-Dienst Citysense. Er analysiert Bewegungsmuster von Millionen von Menschen und zeigt so aktuelle Aktivitätszentren bzw. Orte mit unerwartet hoher Aktivität. Mit dem Dienst CabSense können New Yorker in Echtzeit erkennen, an welcher Straßenecke sie am ehesten ein Taxi erwischen können. Die nächste Herausforderung besteht darin, die Daten, die Alex Pentland als soziale Signale wertet, so zu verdichten, dass das Verhalten ganzer Städte, Unternehmen oder gar Gesellschaften vorhersagbar wird. Handysignale gibt es inzwischen mehr als genug.

(Christiane Schulzki-Haddouti)